«Für die Einheimischen ist Transnistrien real»
Der Fotograf Serghei Duve besucht regelmäßig seine Verwandten in Transnistrien. Wie leben junge Menschen in einem Staat ohne Anerkennung? Eine persönliche Spurensuche. Text: Anjou Vartmann und Michael Hinz
Die gestreifte und mit Blümchen verzierte Tapete im Haus von Oma Tamara erinnert an einen alten Schwarzweißfilm aus den 50er Jahren. Sie wirkt prunkvoll und edel, aber auch leicht verstaubt. Das Haus steht an einer kleinen Straße in Blijnii Hutor, am Rande von Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens. Das Nachbarhaus gehört der Tante. Die vertraute Umgebung, das altmodische Mobiliar und der Duft selbstgekochter Speisen umgeben das Haus. Ein Gefühl von Heimat breitet sich aus, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Der Fotograf Serghei Duve wurde in Chisinau, Moldawien, geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Seit seiner Kindheit reist die Familie nach Tiraspol, ins Haus der Großmutter Tamara. «Wenn ich an Zuhause denke, denke ich an das Haus meiner Oma», erinnert sich Serghei. Irgendwann nimmt er die Kamera mit und beginnt zu fotografieren.
Dabei wird ihm der Identitätskonflikt immer wieder bewusst. Bei Treffen mit den Freund*innen seines Cousins gibt es oft laute Diskussionen. «Was wollen wir werden? Wer wollen wir sein?» Die Generationsunterschiede in Transnistrien sind vielschichtig. Die ältere Generation ist stark von der Sowjetzeit geprägt und schätzt traditionelle Werte. Die meisten Jüngeren hingegen sind global orientiert und streben nach Veränderung und besseren Zukunftsperspektiven.
Transnistrien, offiziell bekannt als die Pridnestrowische Moldauische Republik, ist eine kleine Region in Osteuropa, die seit den frühen 1990er Jahren Gegenstand politischer Kontroversen ist. Gelegen zwischen der Ukraine und Moldau, erklärte Transnistrien nach dem Zerfall der Sowjetunion seine Unabhängigkeit von Moldau, was jedoch von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wurde. Diese Region ist berühmt für ihre komplexe politische Situation, ethnische Vielfalt und ihre Rolle als ein Gebiet, in dem die Spannungen zwischen Ost und West während des Kalten Krieges und darüber hinaus immer noch spürbar sind.
Fünf Fragen an Sabine von Löwis, Leiterin des Forschungsschwerpunkts «Konfliktdynamiken und Grenzregionen» am Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) in Berlin
Frau von Löwis, wie lässt sich die aktuelle politische Situation Transnistriens beschreiben?
Transnistrien ist ein De-Facto-Staat, der sich zu Beginn der 1990er Jahre in einem militärischen Konflikt von der heutigen Republik Moldau abspaltete. Transnistrien ist international nicht anerkannt und kann keine Beziehungen eingehen. Intern ist der Quasi-Staat organisiert wie anerkannte Staaten. Er hat einen gewählten Präsidenten, ein Parlament, Ministerien und eine Verwaltung.
Die Regierung wird indirekt von zwei Oligarchen der sogenannten Sheriff-Gruppe dominiert. Diese Gruppe hat seit Beginn der 1990er Jahre große Teile der transnistrischen Wirtschaft übernommen und kontrolliert das wirtschaftliche Geschehen in der Region.
Seit Jahren verhandeln Transnistrien und die Republik Moldau unter Beteiligung der OSZE, der EU, Russlands, der Ukraine und der USA über eine Lösung ihres Konflikts. Ziel ist, eine Reintegration der Region Transnistrien in die Republik Moldau zu erreichen. Die Verhandlungen ruhen derzeit – Russland und die Ukraine sind aktuell nicht an einen Tisch zu bringen.
Warum wandern so viele Transnistrier*innen aus?
Viele Bewohner*innen Transnistriens wandern zumindest zeitweise ab, weil die wirtschaftliche Lage problematisch ist. Die Gehälter sind niedrig und reichen kaum zum Leben. Auch wenn die Lebenshaltungskosten durch indirekt subventionierte Gaspreise insgesamt niedrig sind: Die Zukunftsperspektiven der Menschen sind nicht sehr rosig. Eigenständige Tätigkeit ist schwierig, da die wirtschaftliche Entwicklung überwiegend von der Sheriff-Gruppe kontrolliert wird.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die damit veränderte Situation in Transnistrien erschwert die Lage noch zusätzlich, da die Grenze zur Ukraine geschlossen wurde. Über diese Grenze hat viel Handel – auch informeller Handel – stattgefunden. Jetzt sieht es anders aus.
Weiterhin lebt Transnistrien von der Bereitstellung von Energie für die Republik Moldau. Moldau macht sich jedoch Schritt für Schritt von der Energieabhängigkeit der transnistrischen Region und von Russland frei.
Zudem haben vermutlich viele Sorge, dass der Krieg in der Ukraine auch auf Moldau übergreift; jedenfalls wurde diese Angst gelegentlich durch politische Äußerungen und auch Explosionen in Transnistrien geschürt.
Welche kulturellen und politischen Faktoren beeinflussen die Identität junger Menschen in Transnistrien?
Transnistrien ist offiziell dreisprachig – Rumänisch, Russisch und Ukrainisch. In der Praxis dominiert Russisch, was auch die Identitätsbildung durch Medienkonsum beeinflusst.
Transnistrien ist in vielerlei Hinsicht von Russland abhängig, das durch kostenlose Gaslieferungen, universitäre Abkommen sowie politische und militärische Unterstützung präsent ist.
Eine ZOiS-Umfrage 2020 ergab, dass 85 % der Transnistrier*innen zu Hause Russisch, 11,6 % Rumänisch und 2,1 % Ukrainisch sprechen. Bei der Muttersprache waren die Zahlen ähnlich.
Sprache ist jedoch nicht das alleinige Merkmal der Identität. Bei der Nationalität gaben 23,5 % moldauisch, 31,8 % ukrainisch und 34,6 % russisch an. Bei der Staatsangehörigkeit fühlten sich 64 % als Bürger*innen Transnistriens, 14,2 % als Moldauer und 15,7 % als Russen. Die junge Generation wurde bereits im Gebilde des De-Facto-Staats geboren und auch in Schule und Studium identitär geprägt.
Welche Auswirkungen hat der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine auf die Bevölkerung?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verschlechtert die ökonomische Situation für Transnistrien. Es besteht die Sorge, dass der Krieg auch Transnistrien und Moldau erreicht.
Das Haushaltsbudget des De-Facto-Staates schrumpft. Wenn langfristig vielleicht die kostenlosen Gaslieferungen aus Russland abgestellt werden, wird die Lage für die Menschen noch problematischer.
Ein kleiner Teil der Geflüchteten aus der Ukraine siedelt sich zudem auch in Transnistrien an. Diese werden aber nicht finanziell unterstützt, sondern erhalten Zuwendungen von internationalen Gebern.
Mit welchen Herausforderungen werden junge Menschen in Transnistrien in den kommenden Jahren konfrontiert?
Etliche verschiedene. Zum einen stellt sich die Frage, welche beruflichen Perspektiven junge Menschen in Transnistrien haben, welche Ausbildungschancen. Die derzeitige ökonomische Entwicklung der Region scheint wenig aussichtsreich. Grundsätzlich können Transnistrier*innen in Moldau und anderswo studieren. Finanziell ist dies aber sicher herausfordernd.
Gesellschaftlich ist Transnistrien durch ein repressives System geprägt, das heißt LGBTQI+-Gemeinschaften werden nicht unterstützt, sondern unterdrückt.