«Es war wirklich schön hier!» Gedanken zur Zeitlichkeit der Fotografie und was Roland Barthes wohl zu Nina Hagens Schlagerhit «Du hast den Farbfilm vergessen» sagen würde.
Das Lied «Du hast den Farbfilm vergessen» von Nina Hagen beklagt die Verwendung von Schwarz-Weiß-Film zum Festhalten der bunten Urlaubserinnerungen. In der Geschichte des Liedes wirft Nina ihrem Freund Michael vor, im gemeinsamen Hiddenseeurlaub keinen Farbfilm mitgenommen zu haben. Deshalb seien nun alle Fotos Schwarz-Weiß und somit unbrauchbar.
Warum im Urlaub fotografieren?
In unserer Gesellschaft trennen wir klar zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Eine gängige Methode, die Freizeit zu gestalten, besteht darin, Urlaub zu machen. Für einen begrenzten Zeitraum verlässt der Mensch seine vertraute Umgebung, um an einem mehr oder weniger fremden Ort neue Erfahrungen zu sammeln. Und in diesem Streben nach Erlebnissen darf die Kamera keinesfalls fehlen. Besonders in der heutigen Zeit, in der nahezu jede*r über mindestens eine Handykamera verfügt und die Möglichkeit besitzt, die aufgenommenen Bilder unmittelbar zu teilen, erscheint es befremdlich, rein zum Vergnügen zu reisen, ohne dabei Fotos festzuhalten. Die Fotografie avanciert zu einem bedeutsamen gesellschaftlichen Ritus, wie die Autorin Susan Sontag betont.
«Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war», wirft Nina im Lied ihrem Michael vor. Die Fotos sollten als unumstößlicher Beweis dafür dienen, dass die Reise angetreten wurde, dass Nina das Programm durchlaufen hat und dabei Freude empfand. Der Philosoph Roland Barthes wiederum beobachtete, dass mit dem Aufkommen der Fotografie ein Eindringen des Privaten in den öffentlichen Raum stattfand. Seit der Einführung der ersten Kodak-Kamera vor mehr als 100 Jahren wurde es für einen breiten Teil der Bevölkerung möglich, das private Leben eigenständig fotografisch zu dokumentieren und es anderen zu präsentieren.
«Fotografien dokumentieren Konsumakte, die außerhalb der Reichweite der Familie, der Freunde und der Nachbarn vollzogen werden», sagt Susan Sontag. Alles ist vergänglich – der Urlaub, die erfreulichen Augenblicke, das Leben selbst. Die Fotografie vermag es, einen flüchtigen Moment einzufangen und ihn in einem Bild festzuhalten. Diese Fähigkeit motiviert uns, die schönen Augenblicke zu fotografieren, um uns in der Zukunft an sie zu erinnern und immer wieder zu ihnen zurückzukehren.
Dennoch, so Barthes, schafft die Fotografie eigentlich eine Gegen-Erinnerung: wir neigen dazu, uns mehr an das Foto zu erinnern als an das eigentliche Erlebnis. Die Fotografie bewahrt den Moment, gleichzeitig scheint sie ihn jedoch zu neutralisieren.
Selbstdarstellung
Laut Roland Barthes weist eine Fotografie stets auf etwas Spezifisches hin, auf jene Personen, die präsentiert werden sollen. Die Fotografie fungiert als die zweite Natur ihres Referenten, ein ständiger Wechselgesang von Ausrufen wie «Seht her, schaut mal,» «Ich im Bikini, ich am FKK, ich im Mini, und hier ist auch eine Landschaft!» Die individuellen Fotos sind an diese klare Ausdrucksweise gebunden.
In den besagten Fotografien gerät die Landschaft in den Hintergrund. Für Nina steht vor allem die Darstellung ihrer eigenen Person im Vordergrund. Analog zum heutigen Instagramtourismus wird der bereiste Ort, den man fotografisch festhält, zu einer reinen Kulisse für die Selbstinszenierung des Individuums vor der Kamera.
Authentizität ist bei diesen Fotografien schier unmöglich. Nina ist sich des Fotografiertwerdens bewusst, ja, sie wünscht es, fotografiert zu werden, und nimmt deswegen eine bestimmte Pose ein. Sie kreiert somit eine Version ihrer selbst, die weniger ihr wahres Wesen repräsentiert als vielmehr eine inszenierte Maske darstellt.
Barthes beobachtete ebenso die Wirkung, die von einer auf ihn gerichteten Kamera ausging: «Leider bin ich durch die Fotografie dazu verdammt, immer einen Ausdruck zur Schau zu stellen.» Die Fotografie manifestiert sich als das Auftreten seiner selbst in der Gestalt eines Anderen. Vor der Kamera ist Nina gleichzeitig die Person, für die sie sich hält, die, die sie sein möchte, die, die der Fotograf Micha in ihr sieht, und die, deren Abbild er nutzt, um seine fotografischen Fertigkeiten zu präsentieren.
Studium und Punktum
Micha hat den Farbfilm vergessen und den Urlaub nur auf Schwarz-Weiß-Film festgehalten. «Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr», wirft Nina ihm vor.
Die Schönheit definierte sich für sie durch die Palette der Farben, welche sie nun auf den Fotos nicht darbieten kann – stattdessen erscheinen Abstufungen von Grautönen.
Als zeitliches Dokument können diese Aufnahmen dennoch dienen. Barthes, der eine Präferenz für Schwarz-Weiß-Fotografien hatte und Farben als eine künstliche Zugabe, eine Art Schminke betrachtete, differenzierte beim Betrachten von Fotos zwischen Studium und Punktum. Das Studium vermittelt kulturelle und soziale Bedeutungen des Bildes; der Betrachter kann durch sein Vorwissen entschlüsseln, was auf dem Bild zu sehen ist. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Micha belegen somit zweifelsohne: Nina war an diesem Ort, dort ist die Ostsee und dies repräsentiert die Mode von 1974.
Ein Punktum hingegen verankert sich nur in spezifischen Bildern – es ist dasjenige, das den individuellen Betrachter fasziniert und emotional berührt. Das Punktum ist von höchst subjektiver Natur, und für Nina hätten es die Farben sein sollen.
Zeitlichkeit als Punktum
«Was die Fotografie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: Sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können», schreibt Barthes. Der Urlaub ist vergangen, die Augenblicke am Hiddensee-Strand werden nie wiederkehren. Zwar könnten Nina und Micha erneut dorthin reisen, doch es wäre niemals dasselbe. Alles unterliegt der Vergänglichkeit – die Jugend, der Hiddenseeurlaub, die DDR. Nina verweilt zu Hause und durchstöbert die Fotos für ihr Album. Sie trifft die Entscheidung, welche flüchtigen Augenblicke sie bewahren möchte. Sie gesteht den Aufnahmen zumindest die Funktion des Studiums zu, als Zeitdokumente des Hiddenseeurlaubs von 1974, wenn auch nicht unbedingt als Abbilder von herausragender Schönheit.
Für Barthes konnte selbst die Zeit als ein Punktum dienen, als dasjenige, was ihn fesselt. Wenn er auf ein Foto des Bruders von Napoleon blickte und erstaunt bedachte, dass dessen Augen den Kaiser erblickt hatten, oder wenn er sich mit Gänsehaut angesichts eines Porträts des zum Tode Verurteilten Lewis Paynes fühlte, der zum Zeitpunkt der Porträtaufnahme zwar noch lebte, jedoch bereits dem Tod geweiht – und nun endgültig unter der Erde war, dann empfand Barthes eine durchdringende Erfahrung der Zeitlichkeit des Fotografischen.
Wahrscheinlich wird auch Nina irgendwann die alten Aufnahmen betrachten und feststellen, dass «es so gewesen ist». Mit Ausnahme der Grautöne natürlich. Die Farben existieren dann nur in ihrer Erinnerung und sind somit wahrhaftiger, als sie es auf jedem Farbfilm gewesen wären.
Über die Fotos in diesem Beitrag
Nico Baesecke verschmilzt in seiner Fotoarbeit die Sehnsuchtsorte deutscher Tourist*innen zu einem fiktiven Ort: dem Hotel Belvedere. Durch stark vergrößerte, briefmarkengroße Ausschnitte von Postkarten lädt er dazu ein, die kleinsten Details des Archivmaterials zu erforschen. So werden plötzlich Sonnenbrände, unbeobachtet wirkende Hotelgäste und kleine Notizen oder Markierungen der Postkartenschreiberinnen sichtbar. Postkarten aus Rimini, vom Gardasee und der Adria – bunte Fotocollagen aus den 1970er und 1980er Jahren – wurden tausendfach mit Grüßen aus «Bella Italia» nach Deutschland geschickt. Fast immer zu sehen: die Hotelanlagen der Urlauber*innen, mit blauem Himmel, Swimmingpool, leuchtend orangenen Sonnenschirmen und Plastikliegen.
Quellen
Hagen, Nina & Automobil: Du hast den Farbfilm vergessen, Text von Kurt Demmler, komponiert von Michael Heubach, 1974.
Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 2009, Original: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980.
Sontag, Susan: Über Fotografie, München/Wien 1978, Original: On Photography, New York 1977.