Die fotografischen Serien The Maze1 und British Watchtowers richten den Fokus auf Werkzeuge der Herrschaft, die sich während ihres Einsatzes im Nordirlandkonflikt der Bildwerdung entzogen haben und auch nach ihrer Demobilisierung ihre dramatische Rolle im Konflikt nicht ohne Weiteres preisgeben. Donovan Wylies Herangehensweise visualisiert die Vermachtetheit, die diesen architektonischen Raumgestaltungen innewohnt. An der Grenze zwischen Kunstfotografie und dokumentarischer Praxis werden bauliche Strukturen dahin gehend erforscht, wie sie das machtvolle Sehen der Kontrolle ermöglichen. Ästhetisch entsteht derart ein Spannungsverhältnis, das sich der Interpretation öffnet und zugleich den Diskurs über die Macht des Sehens sucht.
The Maze
Zu den bekanntesten Fotografien von Donovan Wylie (*1971) zählen die Darstellungen des nordirischen Gefängnisses ,The Maze‘ in der Nähe von Belfast, zuerst als Bildband 2004 erschienen und 2017 vom Metropolitan Museum in New York angekauft.2 Von außen nach innen werden Sicherheitszonen und Freiflächen mit einer hohen Horizontlinie und blassgrauem Himmel dokumentiert. Der Einblick in die Einzelzellen der berüchtigten H-Blocks erfolgt hingegen immer seitlich, während von rechts durch die schmalen Scharten weiches Sonnenlicht fällt. Die einzige Variation in diesen Bildern sind die gemusterten Vorhänge und die Übermalungen der Wände. Insbesondere das blumige Dekor der Stoffe wirkt wie ein tragischer Gegensatz zur Geschichte des Ortes, von der sicherlich auch die Farbflecke auf der Wand zeugen.
,The Maze‘ war ein Hochsicherheitsgefängnis, das während des Bürgerkriegs in Nordirland der Inhaftierung vornehmlich politischer Häftlinge diente. Das Direktmandat der britischen Regierung unter Kriegsrecht erlaubte, Verdächtige ohne Gerichtsprozess zu internieren. 1976 wurde die moderne Festung in Betrieb genommen, die bis heute als Symbol der gewalttätigen Auseinandersetzungen – auch als ,the troubles‘ bekannt – gilt. In die Schlagzeilen kam das Gefängnis durch bewaffnete Übergriffe der Häftlinge wie der Wärter und Hungerstreiks mit tödlichem Ausgang. Nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 gab man ,The Maze‘ schließlich im Jahr 2000 auf.3
Die ebenerdigen, eingeschossigen Zellenblöcke waren in H-Form angelegt und jeweils von Sicherheitsstreifen mit Stacheldraht und Wachtürmen flankiert, um sowohl Kontrolle durch den Blick von oben zu haben als auch Häftlinge isolieren zu können. Der Neubau eines Hochsicherheitsgefängnisses war die Reaktion auf die Zustände im Vorgängerbau Long Kesh, einem verlassenen Militärstützpunkt, der ab 1971 als Provisorium für die Internierung diente. Die Eskalation des Bürgerkrieges führte zur Überfüllung und chaotischen Zuständen in der Einrichtung. Es gab keine Heizung und die sanitären Bedingungen wurden mehrfach vom Roten Kreuz angemahnt. Der Neubau erfüllte hingegen moderne Standards hinsichtlich der hygienischen Versorgung sowie der Sicherheit, da zwischen den H-Blocks mehrere Schranken die Bewegung der Insassen regulierten. Umgeben waren sie von einem Sicherheitsstreifen mit Bewegungsmeldern und Stacheldraht, der wiederum von einer Mauer umfriedet war, die ihrerseits durch Einheiten der Armee von außen bewacht wurde. Die Einzelhaft in Zellen sollte zusätzlich die Sicherheit steigern und die Einflussmöglichkeiten auf den einzelnen Insassen erhöhen. Häftlinge der höchsten Sicherheitsstufe wurden außerdem wiederholt umquartiert. Da die Architektur aus Fertigbauteilen sich auf dem ausgedehnten Gelände ständig wiederholte, förderte dies die Desorientierung, wie Wylie aus eigener Erfahrung beim Fotografieren auf dem Gelände 2002/03 berichtet.4
Trotz dieser Vorkehrungen weigerten sich die Insassen, den Gefängnisregeln zu folgen, und organisierten Formen des Widerstands, wie die Weigerung, ihre Kluft anzuziehen oder sich zu waschen, manche schmierten ihre Exkremente an die Wände. Darauf reagierte die Leitung wiederum mit Strafmaßnahmen: Sie ließen die Gefangenen nur ihre Decken tragen (,being on blanket‘), kassierten die Betten ein, erlaubten keineReinigung der Zellen, familiären Besuche, TV, Bücher außer der Bibel, Zeitschriften oder sportliche Aktivitäten. Der Druck auf der anderen Seite wuchs ebenso an. Viele Wärter waren hastig, mit nur wenig Erfahrung eingestellt worden und befanden sich als Ortsansässige oft in einer schwierigen Situation gegenüber ihren inhaftierten Landsleuten. Es gab keine geregelten Arbeitszeiten und laut den Quellen begingen viele Wärter Selbstmord.5
Der Konflikt im Gefängnis drehte sich vor allem darum, dass die britische Regierung sich weigerte, die Insassen als politische Häftlinge anzuerkennen, und darauf beharrte, sie als ‚normale Verbrecher‘ zu behandeln. Die Gefangenen ihrerseits gehörten allerdings paramilitärischen Einheiten des bewaffneten Nordirlandkonfliktes an. Erst mehrere Hungerstreiks mit tödlichem Ausgang 1980/81 führten zu einer allmählichen Verbesserung der Situation, und es wurde z. B. erlaubt, die eigene Kleidung zu tragen. Ebenso scheinen auch Wärter immer wieder mit Häftlingen sympathisiert zu haben, was 1983 einen Ausbruch ermöglichte. Schließlich wurden weitere Zugeständnisse gemacht, welche die Haftbedingungen verbesserten. Der ab 1994 einsetzende Friedensprozess wird unter anderem auch auf die Normalisierung der Lage in der Haftanstalt zurückgeführt.6
Wylies Bilderserie ist insofern archivarisch, als sie alle baulichen Strukturen nüchtern und sachlich aufnimmt. Details wie Rost und Unkraut lassen sich gut erkennen, doch bleibt die Belichtung mit hellgrauem Himmel neutral, ohne starke Schlagschatten oder Farbkontraste. Der bedrückende Eindruck entsteht durch die konzeptuelle Wiederholung: Jedem Element wird eine bestimmte Perspektive zugewiesen, sodass der von ihm selbst beschriebene Eindruck der Orientierungslosigkeit und Ausweglosigkeit entsteht. Die äußeren Sicherheitsstreifen (,inertia‘) wurden z. B. 26-mal auf genau die gleiche Weise aufgenommen. Dasselbe gilt für die Binnenzonen und asphaltierten Straßen, über denen die Bewegungsmelder wie Drohnen schweben. Zudem gliedert sich der Bildband nach der Struktur des Gefängnisses von außen nach innen. Genau in der Mitte geben Klappbilder einen Ausblick auf die ebenerdigen Zellenblöcke. Die Freiflächen – wie Sportplatz und Hof – zeigen sich mit hoher Horizontlinie ohne jegliche Unterteilung oder Sitzgelegenheit mit grauem Boden. Den Abschluss bildet die ebenfalls gleichförmige Serie mit den Innenaufnahmen der Zellen.
Zwischen 2007 und 2008 wurde ,The Maze‘ schließlich abgetragen, was Wylie ebenso in einem Fotobuch festgehalten hat.7 Auch in diesem zweiten Band arbeitet er sich von außen nach innen vor. Dabei werden vor allem Mauern, Zäune und Befestigungen gezeigt, wie sie allmählich zerstört werden, ohne dass Handwerker oder Werkzeuge sichtbar wären. Das ruinöse Mauerwerk wird mit immer gleichem Bildausschnitt gezeigt, sodass es stets ca. zwei Drittel der Fotografie einnimmt. Verstärkt durch die äußerst schmalen Rahmungen stellt sich der Eindruck eines filmischen Panoramabildes ein. Die dokumentarische Strenge zeigt sich bei der sorgfältigen Belichtung der verschiedenen Graustufen des Himmels, der Gebäude, Stacheldrähte und Wellblechzäune. Gesteigert wird der Eindruck einer filmischen Erzählung noch durch die zunehmende Zerstörung: Ist es auf dem ersten Bild nur ein Loch in der Wand, aus dem Drähte in den Himmel ragen, sind es am Ende nur noch Schutt und Asche, bis die dahinterliegende Landschaft wieder sichtbar wird. Erst hierbei erscheint der Horizont, wo vorher der hohe Augenpunkt immer auf eine Mauer ausgerichtet war, die den Blick versperrt.
Die Strenge in der Komposition und das Fehlen jeglicher Akteure fördern den Eindruck von Objektivität. Wylies Bilder legen Zeugnis von einer Struktur ab, die der gewaltsamen Kontrolle diente. Die begleitenden Texte von Louise Purbrick beschreiben den historischen Kontext und geben Einblick in die Bautypologie des modernen Gefängnisses. Sie stellen sich als wissenschaftliche Abhandlung mit nur leicht tendenziösem Unterton neben die scheinbar ebenso sachlichen Fotografien. In dieser Doppelung erheben sie den Anspruch auf Wahrheit, auch wenn beide ganz klar die Perspektive der Unterdrückten einnehmen, derer, die dem Blick der Besatzer ausgesetzt waren.
British Watchtowers
Die Bilderserie British Watchtowers verwendet eine ähnliche Ästhetik wie The Maze und thematisiert ebenfalls den Bürgerkrieg in Nordirland.8 Sie entstand 2005/06, bevor in South Armagh die Überwachungstürme des britischen Militärs aus den 1980er-Jahren abgebaut wurden.9 Das ländliche Gebiet an der inneririschen Grenze gilt als eines der widerständigsten Territorien, wo sich der gewalttätige Konflikt zwischen IRA und britischer Armee besonders zuspitzte und bis in die 1990er-Jahre hinein andauerte. Durch den starken Rückhalt in der Bevölkerung konnten die Brigaden hier fast ungestört operieren. Neben Scharfschützen und Bombenattentaten wurden weite Teile der Grafschaft vermint. So wurde South Armagh zu einer No-go-Area für britische Soldaten und auch als ,bandit country‘ bekannt. Die Armee war gezwungen, den Landweg zu meiden, und baute ihre Lufthoheit aus: Sie setzte vermehrt Hubschrauber ein, die ebenfalls attackiert wurden, und installierte die Wachtürme.10
Wylies Bilderserie beginnt mit einem Blick über eine ländliche Gemeinde, aus deren Mitte ein Wachturm herausragt. Erneut sitzt die Horizontlinie im oberen Drittel des Bildes unter einem blassgrauen, leicht bewölkten Himmel. Von Bild zu Bild nähert man sich dem Turm, um sich dann wieder wie durch ein Zoom zu entfernen, bis der nächste inmitten der irischen Landschaft sichtbar wird. Das militärische Tarngrün der Anlage fügt sich dort in die idyllischen sattgrünen Wiesen mit Schafen und Flurhecken ein. Die folgenden Befestigungen liegen in höheren Lagen auf Felsspornen, von denen aus sich der Blick über ein weites Territorium erstreckt. Wiederholt kommt man ihnen bis auf ca. 50 m nahe; ein ausklappbares Panoramabild lässt das Auge über die Landschaft schweifen. Siedlungen sind hier nur noch in weiter Ferne zu erkennen, während sich die Kontrollstation als Fremdkörper in den Mittelgrund schiebt. Der begleitende Text von Purbrick wird demgegenüber von Nahaufnahmen begleitet, welche die Details der Einrichtungen veranschaulichen sowie die unmittelbare Nähe dieser Überwachungseinrichtungen im Stadtraum.
Wie im Gefängnis ,The Maze‘ setzte die britische Armee auch bei den Wachtürmen auf vorgefertigte Elemente, die sich leicht und schnell zusammenbauen ließen. Der Teil, in dem sich Soldaten aufhielten, war zusätzlich durch ein Gitter geschützt. Umgeben waren sie von kleineren Lagergebäuden und Stacheldrahtzaun. Insofern ähneln sich die Anlagen und sind weithin als solche zu erkennen. Im militärischen Sprachgebrauch bezeichnete man sie tatsächlich als ,sangars‘, als kleine, temporäre Festungen.11 Sie konnten sowohl der Überwachung dienen als auch direkt zum Kampf eingesetzt werden. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Afghanischen und bezeichnet einen erhöhten, befestigten Posten. Somit verweist die Benennung durch die britische Armee auf die koloniale Herrschaft des Empire im 19. Jahrhundert. Die Wachtürme in Irland waren allerdings mit ausgefeilter Spionagetechnik bestückt, mit der man, wie es hieß, die Geschwindigkeit auf einem Autotacho lesen oder Gespräche in Wohnhäusern hätte belauschen können.12
Der territoriale Überblick brachte schon immer den militärischen Vorteil. Nicht umsonst heißt die Vogelperspektive auch Militärperspektive. Tatsächlich wurden die Erhöhungen, auf denen sich die Wachtürme in Irland befanden, mindestens seit 500 v. Chr. für militärische Zwecke genutzt. Noch heute besteht Sichtkontakt zwischen den Gipfeln, die so eine natürliche Demarkationslinie bilden. Wie bei den Aufnahmen von The Maze handelt es sich bei den British Watchtowers allerdings um architektonische Strukturen, die in der Regel medial unsichtbar bleiben, weil sie einerseits während des Konfliktes der militärischen Geheimhaltung unterlagen, andererseits im Friedensprozess an eine unangenehme Wahrheit erinnerten. Obwohl die militärische Wirksamkeit der Überwachungstürme sich nicht eindeutig ermitteln lässt, waren sie dennoch Zeichen der Besatzung.13 Diesen Eindruck verstärkt Wylie durch die atemberaubende Perspektive, die ihm aus der Luft von einem Hubschrauber aus gelang.14
Landschaftsfotografie
In beiden Fällen erhält man in den Bildbänden keine näheren Informationen über die Technik, mit der die Fotografien aufgenommen wurden. Nur in Interviews erfährt man, dass Wylie mit einer Großbildkamera gearbeitet hat und sich in die Tradition der Landschaftsfotografie stellt. Zudem benennt er Eugène Atget und Walker Evans explizit als Vorbilder.15 Die großformatige Technik lässt selbst kleinste Details auf der gesamten Bildfläche auch ohne große Kontraste durch Schatten oder Farbe sichtbar werden. Dadurch entsteht ein flächiger Effekt, der die Zentralperspektive der fotografischen Linse ein Stück weit aufhebt. Die Fotografien nehmen so formal Gestaltungsmittel der klassischen Landschaftsmalerei auf, die eben weniger wie ein Fenster (Alberti) oder eine Guckkastenbühne funktioniert, sondern vielmehr wie eine Karte, die das Auge absuchen kann (Alpers). Damit verbindet sich eine unhierarchische Struktur, bei der kein Detail bevorzugt wird.16
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten Ansel Adams oder Edward Weston als Pioniere der US-amerikanischen Landschaftsfotografie. Ihre Motive erhoben allerdings noch die ‚Wildnis‘ als unberührte Natur zum Gegenstand erhabener Bildbetrachtung. Walker Evans nimmt mit seinen dokumentarischen Beobachtungen des Alltags darüber hinaus eine wegweisende Position für die Generation jüngerer Fotografen ein, die sich zunehmend für sozialkritische Themen interessierten. Zusammengefasst wurden diese Positionen 1975 mit der Ausstellung New Topographics. Photographs of a Man-altered Landscape in Rochester (NY).17 Dort sah man auch ganz banale Motive, wie Parkplätze oder Fabriken, und es ergab sich eine entscheidende Wende hin zu einer konzeptuellen Dokumentarfotografie. Beeinflusst – und selbst Teil der Ausstellung – zeigten sich diese Fotografen von den Aufnahmen der Industriekultur von Bernd und Hilla Becher sowie den Künstlerbüchern Ed Ruschas aus den 1960er-Jahren, wie Twentysix Gasoline Stations oder Every Building on the Sunset Strip. Dabei ging es nicht allein um die Erhöhung des Banalen, sondern auch um eine Sensibilisierung für Effekte der (De-)Industrialisierung sowie der Ausdehnung des suburbanen Raums. Die Konzentration auf die Kulturlandschaft, auf die bebaute Umwelt mit zugleich nüchternen Mitteln und ohne jegliche Emphase verabschiedete das Naturerlebnis. Die Bilder vereinen vielmehr den Reiz des Ästhetischen mit einer Kritik an ihren Gegenständen, sodass eine spannungsvolle Komplexität entsteht,18 die man auch für Wylie in Anschlag bringen kann. Die nüchterne Wirkung wird durch die Reihung der Motive aufgehoben und zu einem narrativen Element gesteigert, insbesondere bei Ruscha und den Bechers,19 die bei Wylie ins Tragische gewendet wird. In seinen Fotobüchern wird das Motiv der Serie aber nicht im gleichzeitigen Nebeneinander des Tableaus, sondern in einem Nacheinander der Wiederholung sichtbar und durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen, auf die sie verweisen, zu visuellen Archiven vergangener und gegenwärtiger Traumata.
Damit lässt sich Wylie einer jüngeren Generation von Künstler*innen zuordnen, die einen Umgang mit der nordirischen Vergangenheit suchen. Wie Declan Long verdeutlicht, sind es vor allem fotografische Positionen, die eine geisterhafte Qualität in urbanen Räumen herausarbeiten, die immer noch von der Vergangenheit heimgesucht werden.20 Auf der Suche nach dem Unterdrückten oder nicht Gesagten geht es um eine Aufarbeitung, die letztlich der Überwindung des Traumas dient. Gemeinsam ist vielen dieser Arbeiten der Verzicht auf die Darstellung von Akteur*innen. So wird einerseits ein denunzierender Charakter vermieden, andererseits durch die Leere ein diffuses Unwohlsein evoziert, das nach gesellschaftlicher Verantwortung fragt. Im Ausstellungskatalog zur zeitgenössischen Fotografie in Belfast mit dem sprechenden Titel Where are the people? von 2010 verweist Aaron Kelly diesbezüglich auf die berühmte Passage in Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, der die menschenleeren Pariser Straßen auf den Fotografien von Atget mit einem Tatort vergleicht:
„Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photografischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht inne. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen.“21
Als Pionier für diese Form von Fotografie in Irland gilt Paul Seawright, der bereits 1988 mit der Serie Sectarian Murders ehemalige Tatorte ablichtete, an denen Zivilisten im Bürgerkrieg umgekommen waren.22 In den verlassenen Randgebieten von Belfast hatte man in der Dekade zuvor Leichen gefunden. Mit künstlichen Formen von Belichtung und schrägen Kameraperspektiven wird eine gespenstische Atmosphäre erzeugt und zugleich die Abwesenheit der Körper wie des Narrativs über sie betont. Seine Herkunft und Erfahrung in diesem Konflikt werden auch mit späteren Arbeiten in Zusammenhang gebracht, da sich Seawright auf Orte und Räume gewalttätiger Auseinandersetzungen spezialisiert hat. Wiederholt untersucht er das Zusammenfallen von geografischen und historischen blinden Flecken mittels der Landschaftsfotografie und bringt paradoxerweise immer das zur Anschauung, was verschwiegen oder versteckt wird.23 Doch im Gegensatz zu Wylies Bildern gibt es häufig eine Spur zu verfolgen. Zuweilen sieht man den Anschnitt einer Person oder Zeichen vergangener Handlungen – wie in Hidden (2002) oder Conflicting Account (2009) –, die sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft nachhaltig prägen. Beide Fotografen, so lässt sich zusammenfassen, produzieren visuelle Archive durch die dokumentarische und konzeptuelle Umsetzung ihrer subjektiven Empfindungen vor Ort. Dabei scheint die absolute Leere auf Wylies Bildern diesen Ansatz noch einen Schritt weiterzutreiben oder anders gesagt: Je verlassener ein ‚Tatort‘ ist, desto mehr scheint es dort zu ‚spuken‘.
Daraus lässt sich einerseits eine Steigerung in der Affizierung ableiten, andererseits die Vernachlässigung individueller Einflussnahme kritisieren, wie sie Laura McAtackney in ihren Studien zur Landschaftsarchäologie vorgenommen hat.24 Ihrer Meinung nach betont Wylies Ästhetik zu stark den offiziellen Diskurs von Kontrolle, Herrschaft und Macht, ohne die Möglichkeit menschlicher Handlungsfähigkeit (,agency‘) zu Subversion oder Widerstand in Betracht zu ziehen. Obwohl ästhetisch interessant, verstelle diese Bildform nachhaltig unser Verständnis von solchen Orten als Räumen andauernder Interaktion, sowohl im funktionalen Betrieb als auch leer stehend.25
Diese Kritik verdeutlicht einmal mehr das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Dokumentarfotografie. Während McAtackney auf dem Feld der Wissenschaft arbeitet, sind Seawright und Wylie eher im Bereich der Kunst zu verorten. Die Wissenschaftlerin fordert die dokumentarischen Qualitäten der Fotografie ein, welche die Darstellung von Orten und Ereignissen mit einem Anspruch auf Wahrheit verbinden und es darüber hinaus vermögen, die Empathie beim Publikum für eine ihm fremde ,causa‘ einzuholen. Dem stehen die subjektiven und konzeptuellen Verfahren der modernen Landschaftsfotografie gegenüber, deren zeichenhafte Spuren in leeren Räumen eher auf die Imagination und Interpretation der Betrachter*innen zielen.26 Mehr noch sind die entvölkerten Landschaften auch bei einer ganzen Gruppe von internationalen Fotografen zum entscheidenden Stilmittel geworden, um den größten Schrecken der jüngsten Vergangenheit formalen Ausdruck zu verleihen. Dabei verwies Sarah James wiederum auf die Gefahr der Romantisierung durch die Darstellung von Ruinen.27 Doch sei es gerade die in der Landschaftsfotografie angelegte Kategorie des Erhabenen, in der Ethik und Ästhetik eine unbequeme Koalition eingingen und so ein kritisches Potenzial entfalteten. Während bei Seawright häufig auf konkrete Kriegshandlungen verwiesen wird, zielen Wylies Bilderserien hingegen auf deren mittelbare Blickregime und die Politiken der Sichtbarkeit.
Vision as Power
Unter dem Titel Vision as Power widmete das Imperial War Museum 2014 in London Donovan Wylie eine Einzelausstellung.28 Sie versammelte fünf chronologisch geordnete Stationen seines Werkes, das insgesamt die Effekte militärischer Überwachung und ihre Beziehung zur Architektur erforscht. Für Wylie stellt ,vision‘ bereits eine virtuelle Architektur her, also einen Raum, der die Grundlage für die Systeme der Kontrolle bildet.29 Dabei umfasst der Begriff ,vision‘ im Englischen weitaus mehr als nur das reine ‚Sehen‘, sondern ein ganzes Set an Bedeutungen der Wissensproduktion und -regulierung.30 Paradoxerweise bleibt das Sehen selbst stets unsichtbar, nur seine Effekte, wie Apparate oder eben Architekturen, geben über seine Funktion Auskunft. Diesen Zusammenhang hat vor allem Michel Foucault in Überwachen und Strafen herausgestellt.31 Am Beispiel von Jeremy Benthams Panopticon (1791) zeigt Foucault, wie das moderne Gefängnis durch den zentralen Blick der Kontrolle beherrschbar wird. Für die Insassen selbst wird die Überwachung dabei nicht direkt deutlich. Durch die kreisförmige Architektur kann sie aber zu jedem Zeitpunkt stattfinden und von jeglicher Person durchgeführt werden. Relevant ist dabei nicht ein unmittelbarer physischer Kontakt, sondern die anonyme Herrschaft des Blicks, der dem Individuum allzeit gegenwärtig ist und dem er sich unfreiwillig anpasst.
Diese Disziplinierung der Körper ist von den angloamerikanischen Visual Culture Studies weiter ausgedehnt und als Paradigma der modernen Gesellschaft beschrieben worden.32 Als historischen Vorläufer führt Nicholas Mirzoeff ebenfalls die Sklavenplantagen der Kolonialmächte an. Dort sei es der Aufseher gewesen, der die Autorität über den dominanten Blick wie auf einem Feldherrnhügel ausgeübt habe.33 Danach sei das System der Überwachung mittels Videokameras auf die moderne Stadt übertragen worden. Schließlich habe es sich durch Satelliten und Drohnen global verbreitet und bilde eine postpanoptische Visualität. Wie zuvor das göttliche Auge vermag es die moderne Technik, alles zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Die rationale Objektivierung der optischen Geräte kommt dabei als Mittel zur Aufstandsbekämpfung und im ‚Krieg gegen den Terror‘ weltweit zum Einsatz. Autorität und Macht würden durch omnipräsente Kontrolle in einer Ära der ‚Neovisualität‘ durchgesetzt, wofür Mirzoeff den technomilitärischen Komplex und seine kapitalistischen Interessen verantwortlich macht.34 Daraus folgt, dass sich die globalen Gesellschaften dieser Disziplinierung – wie die Insassen im benthamschen Entwurf oder auf der Sklavenplantage – ebenfalls mehr oder weniger bewusst anpassen.
Demgegenüber hat Ursula Frohne bereits 2008 und schon zuvor auf die Ausdehnung der neuen Kommunikationstechnologien aufmerksam gemacht, deren Netzwerke sich nicht mehr allein auf vereinzelte Kontrollinstanzen zurückführen ließen.35 Vielmehr organisieren globale Marktmechanismen je nach Bedarf Prinzipien von Ein- und Ausschluss, von Zugang und Ausgrenzung, und Frohne verweist diesbezüglich auf Gilles Deleuze, der diesen Wandel als Übergang von Foucaults Gesellschaft der Disziplin zu einer Gesellschaft der Kontrolle benannt hat.36 Die zentralisierte Überwachung totalitärer Regime sei zwar immer noch zu beobachten, aber eigentlich Zeichen einer überkommenen Ideologie. Die Technologisierung und Mediatisierung hätten vielmehr zu anonymer Kontrolle und maschinellen Aufzeichnungsmethoden von Informationen geführt, die nach Bedarf innerhalb digitaler Netzwerke organisiert und abgerufen werden können. Dabei plädiert Frohne nicht für die Ablösung der Systeme, sondern für deren Parallelität. Mit anderen Worten: Neben Big Brother steht das Rhizom der Datennetzwerke und beide Ordnungen lassen sich bei Wylie wiederfinden.
,Structures of vision‘
Wylies Fotografien thematisieren demzufolge zunächst Architekturen, die disziplinierende Blickregime ermöglichen. In der ersten Bilderserie The Maze ist auffällig, dass die Perspektive der Häftlinge reproduziert wird, da der Augenpunkt nie über eine Mauer hinausreicht. Zugleich seziert Wylie die Funktionalität des modernen Hochsicherheitsgefängnisses, das im Gegensatz zum benthamschen Modell nicht in die Höhe ragt, sondern sich ebenerdig und in einer seriellen Struktur ausbreitet. Der kontrollierende Blick von oben konnte also die gesamte Fläche der Haftanstalt erfassen sowie durch die Isolationshaft sich des Einzelnen versichern. Bei den British Watchtowers nimmt der Fotograf hingegen selbst den herrschenden Blick ein, da Wylie für die Aufnahmen zumeist den Hubschrauber benutzte. So entstanden die panoramatischen Überblicke, welche die Überwachungsanlagen dokumentieren und zugleich ihre ehemals dominante Sicht auf das Territorium reproduzieren. Damit wird die visuelle Ästhetik des Erhabenen verdoppelt, da sich diese einerseits an das Naturerlebnis der Landschaft knüpft, andererseits an das affektive Moment des Schreckens, den man mit den militärischen Anlagen der Besatzungsmacht verbindet. Das Motiv der Wachtürme nimmt Wylie in einer weiteren Bilderserie auf. 2010 gelang der Fotograf in Zusammenarbeit mit den britischen Imperial War Museums und dem National Media Museum als ,embedded journalist‘ in die Provinz Kandahar in Afghanistan.37 Dort wurden die Überwachungstürme der im ,war on terror‘ vereinten Streitkräfte zum Sujet der ebenfalls als Fotobuch publizierten Bilderserie Outposts. Kandahar Province.38 Sie erinnern deutlich an die Anlagen in Nordirland, nur dass hier bildgewaltig die kargen, sandigbraunen Gebirge dominieren. Intrinsisch verweisen die Bildmotive auf die westliche Kolonialherrschaft in Afghanistan, die mit den Briten begann. Durch die gemeinsame Ausstellung in Vision as Power 2013/14 erlaubt die formale wie inhaltliche Ähnlichkeit den Verweis auf die Herrschaft durch Besatzer und ihre Blickregime. Anders als in der für die klassische fotojournalistische und pressefotografische Berichterstattung üblichen Verdichtung von Gesten, Ereignissen und Zeichen, die auf einen semantischen und affektiven Mehrwert abzielen, äußert sich die Kritik hier durch die reduzierte Ästhetik der Landschaftsfotografie.39 Diese steht gegen das schnelle Urteil oder die polarisierende Meinungsbildung, die durch Medienbilder entstehen kann, und für die Möglichkeit der Wahrnehmung und Interpretation des nicht Gesagten und nicht Gezeigten.40
Eher könnte man Wylies Arbeit mit anspruchsvoller Reportagefotografie vergleichen, die Zusammenhänge in komplexen Bildstrecken in Buchform visualisiert.41 Ihre Ausstellung in einzeln gerahmten Bildern sowie eine aufwendige Postproduktion rücken seine Fotografien wiederum in den Kunstkontext. In einem Statement von 2011 musste er zugeben, dass seine Bilder nicht nur wie allgemein üblich digital nachbearbeitet, sondern auch aus ästhetischen wie Gründen der militärischen Sicherheit Objekte gänzlich entfernt worden waren.42 Dennoch beglaubigte er, dass sie die ephemeren militärischen Strukturen akkurat darstellen.
Schließlich beendet die Serie North Warning System von 2014 vorerst Wylies Auseinandersetzung mit den Architekturen der Überwachung.43 Auch hierbei wird ein Turm gezeigt, allerdings der präemptiven Sicherheitspolitik an der arktischen Küste im Norden Kanadas. Die Station am Cape Kakiviak in der Region Northern Labrador ist unbemannt und dient der elektronischen Datenerfassung. Im Zuge der Erderwärmung werden neue Routen der Nordwestpassage möglich, die Zugang zu Ressourcen geben sowie die militärische Landkarte neu vermessen. Diese geostrategischen Interessen verknüpfen sich mit den erneuerten technologischen Möglichkeiten innerhalb digitaler Netzwerke, wie in der von Deleuze beschriebenen Gesellschaft der Kontrolle.
Die einsame Ästhetik auf Wylies Bildern wird durch die weiße Landschaft der Arktis intensiviert. Dieser Beobachtungsposten bildet auch deshalb einen Abschluss, weil er nicht mehr auf vergangene oder gegenwärtige, sondern auf zukünftig mögliche Konflikte verweist. Diese Zeitlichkeit lässt sich auch an der gewählten Farbigkeit ersehen: Der historische Konflikt in Nordirland wurde wiederholt mit der grünen Landschaft angezeigt, wohingegen die Bilder des immer noch andauernden Konflikts in Afghanistan die braune Tonalität der Gebirge wiedergeben. Der isolierte Posten in Kanada ist schließlich von der weißen Eislandschaft umgeben. Kann man sich bei den militärischen Anlagen einen funktionalen Zweck zumindest noch vorstellen, verweisen die Bilder der Arktis auf die intransparente digitale Kommunikationstechnologie. Von dieser bleibt unklar, wie und welche Daten zu welchem Zweck erhoben werden. Damit verweisen die Fotografien auf die Grenzen von Rationalität und Wahrnehmung sowie auf die von Mirzoeff konstatierte postpanoptische Neovisualität. Die Tradition der romantischen Landschaft zeigt sich bei den weißen Hügeln und Nebeln von North Warning System besonders deutlich. Doch setzt sich nun nicht mehr das bürgerliche Individuum dem Schrecken der Natur aus, sondern sein Platz wurde vom Überwachungsposten eingenommen. Die Kategorie des Erhabenen wird von Wylie also aktualisiert. Bei der Betrachtung seiner Bilder erkennen wir unsere Machtlosigkeit nun nicht mehr vor der Natur, sondern vor der totalen Überwachung. Das Fehlen jeglicher Akteure verlagert die Interpretation dabei stringent auf das Publikum, das durch den Reiz des Ästhetischen aktiviert werden kann. Die aufklärerische Geste der Dokumentarfotografie in Verbindung mit der kunstvollen Landschaft erzeugt so eine Version des Erhabenen, das im besten Fall dazu führen kann, das Gefühl des Widerstandes in sich zu entdecken.44
Erschienen in: Karen Fromm, Sophia Greiff, Anna Stemmler (Hrg.): Images in Conflict / Bilder im Konflikt, Weimar 2018, p. 380-395.