Heilstätte Harzgerode: Ein Lost Place, der Geschichte atmet

Verstaubte Flure und alte Patientenzimmer der ehemaligen Kinderheilanstalt im Harz erzählen vom Kampf gegen Tuberkulose – ein Lost Place für Geschichtsinteressierte. Von Rebecca Jäger (Text und Bild)

Gras wächst auf den Außentreppen der ehemaligen Kinderheilstätte Harzgerode, auf der Terrasse sogar ein kleiner Laubbaum. Viele Fensterscheiben sind gesplittert oder fehlen ganz in leeren Rahmen, einige Sandsteinblöcke des Gebäudesockels sind gesprungen. Der medizinische Betrieb ruht hier schon lange, seit fast 30 Jahren. Heute ist der leerstehende Gebäudekomplex ein Denkmal – und mahnt an den Kampf, den Kinder und Jugendliche, Pfleger*innen und Ärzt*innen hier jahrzehntelang gegen Tuberkulose führten.

Der Gebäudekomplex der ehemaligen Kinderheilstätte Harzgerode passt nicht so recht in die bewaldeten Hügel des Ostharzes: Zu groß, vielleicht auch zu andersartig. Den Harz prägen eher flache Gebäude, oft auch Fachwerk. Die Kinderheilanstalt jedoch ragt drei Stockwerke hoch in den Himmel, die Architektur des Haupthauses ist klar und geradlinig. Beton und Glas dominieren die Fassade. Doch der Haupttrakt ist leicht gebogen ausgeführt, die Mitte flieht ein wenig nach hinten, die Gebäudeecken sind rund, fast erkerartig ausgeführt – ein leichter Bruch des eher funktionalistischen, nahezu bauhausartigen Stils. 

Der Wald um den Gebäudekomplex liegt still. Es ist Winter, die Sonne strahlt nur matt. Kälte und Schnee lassen die ehemalige Kinderheilanstalt wie die Kulisse eines Gruselfilms erscheinen. Irgendwie passt diese Atmosphäre zur Geschichte des Orts. Ende des 19. Jahrhunderts starb etwa jeder siebte Mensch in Europa an Tuberkulose, einer Lungenkrankheit. Frische Bergluft und Sonnenlicht galten als wirksame Heilmittel dagegen – und genau das bietet die Gegend um die Kleinstadt Harzgerode auch heute noch. So beschloss die Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt in den 1920er Jahren, eine Heilstätte für tuberkulosekranke Kinder zu errichten. Landschaftliche Reize, angenehmes Klimas und Ruhe sollten Heilung und Erholung begünstigen. Kinder und Jugendliche genossen eine Behandlung aus Spaziergängen oder Liegekuren auf den Balkonen.

Der Aussichtsturm erstreckt sich über den Ostflügel und gibt den Blick auf das umliegende Gelände frei.

Patient*innen Zimmer mit drapiertem Bett.

Geschwungener Handlauf im Treppenhaus.

Die Eingangstreppe zum Ostflügel wirkt instabil, ein Gitter versperrt den Zugang. Eine kleine Seitentür links von der Treppe führt heute ins Gebäude. Im Inneren erstrecken sich lange, dunkle Gänge. Alle paar Meter links und recht offenstehende, weiß lackierte Kassettentüren. Dahinter  Patient*innenzimmer und Gemeinschaftsräume. Die Wände in hellen Farben gestrichen – gelb, lindgrün. Aufkleber mit verschiedensten Tiermotiven. An den Türrahmen kleben vereinzelt alte Fotos: Aufnahmen von den Räumen so, wie sie früher aussahen. Pfleger*innen mit gestärkten Hauben, die ihre Patient*innen baden. Und Kinder, die in einer langen Reihe von Betten in Decken eingemummelt auf den Balkonen liegen. Die vergilbten Fotos erzählen vom Kampf gegen die Tuberkulose, der hier einst geführt wurde.

Anfang des 20. Jahrhunderts galten Frischlufttherapie und Sonnenbäder als innovativ, sie sollten die Heilungschancen verbessern. So plante der Architekt Godehard Schwethelm 1924 in Abstimmung mit dem ersten Chefarzt der Kinderheilanstalt, Hans Heinrich Knüsli, überdachte Liegebalkone für den Ost- und Südflügel – für einen direkten Kontakt zur Natur. Überhaupt entstand das Spitalgebäude auf dem damals modernsten Stand der Technik. Die Architektur sollte nicht nur ästhetisch und von einer spielerischen Leichtigkeit sein, sondern auch medizinisch sinnvoll. Die Behandlungsräume sind gefließt – weiß, gelb, grün. So waren sie leicht hygienisch rein zu halten. Die Badewannen ausgestattet mit modernen Mischbatterien, damit ließ sich eine angenehme Wassertemperatur einstellen. Große Fensterflächen lassen viel Tageslicht einfallen. 

Hintergrund: Mit Spaziergängen und Liegekuren gegen Tuberkulose

Ende des 19. Jahrhunderts starb etwa jeder siebte Mensch in Europa an Tuberkulose, einer bakteriellen Infektionskrankheit, die vor allem die Lunge befällt.

Die Gegend um die Kleinstadt Harzgerode wurde aufgrund ihrer landschaftlichen Reize, des angenehmen Klimas und der Ruhe als perfekter Ort zur Heilung und Erholung ausgesucht. Frische Bergluft und Sonnenlicht galten als wirksame Heilmittel gegen Tuberkulose. In den 1920er Jahren erkannte die Landesversicherungsanstalt Sachsen-Anhalt die heilende Wirkung dieses Ortes und beschloss, eine Heilstätte für tuberkulosekranke Kinder zu errichten.

 Sie wurden mit Spaziergängen oder Liegekuren auf den Balkonen des Kurhauses behandelt. Die Kinderheilstätte war ein Vorreiter in der Behandlung der Tuberkulose. Die umliegende Natur und die Architektur trugen synergistisch dazu bei, die Gesundheit der kleinen Patient*innen zu fördern.

Die Kinderheilstätte war nicht nur eine medizinische, sondern auch eine pädagogische Einrichtung. In einem ehemaligen Theatersaal fanden Aufführungen statt, die nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur seelischen Heilung beitrugen. Kleinere Theaterstücke von und mit den Patient*innen sollten diese unterhalten und begeistern.

Informationen des Robert Koch Instituts

Informationen der World Health Organisation

Verlassene Gänge.

Sanitäranlagen mit bunten Aufklebern.

Blick in den Theatersaal.

Heute sind die Räumlichkeiten feucht – Putz und Farbe platzen ab, hängen in Bahnen von der Decke. Einzelne Betten stehen verlassen in Schlafsälen. Allerdings: In einem Teamraum stehen Tische und Stühle, als wollten sich Ärzt*innen und Pfleger*innen hier gleich zu einer Besprechung zusammensetzen. 

Bis zu 150 Kinder und 150 Mitarbeiter*innen lebten auf dem parkähnlichen Gelände der Heilanstalt zusammen – im Haupthaus, in Ärzt*innenhäuser, in einer Chefärzt*innenvilla. Es gab zwei Isolierstationen und zwei Operationssäle für chirurgische Eingriffe. Dazu eine Gärtnerei – und ein Schulgebäude. Schließlich sollten die kleinen und großen Patient*innen während des Aufenthalts nicht den Anschluss an den Unterrichtsstoff verlieren. In einem Saal sollten Aufführungen und Theaterstücke die Heilanstaltsbewohner*innen unterhalten – und auch ihre seelische Gesundung fördern.

Noch heute prangt ein Kulissenbild hinter der Bühne. Auf dem Saalboden rosten Baustreben. An den Wänden lehnen Transparente mit Parolen aus der DDR: «Es lebe die Solidarität der Werktätigen aller Länder!» Ab 1991 sank die Zahl der Patient*innen mit Atemwegserkrankungen, das Krankenhaus schloss sieben Jahre später. Heute steht es unter Denkmalschutz.

Die Sonne neigt sich langsam gen Horizont und taucht die verlassene Heilanstalt in ein warmes Abendlicht. Eine geschwungene Treppe führt zu einem Aussichtsturm hinauf. Von oben fällt der Blick auf die Harzlandschaft. Schnee bedeckt Bäume, Hügel und Täler und verwandelt das Areal um die ehemalige Heilanstalt in eine glitzernde Winterwelt. Leise rauscht der Wind. Als wollte er die Geschichte der Heilanstalt erzählen. 


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