Warten auf den Krieg

Für seinen Bachelor-Abschluss reiste der Fotograf Patrick Slesiona nach Armenien. Das demokratische Land muss sich seit Jahren gegen sein autoritär geführtes Nachbarland Aserbaidschan verteidigen.

Es ist kurz nach Mitternacht, als das Spektakel beginnt. Einige Bewohner*innen und viele Tourist*innen glauben an diesem 13. September 2022 wohl zunächst, es handle sich um ein Feuerwerk. Ein Fest zu Ehren des südarmenischen Kurorts Jermuks vielleicht, in dem nach zwei Jahren Corona endlich wieder Hochbetrieb in den Hotels herrscht. So auch im Olympia-Sanatorium, einem mausgrauen Koloss mit 52 Zimmern. Dessen Besitzerin Kristina Ivanian hat eine andere Vermutung, die sich bald bestätigen wird: Das größere Nachbarland Aserbaidschan greift in dieser Nacht armenisches Staatsgebiet an. Neben Jermuk stehen auch andere Regionen im Grenzgebiet großflächig unter Beschuss.

«Viele Gäste haben mich gebeten, sie direkt zu evakuieren», erzählt Ivanian zwei Monate später. Doch das sei zu gefährlich gewesen. Die ganze Nacht hätten Angestellte und Gäste im Keller ausgeharrt, konnten erst am Morgen die Stadt verlassen. Nach zwei Tagen Eskalation schwiegen die Waffen wieder. Da waren rund 300 Menschen entlang der Grenze gestorben, der Großteil von ihnen Soldaten. 

Es ist dieselbe Zeit, in der Russlands Armee in der östlichen Ukraine ihre schwerste Niederlage hinnehmen muss. Und es ist nicht das erste mal, dass es zwischen Armenien und Aserbaidschan, den beiden Ländern auf dem Südkaukasus, zu einem bewaffneten Konflikt kommt. Bereits 2020, als die Welt in ihren ersten Corona-Herbst steuerte, brach ein Krieg in der umkämpten Region Bergkarabach aus. Doch dass der Konflikt auch armenisches Staatsgebiet erreicht – damit hatte im südarmenischen Kurort Jermuk oder in der Stadt Goris bis zu jener Nacht niemand gerechnet.

Seither ringen Russland, die USA und die Europäische Union um Vermittlung. Aber angesichts eines Gasdeals bezeichnet die EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Aserbaidschan als «vertrauensvollen Partner». Von der internationalen Gemeinschaft fühlen sich viele Menschen in Armenien allein gelassen. In den Bergen, nur fünf Kilometer vom Ortskern von Jermuk entfernt, sollen noch immer aserbaidschanische Truppen patrouillieren.

Seit den Angriffen im September 2022 ist das Leben in Jermuk ein anderes. Die meisten der etwa 6.000 Einwohner* innen sind zwar zurückgekehrt, die gröbsten Schäden beseitigt und viele Wellnesstempel wie das Olympia längst wieder geöffnet. Aber was dem Ort fehlt, sind: Tourist*innen, die in Frotteeschlappen schlüpfen, obwohl vor ihren Zimmerfenstern Militärlaster vorbeiknattern. Und das Urvertrauen in die Berge, in denen sich noch immer aserbaidschanische Truppen verschanzt haben sollen.

Armenien kämpft ums Überleben. Aufgeben und wegziehen wollen trotzdem nur die wenigsten.

Armenien, Jermuk 03.12.22

Wohnhaus im armenischen Kurort Jermuk.

Armenien, Jermuk, 03.12.22

Am 03.12.2022 bleibt der Schnee für einige Zeit liegen und Jugendliche aus dem Dorf Gndevaz vertreiben sich unweit des Jermuk Spa Resorts die Zeit mit Drifts in einem rostigen Lada.

Armenien 16.12.22

Eine Frau telefoniert im Wartebereich einer Raststätte zwischen der Hauptstadt Jerewan und Jermuk. Im Fernsehen läuft eine armenische Telenovela

Armenien, Jermuk, 03.12.22

Strommast und Wegweiser zu einem Restaurant in Jermuk.

Armenien, Jermuk, 16.12.22

Viktoria Gregorian arbeitet als Lehrerin in Jermuk. Geboren und aufgewachsen ist sie jedoch in Baku, Aserbaidschan. Sie lernte in der Sowjet-Union Deutsch und erinnert sich an eine Zeit, in der beide Völker friedlich nebeneinander lebten.

Armenien, Jerewan, 06.12.2022

Eine Demonstrantin wird von Polizisten abgeführt und für mehr als drei Stunden inhaftiert. Der Protest in der Hauptstadt Jerewan fordert, dass Varuzhan Avetisyan,  der inhaftieren Anführer der pro-westlichen National-Demokratischen Bewegung, aus dem Gefängnis in ein ziviles Krankenhaus verlegt wird. Varuzhan Avetisyans gesundheitliche Verfassung ist zu diesem Zeitpunkt kritisch.

Armenien, Goris, 12.12.22:

In der Stadt Goris und den umliegenden Dörfern bewohnten Menschen bis in die 1950er Jahre natürliche Höhlen in den Bergen. Später verließen sie diese, um Häuser in deren Nähe zu bauen, und nutzten die Höhlen weiterhin, entweder für ihre Tiere und die landwirtschaftliche Arbeit oder um im Sommer der Hitze zu entkommen. Doch im September 2022, als Goris, Verishen und viele weitere Gemeinden in der Region Syunik von Aserbaidschan beschossen wurden, flohen die Bewohner*innen in die Berge. Jetzt bauen sie, wie die Familie um Alina Minasyan und ihren 13-jährigen Sohn Hayk die Höhlen zu Luftschutzbunkern aus und legen Strom und Wasseranschlüsse an, um für den Fall eines weiteren Angriffs gerüstet zu sein.

Armenien, Goris, 11.12.22

Levon Arshakyan (25, im Bildzentrum) und seine Freunde treffen sich ein mal im Monat um abends gemeinsam zu grillen und mit selbstgebrannten Maulbeer-Vodka auf das Leben anzustoßen.

Armenien, Jerewan, 01.12.22

Menschen mit Beinamputationen körperlich und geistig zu einem erfüllten Leben zu verhelfen – das ist das Ziel der in Armenien ansässigen NGO Oqni – armenisch für «Hilf!».

Armenien, Jermuk, 04.12.22.

Kerzen und Gebet: Soldaten während des Gottesdienstes in der St.-Gayane-Kirche in Jermuk.

Armenien, Jermuk, 03.12.22

Maxim (23) arbeitet als Koch in Jermuk und gründete mit einer Gruppe von Freund*innen das Jugendzentrum «Dolphins», um aktiv das Bildungs– und Kulturangebot in der Kleinstadt zu verbessern. Insbesondere nach den jüngsten Angriffen wurde das Zentrum für viele ein Rückzugsort.

Armnien, Jermuk, 03.12.22:

Kristina Ivanian (38) ist Managerin des Olympia Sanatoriums und Jermuk Spa Resorts. Sie pflückt die einheimische Weißdorn-Beere.

Armenien, Jermuk, 03.12.22:

In der Nacht zum 13. September versorgte Kristina Ivanian  ihre Gäste in Schutzkellern und organisierte Evakuierungen aus der Stadt heraus. Bereits zwei Jahre zuvor half sie als Freiwillige während des 44-Tage Krieges in Berg-Karabach.

Armenien, Jermuk, 04.12.22:

Gäste des Jermuk Spa Resorts genießen die Ruhe bei der Kneip-Therapie. Die Hotel-Managerin Kristina Ivanian und ihr Personal quartierten in den Behandlungsräumen  ihre überraschten Gäste in der Nacht des Angriffs ein. Die Massagesessel und Sofas wurden kurzerhand in Feldbetten umfunktioniert, während man aus den Bergen lautes Dröhnen hören konnte sei und grelle Lichter in den Wäldern aufblitzten.

Armenien, Jermuk, 04.12.22

Die Natur hat Jermuk bis über die Grenzen Armeniens hinaus bekannt gemacht. Rings um die Stadt entspringen natürliche Mineralquellen.

Armenien, Jerewan, 26.11.22:

Viele Armenier*innen sind auf ihren Präsidenten Nikol Paschinjan wütend, der 2020 den Bedingungen für den von Russland vermittelten Waffenstillstand zugestimmt hatte – und sie sind es bis heute.

Der Konflikt

Seit mehr als einhundert Jahren streiten sich christliche Armenier und muslimische Aserbaidschaner um die mehrheitlich von ethnischen Armeniern besiedelte Region Bergkarabach. Viele Bewohner*innen des ab 1923 autonomen Teils der aserbaidschanischen Sowjetrepublik forderten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990 einen Anschluss an Armenien. Im Folgejahr erklärte sich Bergkarabach als Republik unabhängig, erhielt aber kaum internationale Anerkennung. Daraufhin begann 1992 ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, an dessen Ende weite Teil Bergkarabachs unter armenische Kontrolle gerieten. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben, Zehntausende getötet.

Fast dreißig Jahre später, im Jahr 2020 brachen erneut Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan aus. Dieses Mal behielt Aserbaidschan die Oberhand: Während des sechswöchigen Krieges mit mehr als 6.500 Todesopfern eroberte Aserbaidschan große Teile Bergkarabachs zurück. In einem von Russland vermittelten Waffenstillstand bekam Aserbaidschan darüber hinaus Gebiete um Karabach zugesprochen, die bis dahin unter armenischer Kontrolle standen. Viele Armenier*innen waren deshalb auf ihren Präsidenten Nikol Paschinjan wütend, der den Bedingungen zugestimmt hatte.

Als Aserbaidschan im September 2022 erstmalig das Staatsgebiet Armeniens angriff, stellte das eine Zäsur im Konflikt da. Jetzt droht der Konflikt erneut zu eskalieren. Diesmal war Armeniens Schutzmacht Russland zu sehr mit ihrem eigenen Angriffskrieg in der Ukraine beschäftigt, um eingreifen zu können.

Armenien, Jermuk, 04.12.22

Fernab der Wellnesstempel sind inmitten von Wohnblöcken voll behängte Wäscheleinen gespannt. An dieser Hauswand in Jermuk sind jedoch auch Zeichnungen von Kindern zu sehen, die Knallgeräusche und brennende Autos reflektieren.

Armenien, Jermuk, 09.12.22

An diesem Nachmittag schart sich eine Handvoll Jugendlicher vor den Computerbildschirmen und einem Beamer im Jugendzentrum. Aus den Lautsprechern dudelt englischer Pop.

Armenien, Verishen, 12.12.22

Arman Aretunjan (44) stammt aus dem Dorf Verishen in der Nähe von Goris. Er ist Landwirt und Vater von drei Söhnen. Während der Angriffe im September suchte seine Familie Zuflucht in einer der Berghöhlen am Rande des Dorfes.


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