Konflikt und Visualität
Schiffe auf hoher See, Menschen auf überfüllten Booten, sich scheinbar endlos ausdehnende Lager aus Zelten, Absperrungen, Zäune, Männer, Frauen, Kinder, die vorsichtig auf Gangways geleitet werden, Menschen auf Lastwagen in der Wüste, Erschöpfte, Wartende, spielende Kinder und Verletzte, Hubschrauber, Uniformierte, Beobachtungsposten. Die Szenarien sind genauso bekannt wie die Orte: das Mittelmeer, das Hellinikon-Stadion außerhalb Athens, Idomeni, der Dschungel von Calais, Berlin-Tempelhof und viele mehr. Die Präsenz von Fluchtbewegungen in den Massenmedien,1 die Perspektiven auf die Flucht, ihre Ursachen und Folgen abbildet oder ausblendet, verweist auf die Bedeutung von Visualität für die Berichterstattung und das Affektionsvermögen von Fotografie. Wir alle haben die dazugehörigen Bildmuster im Kopf und finden sie in Richard Mosses seit 2017 vielfach und kontrovers diskutiertem Projekt Incoming wieder, das er als Videoinstallation gemeinsam mit dem Kameramann Trevor Tweeten und dem Komponisten Ben Frost produziert hat.2 Mosse und Tweeten waren in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika unterwegs, um die Bilder für Incoming zu finden. Doch bei aller Vertrautheit der Fluchtproblematik, einem der Kernthemen aktueller medialer Konfliktberichterstattung, die sich durch eine manchmal allzu bekannte und stereotyp wiederholte Ikonografie auszeichnet, bleibt in Incoming etwas fremd. Ursache hierfür ist vor allem die spezifische Kameraästhetik, derer sich Mosse und sein Team für ihre Adaption des Themas bedienen. Für Incoming verwenden sie eine waffentaugliche Wärmebildkamera, die Wärmestrahlung und damit auch menschliche Körper auf über 30 km Entfernung aufspüren und sichtbar machen kann. Die Kamera wurde ursprünglich für Überwachungszwecke entwickelt und in Kriegs- und Konfliktgebieten, zur Grenzüberwachung, aber auch für Rettungs- und Suchaktionen eingesetzt. Als eine Technologie der Kontrolle ist sie ein Instrument des „militärisch-humanitären Komplexes […], mit dem die EU auf die fortwährende Krise der Massenmigration reagiert“3. Entgegen ihrer zweckrationalen Gebrauchsweise vermittelt diese Kamera Bildwelten, die unerwartet ästhetisiert wirken. Über unterschiedliche Helligkeitswerte in fein abgestufter schwarz-weißer Tonalität werden die aufgenommenen Objekte in Incoming entsprechend ihrer Wärmestrahlung wiedergegeben, wobei die Graustufen vom Wärmegrad des Fotografierten abhängen. Interessanterweise nutzt Mosse die Möglichkeit der Kamera, die Farbgebung für warme und kalte Bereiche zu variieren. Daher erscheinen in manchen Sequenzen die wärmeren Zonen dunkel und die kälteren hell, in anderen wird die Ästhetik umgekehrt, wodurch wärmere Bereiche hell erscheinen. Es gibt Bilder, wie z. B. die Feuerszenen, in denen Mosse diese Möglichkeit zu nutzen scheint, die Bildästhetik den Sehgewohnheiten der Betrachtenden anzupassen. Auf die gesamte Arbeit bezogen haben die Wechsel aber eher eine verstörende Wirkung, die unsere Wahrnehmungsroutinen nachhaltig auf die Probe stellt, wenn beispielsweise Wasser über den Hell-dunkel-Wechsel plötzlich an Blut erinnert. Gerade bezogen auf die Hautfarbe der gezeigten Menschen, die wir nahezu automatisch als Hinweis auf die Herkunft zu lesen suchen, gerät jede verlässliche Aussage ins Wanken, da alle Gesichter unabhängig von ihrer tatsächlichen Hautfarbe einheitlich dunkel oder hell dargestellt werden, je nach aktuellem Kameramodus.4
Die Technik der Kamera erzeugt einen Verfremdungseffekt, der die Bildwelten über den abstrahierenden Effekt der monochromen Tonalität von der Idee einer fotografischen Mimesis entfernt und stattdessen die Mittel ihrer Sichtbarmachung ausstellt. Auch wenn Mosses Ästhetik gerade die Gemachtheit der Bilder betont, lassen sich seine Bilder dennoch als indexikalische Zeichen lesen. Denn das, was die Kamera aufzeichnet, ist Wärmestrahlung, die, für das menschliche Auge und klassische Kameras oder Filme außerhalb des optischen Wahrnehmungsspektrums, als fotografische Spur sichtbar gemacht wird.5 Die Idee einer Sichtbarmachung des Unsichtbaren, die sich gleichzeitig der Grenzen dieses Unterfangens bewusst ist, weil sich bei jeder Sichtbarmachung immer etwas der Sichtbarkeit entzieht, treibt Richard Mosses Arbeiten an. Ein mit Incoming vergleichbares Konzept verfolgte er bereits mit seiner im Kongo entstandenen Arbeit Infra, als er für seinen Blick auf die kriegerischen Konflikte vor Ort Kodaks während des Kalten Kriegs in Zusammenarbeit mit dem US-Militär entwickelten Film Aerochrome nutzte. Der Infrarot-Farbfilm nimmt ein für das Auge nicht sichtbares Spektrum von Infrarotlicht auf und gibt grüne Landschaften in intensiven Lavendel-, Purpur- und Pinktönen wieder. Ausgangspunkt sind für Mosse dabei eine Auseinandersetzung mit der fotojournalistischen Konfliktberichterstattung 6 und die Frage, wie von Konflikten zu erzählen, wie den Bildern Wirksamkeit zu verleihen sei.7 Mosse begreift die Begrenztheit seiner eigenen Darstellungsmittel und entfernt sich von einer Idee, die Fotografie als reines Aufzeichnungsmedium versteht. Wenn er sagt, „[m]y photography there was a personal struggle with the disparity between my own limited powers of representation and the unspeakable world that confronted me“ 8 , scheint er Fred Ritchins Forderung nach einem neuen visuellen Vokabular zu bestätigen:
In der Konsequenz macht Mosse die Frage der Repräsentation, die Grenzen der Sicht- und Darstellbarkeit selber zum Thema seiner Arbeiten. Sowohl in Infra als auch in Incoming zeigt er Bilder, die die Bedingtheit ihrer Sichtbarkeit und dieEingrenzung des Feldes der Sichtbarkeit ausstellen. Mosses Arbeiten verhandeln den buchstäblichen Konflikt, sei es den Krieg im Kongo oder die Flüchtlingsthematik, damit nicht nur auf der Ebene der Motivik, indem sie Bilder aus dem Kriegsgebiet, Akteur*innen und Opfer zeigen, das Leid der Flüchtenden zu spiegeln, Fluchtwege nachzuzeichnen oder auf Fluchtbedingungen zu verweisen suchen, sondern auch, indem sie den Konflikt auf der Seite des Mediums verorten.
Damit greift Richard Mosse eines der Kernthemen dieser Publikation auf, die Frage nach dem Verhältnis von Konfliktbildern und Bildkonflikten, die als zentraler Fokus der vorgestellten Beiträge fungiert.
Über das aktuelle Beispiel wird einführend nicht nur deutlich, dass es eine verstärkte Suche nach neuen Erzählformen gibt, die sich quer zu oder an den Grenzen klassischer fotojournalistischer Berichterstattungsmuster bewegen, sondern auch, dass Bilder von Konflikten immer auch Bildkonflikte bedeuten. Bildkonflikte entstehen nicht nur als ‚conflict in the making‘ für die Fotografierenden vor Ort oder weil Bilder mittlerweile Teil eines Kriegs sind, der sich auf die Gesetze der Repräsentation ausdehnt und sich dieser als Mittel bedient, sondern als Konflikte auf der Ebene der Repräsentation. Das Verhältnis von Konflikt und Visualität durchstreift eine Vielzahl von Diskursen – ästhetischer, ethischer und politischer Art. Dabei geht es unter anderem um die Möglichkeiten und Grenzen des Darstellbaren, aber auch um das grundsätzliche Verhältnis von „Darstellbarkeit und Präsenz des Dargestellten“ 10.
Images in Conflict folgt den Verbindungslinien und Berührungspunkten von Bildlichkeit und Konflikt. Wie erlangen Bilder hier Bedeutung, wie werden sie wirksam, wie können Bilder von Konflikten sprechen und wie kommt der Konflikt ins Bild? Ihre Beredtheit 11 erlangen Bilder über ästhetische Codierungen, deren spezifische Ausprägungen und Strategien diese Publikation nachzuzeichnen sucht. Images in Conflict richtet den Blick auf die rhetorischen Gesetze visueller Botschaften. Da weder Konflikte noch Bilder als „vorsprachliche Wesenheiten“12 zu begreifen sind, geht Images in Conflict von der Prämisse aus, dass sich die Verbindung von Konflikt und Visualität nicht jenseits von Rede verorten lässt, und versucht stattdessen, die Beredtheiten und Bedeutungskonstruktionen von Konfliktbildern aufzuspüren und zu reflektieren. Als zentral erweisen sich dafür das kontextuelle Umfeld von Konfliktbildern und ihre Einbettung in verschiedenste Diskurse. Wenn beispielsweise Felix Koltermann auf Produktionsbedingungen eingeht und dabei herausarbeitet, dass Bilder als ein „durch ausgefeilte Routinen und Selektionsmechanismen geformtes Produkt zu betrachten sind“, begreift er deren Bedeutungsfeld weit über das konkret im Bild Sichtbare hinaus. Und wenn für Paul Lowe Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit nur über die Kombination unterschiedlichster Perspektiven als ein „network of trusted witnesses, collectively providing testimony and evidence from a wide and varied set of situations“, hergestellt werden können, dann zeigen beide: „ein Bild alleine bedeutet nichts“13. Die Beiträge dieser Publikation begreifen Fotografien nicht als statische Einheiten, die monolithisch zu analysieren wären. Stattdessen geht es darum, „Techniken, Methoden und Werkzeuge der Bedeutungsstiftung zu identifizieren und die Felder, Kontexte und Relationen zu bestimmen, innerhalb derer sie effektiv werden“ 14. Vor diesem Hintergrund ist auch Fred Ritchins Four Corners Project15 als ein Versuch zu verstehen, mit dem Fotograf*innen die Möglichkeit nutzen können, über die Bildebene hinaus ihre eigenen Bilder breiter zu kontextualisieren. Sowohl die Produktionsbedingungen als auch die Rezeptionsgeschichte von Bildern sind Teil ihres Bedeutungsfeldes, denn fotografische Bilder bilden nicht einfach ab, sondern Bedeutung wird im Bild und in der Rezeption überhaupt erst hergestellt. Repräsentationen sind über ihre Lesbarmachung in aktive Prozesse der Bedeutungskonstruktion eingebunden. Wenn sich insofern die Bedeutung von Bildern nicht jenseits von Rede verorten lässt, stellt sich diese über jeden Publikationskontext mit jeder Rezeption, mit jeder Lesart her, ist nicht fix, sondern zirkuliert, migriert. Nach Stephen Mayes hat sich das Phänomen der Bedeutungsmigration mit dem „ontological shift from analogue to digital“16 massiv ausgeweitet, ist doch dieser Paradigmenwechsel nicht nur technisch, sondern vor allem auch kulturell zu begreifen. Ein Verständnis, das die Bilder nicht von vornherein auf bestimmte Bedeutungen festschreibt, verändert unseren Umgang mit Bildern generell. Im Spannungsfeld der Wahrheitsansprüche zwischen Authentizität, Zeugenschaft und Propaganda, wie sie die Bildpolitiken und ‚Bilderkriege‘ aktueller Konfliktbilder bestimmen, erfährt dieses aber eine besondere Brisanz, läuft doch die Idee einer offenen Bedeutungskonzeption, die Idee des Bildes als „open text“ 17 oder „image as open source“18 der Vorstellung einer medial per se verbürgten fotografischen Zeugenschaft, auf die gerade Konfliktbilder rekurrieren, zuwider.
A «great tool for telling very simple stories»19?
Konflikte, Krisen und Kriege sind ein klassisches Terrain des Fotojournalismus. Angesichts medialer Phänomene wie der Fotografie als Massengut und -kommunikationsform, der Visualisierung über algorithmen- und softwaregenerierte Daten, die hergebrachte Vorstellungen der Spezifik des fotografischen Mediums auf die Probe stellen, und der Tatsache, dass wir uns mehr und mehr mit einer medialisiert vermittelten Welt konfrontiert sehen, durchläuft der Fotojournalismus tiefgreifende Veränderungsprozesse, die unsere Vorstellungen von Repräsentation, Dokumentation und fotografischer Zeugenschaft infragestellen.20 Der klassische Fotojournalismus scheint an seine Grenzen zu stoßen. Ist er tatsächlich, wie Don McCullin befürchtet, vom Aussterben bedroht 21, „a great tool for telling very simple stories“ 22 oder, wie Adam Broomberg und Oliver Chanarin prophezeien, des Glaubens an seine Wirksamkeit beraubt? „If one of its [photojournalism’s] motivations for representing tragedy has been to change the world then it has been unsuccessful.“ 23 Broomberg und Chanarin fragen weiter:
Die vorliegende Publikation, die an die gleichnamige Tagung und Ausstellung anknüpft, die im Mai 2017 an der Fakultät III der Hochschule Hannover und in der GAF – Galerie für Fotografie25 stattgefunden haben, zeigt, inwiefern sich fotografische und filmische Bilder von Krisen- und Konfliktsituationen in Ästhetik und Gebrauchsweisen verändern und warum sie damit selbst ins Visier geraten. Denn zum einen haben sich im Zuge der digitalen Entwicklungen die Möglichkeiten der Bildproduzent*innen und die Distributionskanäle von Bildern vervielfältigt. Das erweitert Perspektiven und ermöglicht neue Erzählformen. Zum anderen geht damit aber auch eine Erschütterung des klassischen bildjournalistischen Selbstverständnisses einher. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Konflikten und ihrer Medialisierung widmet sich der vorliegende Band in vier Kapiteln den zentralen Aspekten aktueller Visualisierungsstrategien und Bildkonflikte. In einem Dialog zwischen fotografischer Bildpraxis und Diskursen der Bildwissenschaften richtet sich der Fokus dabei auf zukünftige Perspektiven im Feld von Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Den Beiträgen gemeinsam ist die Suche nach Erzählformen, die den Blick über die engen Genregrenzen fotografischer Gebrauchsweisen hinaus zu weiten und traditionelle Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen zu unterlaufen suchen. Wo liegen die Potenziale eines „reinvented visual journalism“ 26 ? Wie kann man aktuell von Konflikten erzählen, ohne einem ikonografisch allzu vertrauten Formenrepertoire und der Wiederholung einer immer gleichen emotionalen Symbolik aufzusitzen? Wie kann dabei dem tief in die Geschichte visueller Repräsentationen eingeschriebenen Begehren, die Differenz zwischen Darstellbarkeit und der Präsenz des Dargestellten aufzuheben, entgegengearbeitet werden?
Das erste Kapitel von Images in Conflict richtet den Fokus auf die Akteur*innen und Perspektiven der Bilder von Kriegen und Krisen und zeigt auf, welche Akteur*innen mit welchen Interessen an derBildproduktion beteiligt sind. Gerade in den letzten Jahren ist in diesem Bereich ein starker Wandel zu beobachten. Wo zuvor klassischer Foto- und TV-Journalismus der einzige Bildlieferant war, sind inzwischen Akteur*innen von allen an Konflikten beteiligten Gruppen mit ihren jeweiligen Interessen medial präsent: Der IS unterhält ebenso Public Relations-Abteilungen wie das Pentagon, Betroffene von Aggression können sich über Smartphones und soziale Medien zu Wort melden und ‚citizen journalists‘ und Amateur*innen berichten aus Gebieten und Situationen, in denen professionelle Medienmacher*innen nicht anwesend sind. Die meisten Beteiligten setzen dabei stark auf visuelle Zeugenschaft und emotionale Überzeugungskraft. Inwieweit diese noch belastbar sind und welche Wirkungen die verschiedenen Bildstrategien hervorbringen, arbeitet Sophia Greiff anhand der unterschiedlichen Funktionsweisen professioneller Aufnahmen und Handyfotos ausgehend von den Arbeiten Geert van Kesterens und Dona Abbouds heraus. Philipp Müller geht unter anderem auf die Frage der potenziellen Mittäterschaft durch virtuelle Zeugenschaft ein, wenn er den Status von Bild und Betrachter*in bei Gewaltvideos befragt, während Felix Koltermann über die ästhetischen Codes und Bildstrategien hinaus die Bedingungen fotojournalistischen Arbeitens für die verschiedenen Akteur*innen im Konfliktraum Israel / Palästina untersucht.
Unter dem Titel ‚Nichts als die Wahrheit‘ macht das zweite Kapitel die Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit fotografischer Bilder zum Thema. Die spezifische Medialität der Fotografie verspricht nicht per se einen privilegierten Zugang zu Wirklichkeit und Wahrheit, darin sind sich die Autor*innen dieses Kapitels einig. Dennoch begreifen sie in Zeiten von ‚fake news‘ und ‚alternative facts‘ umso mehr die Notwendigkeit, einen neuen Diskurs über Glaubwürdigkeit und die Integrität von Bildern zu initiieren. Während Paul Lowe ein Konzept der „triangulating truths“ erarbeitet, in dem das fotografische Medium eine bedeutende Rolle einnimmt, ohne jedoch alleine für Glaubwürdigkeit bürgen zu können, konzentriert sich Stephen Mayes auf den Prozess der digitalen Bildentstehung und seine Konsequenzen für die fotografische Glaubwürdigkeit. Dabei konstatiert er die Notwendigkeit der Schaffung eines neuen Vokabulars, um die radikale Verschiedenheit digitaler Bilder im Vergleich zur analogen Fotografie zum Ausdruck zu bringen. Der Weg dahin sei ein sensibler Prozess, der die Gefahr in sich berge, dass Wahrheit per se mit Lüge gleichgesetzt werde, der aber auch enorme Chancen biete:
Zwei Praxiskontexte, die auf fotografische Zeugenschaft rekurrieren, beleuchten die Beiträge von Susanne Krieg und Emma Daly sowie Michael Ebert. In ihrem Gespräch gehen Krieg und Daly, Leiterin der Kommunikationsabteilung von Human Rights Watch, darauf ein, inwiefern eine NGO fotografische Zeugnisse als Beweismaterial im Kampf um Menschenrechte einsetzt, während Michael Ebert das Spannungsfeld von Wahrheitsansprüchen im Praxiskontext des Journalismus am Beispiel der Rezeptionsgeschichte des Napalm-Mädchens von Nick Ut aufzeigt.
Das Kapitel ‚Sichtbar unsichtbar‘ richtet den Fokus auf fotografische und künstlerische Praktiken und zeigt, wie sich Bildproduktionen im Feld der Sichtbarkeit verorten und welche Bilder überhaupt sichtbar werden. Beim Verhältnis von Bildlichkeit und Gewalt setzt Susanne von Falkenhausen in ihrem Beitrag an, wenn sie ausgehend von Malereien des 19. Jahrhunderts bis hin zu Jeff Walls Dead Troops Talk und Jackson Pollocks Drippings fragt, „wo und wie im Bild Gewalt ,spricht‘, mitteilbar wird [und] mit welchen Codes der Darstellung“ dies geschieht.
Dass jede Form von Sichtbarkeit auch Unsichtbarkeiten mit sich führt, ist eine zentrale Voraussetzung dieses Kapitels, die sich anhand einer Vielzahl hier vorgestellter Bildpraktiken überprüfen lässt. Zum einen gehen Lars Bauernschmitt und Tony Hicks in ihrem Gespräch über die Praxis der Bildagentur Associated Press darauf ein, wie Selektionsprozesse und Bildpolitiken darüber bestimmen, welche Bilder in welchen Publikationen öffentlich werden. Zum anderen machen die Auseinandersetzungen Valeria Schulte-Fischedicks mit den seriellen Verfahren Ziyah Gafićs und Ilaria Hoppes mit Donovan Wylies sowie die Gespräche von Anna Stemmler mit Christoph Bangert und Ann-Christin Bertrand mit Adam Broomberg deutlich, inwiefern diese Bildschaffenden mit und an den Grenzen des Sichtbaren und der Sichtbarmachung durch das Medium Fotografie arbeiten. Sie zeigen, dass sich Bedeutung über das im Rahmen Sichtbare hinaus herstellt, und verweisen damit auf Perspektiven, die die Wirksamkeit von Bildern jenseits der Vorstellung einer vollständigen visuellen Erfassung und abschließenden Wahrheit herstellen kann.
Wie lassen sich Bilder von Konflikten wirksam machen, wie verleiht man ihnen Bedeutung? Mit der Wirksamkeit von journalistischen Bildern, beschäftigt sich das abschließende Kapitel des vorliegenden Bandes. Vera Brandner liefert einen Beitrag zur ‚visual literacy‘, wenn sie die Bedeutungskonstruktionen und Wirksamkeiten innerhalb des fotografischen Spannungsfelds als ein Gefüge beschreibt, in dem alle am fotografischen Prozess Beteiligten permanent unterschiedliche Rollen und Perspektiven einnehmen. Aktuelle Voraussetzungen und zukünftige Perspektiven der Medialisierung von Konflikten nehmen Rolf Nohr und Fred Ritchin in den Blick. Inwiefern sich Kriege und mit ihnen der Krieg als Gegenstand einer visuellen und textlichen Auseinandersetzung verändern, arbeitet Nohr in seiner Beschäftigung mit Dirk Gieselmanns und Armin Smailovics Atlas der Angst heraus. Da sich eine Vielzahl aktueller Konflikte ohnehin einer unmittelbaren Sichtbarkeit entzieht, plädiert Fred Ritchin für visuelle Herangehensweisen, die sich weniger auf das Spektakel der Gewalt und dessen direkte Aufzeichnung konzentrieren, sondern stattdessen die Untersuchung zugrunde liegender Systeme in den Blick nehmen. Ritchin fordert eine komplexere, vielschichtigere Bildsprache, die die Betrachtenden aktiv in den Prozess der Bedeutungsproduktion involviert.
Fotografie als Medium der Interpretation
Die Suche nach neuen Erzählformen sowie der Blick auf die Grenzbereiche und Kontexte fotografischer Praktiken, und hier insbesondere auf das Spannungsfeld zwischen Kunst, Dokumentation und Journalismus, treiben auch die visuellen Beiträge des vorliegenden Bands an. Sie alle greifen aktuelle oder historische Konfliktfelder auf und nehmen in der Mehrzahl Bezug auf kriegerische Auseinandersetzungen, sei es der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, der Bosnienkrieg, die Kriege in Afghanistan und Irak, der Nordirlandkonflikt oder der globale sogenannte ‚Krieg gegen den Terror‘. Von welchem Verhältnis von Visualität und Konflikt, von Bild und Gewalt, erzählen sie? Dabei spannt sich das Feld auf von Christoph Bangerts Projekt War Porn, das gerade die Aufnahmen versammelt, die gewöhnlich Prozessen der Zensur anheimfallen, bis hin zu Broomberg / Chanarins The Day Nobody Died, das, ganz fotografischer Index, jede Mimesis zu verweigern scheint, jedoch über den (Präsentations-)Kontext eine auratische Aufladung dieser Spur vornimmt und damit die Idee der Repräsentation wiederbelebt. Als Images in Conflict loten die vorgestellten Arbeiten in ganz individuellen Herangehensweisen, mit je unterschiedlichen Fragen und Antworten, die Möglichkeiten und Grenzen des Darstellbaren aus. Sie machen Bildkonflikte zum Thema, indem sie die Vermittlungsmodi der Repräsentation reflektieren und erfahrbar machen, dass Repräsentation ebenso eine Anwesenheit wie eine Abwesenheit erzeugt. So eröffnen die verschiedenen Projekte Perspektiven eines kritischen Potenzials in Auseinandersetzung mit der Medialität der Fotografie und begreifen dabei Fotografie weniger als ein Aufzeichnungsmedium denn als ein Medium der Interpretation. Statt zu versuchen, die Differenz zwischen Darstellbarkeit und Präsenz des Dargestellten einzuebnen, betonen sie gerade die Spaltung zwischen Präsenz und Repräsentation und erreichen so eine Bedeutungsverschiebung im Sinne eines Sichtbarmachens des Rahmens bzw. einer Rahmung des Rahmens. Das Ziel ist dabei eine Dekonstruktion des Glaubens an die scheinbar alternativlose Überwältigung durch Bilder und die sogenannte Macht der Bilder, ohne visuelle Repräsentation als wichtiges Konfliktfeld zu negieren.
Erschienen in: Karen Fromm, Sophia Greiff, Anna Stemmler (Hrg.): Images in Conflict / Bilder im Konflikt, Weimar 2018, S. 8-18.