Organspende –
Die Unsichtbaren auf der Warteliste

Deutschland ist Europas Schlusslicht bei Organspenden – Menschen sterben jeden Tag, während Politik und Gesellschaft zögern. Anton Vester zeigt in seiner Fotostrecke, wer keine Zeit mehr hat. Text: Finn Winkler

4. Juni 2024, Birkenfeld im Enzkreis. Der Schatten eines Adlers (Vogelschutz Aufkleber am Fenster) fällt auf Silvia Acars Vorhang. Die Mutter von zwei Söhnen sehnt sich nach Freiheit und Leichtigkeit. So gerne würde sie für ihre Kinder da sein. Im Alltag ist sie jedoch auf ihre Untertstützung angewiesen.

Deutschland steckt mitten in einer Krise der Organspende: Im Jahr 2023 kamen hierzulande auf eine Million Einwohner lediglich elf postmortale Organspender – Menschen, bei denen nach Hirn- oder Herztod Organe entnommen wurden. Damit liegt Deutschland europaweit auf einem der letzten Plätze. Zum Vergleich: Spitzenreiter Spanien erreichte im gleichen Zeitraum mit über 46 Organspendern pro einer Million Einwohner mehr als das Vierfache.

Die Deutsche Transplantationsgesellschaft verweist auf den deutlichen Unterschied zwischen beiden Ländern: Während Patient*innen in Spanien häufig nur wenige Tage auf lebensrettende Organe warten müssten, ist die Situation in Deutschland weitaus dramatischer. Hier stehen aktuell rund 8.500 Menschen auf Wartelisten für eine Organspende. Wie der Deutschlandfunk berichtet, sterben täglich zwei bis drei Menschen, weil nicht genügend Spenderorgane vorhanden sind.

Genau diesem Warten hat sich der Fotograf Anton Vester in seinem preisgekrönten Projekt «Ohnmächtige Stille» gewidmet. Anstatt spektakuläre Operationen oder einzelne Schicksale zu dokumentieren, rückt er bewusst das beklemmende Gefühl des Wartens ins Zentrum seiner Arbeit. «Die Menschen auf der Warteliste fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen», fasst Vester seine Gespräche mit Betroffenen zusammen. Hinzu kommen katastrophale Zustände in deutschen Krankenhäusern, die unter chronischer Unterbesetzung leiden. «Außerdem bleibt die Organspende in Deutschland ein Tabuthema», ergänzt der Fotograf.

26. April 2023, Parkplatz Dialysezentrum Geislingen, 1 Uhr nachts. Yvonne Zacher, 27 Jahre, Betroffene einer unklaren Kollagenose, einer Autoimmunerkrankung, die ihre Niere angreift. Zacher arbeitet als Krankenpflegerin und muss drei Mal wöchentlich dialysieren, über fünf Stunden lang.
13. April 2024, Peine. Jacob und seine Mutter Sonja Baumgarte in ihrer Wohnung. Aufgrund einer pulmonalen arteriellen Hypertonie steht der 8-jährige Junge kurz vor der Aufnahme auf die Warteliste für eine neue Lunge. Einmal im Jahr fahren sie in den Urlaub in ein Kinderhospiz.
13. April 2024, Peine. Jakob zeigt seine Perlenkette, die er bei seiner Geburt im Krankenhaus bekommen hat. Jede Perle steht symbolisch für einen Tag im Krankenhaus
13. April 2024, Peine. Jacob und sein kleiner Bruder erkunden den Park und verlieren sich beim Spielen. Jakob geht voraus. Sie sind ein Team, in dem der große Bruder die Richtung vorgibt.

Die dramatische Lage ist keineswegs neu. Bereits im Januar 2020 stellte der Wissenschaftsjournalist Dr. Jakob Simmank auf Zeit Online die entscheidende Frage: «Wenn jedes Jahr 900 Menschen sterben, weil sie kein Spenderorgan bekommen – ist das nicht ein zu hoher Preis für das Recht, sich nicht entscheiden zu müssen?» Zu diesem Zeitpunkt war gerade ein Gesetz zur Einführung der Widerspruchslösung gescheitert. Diese Regelung hätte bedeutet, dass jede Person nach ihrem Tod grundsätzlich als Organspenderin gilt – es sei denn, sie widerspricht ausdrücklich per Organspende-Ausweis oder anderweitiger Erklärung. Befürworterinnen hatten gehofft, auf diese Weise endlich die Nachfrage nach Organen decken zu können. Kritiker*innen sahen darin hingegen einen Eingriff in die Selbstbestimmung der Menschen.

Wenige Wochen später brach weltweit die Covid-19-Pandemie aus. «Während der Pandemie geriet das Thema Organspende ins Hintertreffen», berichtet Anton Vester. Intensivstationen waren überlastet, und Mitarbeiter*innen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) durften wegen der strengen Hygienemaßnahmen oft nicht in die Kliniken. Die Folgen waren gravierend: Im ersten Quartal 2022 gingen die Organspenden in Deutschland um rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück.

Inzwischen haben sich die Zahlen zwar wieder stabilisiert, allerdings ist von einer signifikanten Verbesserung keine Rede. Daher wurde im Sommer 2024 erneut ein Vorstoß zur Einführung der Widerspruchslösung im Bundestag gestartet. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) erklärte dazu, die bisherigen Maßnahmen seien nicht ausreichend gewesen, um die Organspendezahlen nachhaltig zu erhöhen.

Ob die Widerspruchslösung allein genügt, um die Situation entscheidend zu verbessern, bleibt jedoch offen. Vermutlich bedarf es eines ganzen Bündels an Maßnahmen. Doch vielleicht kann gerade eine breite Diskussion über diese Regelung helfen, die Organspende stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Anton Vester zieht am Ende seines Projektes ein klares Fazit: «Jeder sollte sich fragen, wie er zur Organspende steht. Zweifel und Unsicherheiten sind völlig nachvollziehbar, aber eine persönliche Auseinadersetzung mit diesem Thema ist unverzichtbar.»

2. April 2024, Benningen. Alexander Brucker liegt jetzt regelmäßig auf seiner Couch und telefoniert per Video mit seinen beiden Töchtern. Das frisch gestochenen Tattoo auf seinem linken Arm markiert ihn als Organspender.
4. Juni 2024. Benningen. Alexander Brucker wohnt im 3. Stock. Sein Herz, das wegen einer Insuffizienz nicht mehr richtig arbeitet, stößt regelmäßig an seine Grenzen. Schon mehrfach ist er im Treppenhaus zusammengebrochen. Obere Narbe: Defibrillator-Operation, untere Narbe: Sonden-Operation.
20. Juni 2023, Birkenfeld im Enzkreis. Silvia Acar kümmert sich um die abendliche Protokollführung ihrer Medikation, kämpft mit chronischer Müdigkeit und steht kurz davor aufgrund ihrer Nierenschwäche gelistet zu werden.
26. Mai 2024, Paulinenkrankenhaus Berlin. Von Geburt an lebt Jennifer Krienke mit einem Herzfehler. „Im Laufe meines Lebens widersetze ich mich öfter ärztlichen Ratschlägen in dem ich deutlich aktiver war als sie mir empfahlen. Laut vieler Ärzten habe ich meine Lebenserwartung schon überschritten.“
11. Mai 2024, Paulinenkrankenhaus Berlin. Alisa Gilmutdinova blickt seit über einem Jahr jeden Abend auf die Wand in ihrem Patientenzimmer. Damit ist sie die älteste Wartelistenpatientin auf Station 2. Den Teddy hat sie von einer Freundin und ehemaligen Zimmernachbarin geschenkt bekommen.
11. April 2024, Paulinenkrankenhaus Berlin. Alisa Gilmutdinova wartet auf ein neues Herz und eine neue Lunge. Die Notwendigkeit von zwei passenden Organen stellt eine medizinische Herausforderung dar. Und sie führt dazu, dass Gilmutdinova besonders lange warten muss.
11. April 2024, Paulinenkrankenhaus Berlin. Ihre Fingernägel zeigen bereits Anzeichen von Trommelschlägelfingern, verursacht durch Sauerstoffmangel im Zusammenhang mit ihrer Lungenerkrankung. Der Engel trägt sie durch die schwere Zeit.
25. Mai 2024, Paulinenkrankenhaus Berlin. Astrid Gruschke ist 24 Stunden am Tag auf künstlichen Sauerstoff angewiesen. Bedarf steigend, denn ihre Lunge baut ab. Die Innenarchitektin, die seit 3 Monaten stationär aufgenommen ist, darf das Krankenhausareal nicht mehr verlassen.
26. April 2024, Osnabrück. Im Eingangsbereich von Svenja Wilms Wohnung steht ihr Koffer, er ist vorgepackt für den nächsten Anruf. Den Anruf für ein Organangebot.
26. April 2024, Osnabrück. Svenja Wilms enge Beziehung zu ihrer Halbschwester Araya ist geprägt durch das Bewusstsein der Endlichkeit. Svenja, die in Folge einer Autoimmunkerkrankung eine Leberzirrhose diagnostiziert bekam, ist auf eine neue Leber angewiesen. Für die Leber gibt es keine Ersatztherapie.
24. Juni 2023, Zuhause bei Familie Dahlmann, Berlin. Nach dem Abendessen dürfen Levi, 8 Jahre und sein kleiner Bruder die Fernsehsendung „Sandmann“ schauen. Levi sitzt auf dem Schoß seines Vaters. Am rechten Augenrand hat er vom Spielen einen blauen Fleck davongetragen, die bei ihm durch die Einnahme von Blutverdünnern besonders schnell entstehen. Kurz nach seiner Geburt wurde bei ihm ein Herzfehler festgestellt.
6. April 2023, Goddelsheim. Norbert Hühner macht Pause während eines einstündigen Rücken-Intervalltrainings. Weil er schon lange an einer Lungenfibrose leidet, ist er auf zusätzlichen Sauerstsoff angewiesen.
Text von Lutz Riewe
Text Alexander Brucker
Text Silvia Acar
Text Jennifer Krienke
Text Astrid Gruschke
Text Alisa Gilmutdinova
Text Svenja Wilms
Text Jenny Dahlmann (Mutter Levi)
1. Juli 2024. Der Ehemann Mario Krienke schrieb über das Handy seiner Frau: „Jenny ist leider am 23.6.24 verstorben und bekam Gehirnblutungen.“ Wie sich später herausstellte, befand sie sich bereits in der Transplantations-OP, die vermutlich zu spät kam. Traueranzeige aus der Märkischen Oderzeitung.

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