Philipp Müller
Philipp Müller, gelernter Buchhändler, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und Hamburg. Er arbeitete unter anderem für die Forschungsstelle Naturbilder der Universität Hamburg als Hilfskraft von Herrn Prof. Dr. Frank Fehrenbach. Anfang 2017 schloss er das Masterstudium mit einer Arbeit über Selbstinszenierungsstrategien des sogenannten IS ab. Momentan bereitet er eine Dissertation zum Thema Wirklichkeitstransformation und -produktion bei aktuellen Gewaltbildern in der Presse vor.
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Kunsthistoriker
[IMAGE MATTERS]
Vortragender, Autor
ABSTRACT
Aus dem Buch
Images in Conflict – Akteure und Perspektiven
Realitätenkollaps? Zum Status von Bild und Betrachter bei Gewaltvideos.
Gewaltbilder von Aufmerksamkeitsverbrechen tilgen und erfordern Abstand. Vor allem in potenziell echtzeitschnell global vernetzten digitalen Öffentlichkeiten, in denen jede Person, die postet und kommentiert, Sender und Empfänger zugleich ist, gewinnen Fragen nach den medialen und ästhetischen Entstehungsbedingungen von Distanzauflösung und Wirklichkeitstransformation eine Dringlichkeit, die Alltag und Wissenschaft eng verknüpft. Sobald Fotos und Videos im Hybridraum sozialer Netzwerke und massenmedialer Berichterstattung eingesetzt werden, erscheinen sie oft als sachgerecht und erhalten kurzschlüssig einen hohen Wahrheitswert. Doch auch abbildhafte Gewaltbilder von indexikalischer Qualität können nie „die Sache selbst“ sein. Sie hinterlassen Wissenslücken und generieren eine Informationssehnsucht, die den „Appetit des Auges“ sowie den „Hunger nach ‚Deutung‘“ anregt. Zudem drohen Betrachterrealität und Ereignisrealität kurzzeitig ineinander zu kollabieren. Folglich werden die Bilder befragt, mit welchen Mitteln welche Wirklichkeiten in ihnen, durch sie und mit ihnen erzeugt werden. Eine Offenlegung des Wirkungspotenzials öffentlich eingesetzter Gewaltbilder verlangt es, die künstlichen Entstehungsbedingungen der Bildwirkung aufzufächern, um diese zu distanzbringenden Rezeptionsanlagen zu transformieren. Die Reflexion der Bildwirkung bleibt unumgänglich für die Diskussion sowohl der medialen Praxis als auch des Publikumsinteresses an Gewaltbildern.
ABSTRACT
Aus dem Buch/Vortrag
Images in Conflict – Akteure und Perspektiven
Realitätenkollaps? Zum Verhältnis und Status von Bild und Betrachter bei Terrorinszenierungen des sog. IS.
Wir stehen alle vor einem gemeinsamen Problem, das zu einem großen Teil bildbasiert ist: Geht es um Terrorinszenierungen des sog. Islamischen Staats, ist sich die Medienwelt uneins, ob derartige Gewaltakte im Einzelfall medial verbreitet oder nicht doch negiert werden sollten. Insbesondere wenn die Mediatisierung eines Terroraktes intentional zum Terrorakt selbst gehört, rücken mediale Realität und Lebenswirklichkeit in ein komplexes Bedingungs- und partielles Kongruenzverhältnis. Zudem stellen sich dadurch Fragen der Komplizenschaft von Medienorganen. Ebenso wird eine Kritik an bildproduktiven Zivilisten notwendig, die am Tatort mit ihrem Smartphone die Tat selbst oder deren Folgen privat aufzeichnen und global verbreiten. Potentiell alle Menschen fotografieren, filmen, teilen und betrachten überall tatsächliche und mediale Gewaltakte des IS, sodass eine indifferente Masse von Tätern, Opfern und scheinbar Unbeteiligten entsteht. Die Dimensionen mediale Realität und Lebenswirklichkeit sind folglich ebenso wenig klar getrennt wie die Parteien Täter, Mittäter, Opfer, Beschützer, Aggressor und Nicht-Kombattant ohne Weiteres geklärt. IS-Bilder und vor allem deren Einsatz in öffentlich wirksamen Medien verflüssigen klare Grenzen.
Ein altbekanntes Paradoxon muss nun immer wieder diskutiert werden: abstoßende Szenen sind Agenten der Attraktion. Damit ist ein Phänomen skizziert, das feststell-, doch nicht leicht erklärbar zu sein scheint. Eine kollektiv-psychologisierende Methode, die der globalen Bevölkerung eine intersubjektive Wahrnehmung unterstellen würde, ist aus wissenschaftlicher Sicht denkbar unangemessen; nicht jede Person ist gleichermaßen schockiert, gelähmt, angezogen oder abgestoßen von den Terrorbildern des IS. Mit der Vorstellung einer Kollektivpsyche würde auch der Blick für das Wirkungs- und Bedeutungspotenzial der Bilder selbst verloren gehen. Denn es sind gerade die visuellen Produkte, die zwischen Repulsion und Attraktion unsere Wirklichkeit nicht nur medial transformieren, sondern unsere Wahrnehmung mittels Affizierung organisieren und dadurch auf perfide Weise eine alternative Wirklichkeit generieren, die den Unterschied zwischen Bild und Körper, medialer und lebenswirklicher Welt tendenziell auflösen können. Während diese neu generierte Wirklichkeit – insbesondere bei indexikalischen Medien wie Foto und Video – leicht naiv rezipierbar ist, erscheint der Rest an kritischer Differenzmarkierung zwischen Alltag und Terrorbild oft schwer wahrnehmbar. Gerade diesen Rest gilt es über das Herausstellen künstlicher Bildmittel und -elemente, die jene Kraft der IS-Bilder erzeugen, die zugleich Angst schürt und Rekruten lockt, an zwei Beispielen durchzuexerzieren: ein Verbrennungsvideo der Medienabteilung des IS selbst und ein Erschießungsvideo des IS, gefilmt von einem scheinbar Unbeteiligten. Beide Beispiele demonstrieren, dass ihre mediale Inszeniertheit formal sichtbar ist, diese sich aber wirkungsästhetisch kurzzeitig wieder aufheben kann.
Mittels bildwissenschaftlicher Erklärungsansätze können nun erste Distanzierungsoptionen sichtbar gemacht und auf die Dringlichkeit einer bildpädagogischen Berichterstattungsstrategie hingewiesen werden. Wer Bilder einer Organisation abdruckt, die durch medialen Beschuss die öffentliche Meinung beherrschen möchte, um für Desorientierung zu sorgen und damit die Gesellschaft in gut und böse zu teilen, sollte darüber berichten, weshalb welche Bilder öffentlich gezeigt werden, welches Potenzial sie besitzen und welche Zugänge Leser und Betrachter selbst legen können, um ihren Alltag von den Terrorinszenierungen möglichst wenig infizieren zu lassen.