«Das Günther»: Gelebter Kontrollverlust

Sie kennen den Plan nicht – und brauchen ihn auch nicht. Porträt einer Band, die ihre Lieder live auf der Stage erfindet.
Von Isabel Reda (Fotos) und Raik Schache (Text)

Die Manege des Hafenklangs füllt sich langsam, mitten im Herzen des Hamburger Fischmarktes. Wenn sich der Blick durch die Fensterfront nach draußen verirrt, sieht man glatte Fassaden, die versuchen, wie die altgewohnten Speicher zu wirken, ergänzt durch leichten Schneeregen und einer abendlichen Leere auf den Straßen. Nach 19 Uhr ist es hier stockdunkel. Das Innere des Hafenklangs hingegen ist in ein warmes, rotes Licht getaucht, an den Wänden finden sich Sticker mit der Aufschrift «Still loving vinyl» und «Arte Ultras». An der Bar werden die ersten Getränke ausgegeben. Fünfzehn Minuten vor Beginn herrscht eine entspannte Stimmung im Backstage-Bereich, welcher heute ein zur Umkleide umfunktioniertes Büro des Schuppens ist.

Zwischen Kabeltrommeln, einem Tornister voll mit Getränkemarken und Plakaten ehemaliger Punk-Legenden an den Wänden beißt Albrecht, der Schlagzeuger von «Das Günther», in sein letztes Stück Pizza. Alex, das Gesangsorgan der Truppe, zieht sich eine Lage Kostüm über die andere, während Till, der Bassist des kleinen Chaos-Orchesters, die Bestellungen für eine letzte Runde an der Bar aufnimmt. Fünf Minuten vor Beginn, alle sind umgezogen und bereit loszulegen, fragt Alex die anderen beiden, wie sie heute die Show beginnen wollen.

Ein Porträt der Band «Das Günther», zu sehen sind link der Bassist Till, in der Mitte sitzt der Frontmensch Alex und rechts neben ihr befindet sich der Schlagzeuger Albrecht. Seit 2017 spielen die drei in einer Band, getragen wird ihre Musik von elektronischen Synthesizern, gepaart mit analoger instrumentaler Musik.

«Das Günther» tritt seit 2017 auf. Till (links) spielt Bass und Synthesizer, Alex (mitte) singt und Albrecht (rechts) spielt das Schlagzeug. Alle Bandmitglieder haben sich an der Musikhochschule Hannover, während ihres Musikstudiums kennengelernt.

Kein Konzept zu haben, weder damals noch heute – das ist ein Alleinstellungsmerkmal der drei Musiker*innen, die sich im Jazzstudium in Hannover kennengelernt haben. Die Band entstand als Spaßprojekt und nach den ersten Auftritten wusste noch keiner der Dreien, dass diese Konstellation langfristig existieren würde. Sie hatten lediglich Lust, etwas Neues auszuprobieren und zu jammen. Heute, sieben Jahre nach dem ersten Konzert, steht «Das Günther» bei seinen treuen Anhänger*innen für ein buntes Spektakel und will eine Projektionsfläche sein, welche sich auf viele Alter Egos in Deutschland bezieht, die man herkömmlich als ein bisschen problematisch und schwierig bezeichnen könnte. Konkret spielen sie in ihren Performances auf die patriarchalen Strukturen an, also schlecht gealterte weiße Männer, welche den Klimawandel leugnen und eine generell vorherrschende Abneigung gegenüber der Veränderung und der daraus resultierenden Vielfalt vertreten – um nur ein Beispiel zu nennen. Bei «Günthers» Namensvettern daheim gibt es halt jeden Tag Rotkohl mit Klößen und das darf auch so bleiben. 

Der Bassist Till von «Das Günther» steht in der Schleuse, die zwischen Backstage-Bereich und Bühne ist. Dort spielt er auf seinem Bass die letzten Akkorde vor dem Auftritt.

Der Bassist Till wartet im Backstage der Glocksee darauf, die Bühne zu betreten. Mehr als, dass er seine Finger warm spielt gibt es nicht als Vorbereitung.

Links im Bild ist Alex zu sehen, Frontmensch der Band «Das Günther», gekleidet in einem tragbaren Handtuch für Kinder. Albrecht kommt rechts ins Bild gelaufen. Er trägt eine pinke Polizeimütze nach amerikanischen Vorbild, ansonsten ist er nur mit einer schwarzen Lederweste und einer schwarzen Unterhose bekleidet.

Frontmensch Alex und Schlagzeuger Albrecht haben sich fertig umgezogen, jetzt heißt es Showtime. «Das Günther» ist bekannt für ihre ausgefallene Kostümierung.


Geldgeschäfte gesehen, Gentrifizierung, grausige Geschäfte, Günther gesehen, gut gewesen, getanzt.

In einem Kostüm, das dem eines oder einer Zirkusdirektor*in ähnelt, sind dies die ersten Worte, die Alex heute Abend an die bunt durchmischte Gesellschaft richtet. Der Anfang erinnert an einen Poetry Slam. Alex reiht unaufhörlich Wörter mit dem Anfangsbuchstaben «G» aneinander. Das ist eine Premiere, denn so haben sie noch nie ein Konzert begonnen – vermutlich haben sie noch nie ein Konzert gleich begonnen, denn «Wir proben nur live!», so Albrecht vor dem Auftritt. Langsam gesellen sich zu Alex, immer noch frei vor sich hin monologisierend, die Instrumente dazu und der Prolog verebbt. Die Traube von ungefähr 60 Menschen setzt sich in Bewegung. Mit ironischen Neuinterpretationen von Texten deutschsprachiger Ikonen, wie zum Beispiel «Hyper, Hyper, Heißer, Heißer, es wird immer heißer.», eine Anspielung auf «Hyper Hyper» von Scooter, oder «Lassen Sie mich Arzt, ich bin durch», ursprünglich Textfragmente aus dem Song «Brandenburg» von Rainald Grebe, unterstreichen sie die Intention ihrer Haltung und heizen der Meute ein.

«Das Günther» will anecken, Salz in die Wunde streuen, all das thematisieren, was die jungen Generationen heutzutage beschäftigt. Ihr Sujet ist angesiedelt irgendwo zwischen Nina Hagen und Kraftwerk – politisch, elektronisch und punkig. Sie liefern dem Publikum provokative Lyrics, getragen von einer synthetischen Melodie, im Takt zu analogen Instrumenten. Sie spielen nicht nur für das Publikum, sondern mit dem Publikum. «Und wenn die halt tanzen wollen, dann lässt man die halt tanzen. Daraus hat sich einfach entwickelt, dass wir immer weiter Dampf geben. Das Diktat des Tanzes.»

Während Albrecht bereits den zweiten Akt des Stückes mit seinem Schlagzeug einleitet, pellt sich Alex aus dem ersten Kostüm. Die Zirkusdirektor*in verwandelt sich in eine Diva. In einem Kleid aus Pailletten präsentiert sich die Künstler*in, es wird getanzt und performt – aus dem ersten Hut wird noch eine neue Kopfbedeckung gezaubert, während die Musik weiter anrollt. Es ist ein Barette, passend zum Kleid. Die Kostüme von Alex ermöglichen, dass die Künstler*in verschiedene Rollen einnehmen kann und der eigenen Kunstfigur ironisch gegenübertritt. Das färbt natürlich auf das Publikum ab; Alex schafft eine Atmosphäre, die sagt: «Hier darfst du dich frei entfalten.» Durch das Performative kontrastiert sich «Das Günther» beständig selbst. So singt Alex zum Beispiel: «Mutter Erde, Vater Staat, die Beziehung ist kaputt! Stürzt den Staat! Stürzt das Patriarchat!». Während dessen wird mit beinahe albernen Requisiten, die einer Kiste voll Weihnachtsdekoration entsprungen sein könnten, auf der Bühne und im vorderen Publikumsraum herumexperimentiert. So versprüht sich eine kindliche Leichtigkeit in der Luft. Wie es auch ein DJ im Club macht, lassen sie einen Song in den anderen überschwappen. Sie verweben Textfragmente mit immer neuen Beats, erfinden ihre Musik live auf der Bühne, passen sich dem jeweiligen Publikum an. So kann es natürlich vorkommen, dass hier und da eine Disharmonie entsteht. Aber genau dieser Mut zum Fehler macht das Spiel aus.

Ein weißes Spielzeugpferd wird im Zuschauerraum, von der Frontperson Alex, empor gehalten. «Das Günther» experimentiert auf seinen Konzerten mit vielen Requisiten.

Alex steht im Publikum und reckt ein weißes Mini-Pferd in die Luft – eines von wenigen Requisiten an diesem Abend.

Albrechts nackte Brustwarze ist mit einem Sticker in Regenbogenfarbe überklebt. «Das Günther» legt viel Wert auf ein sensibles Miteinander und äußert so Kritik gegen vorherschende patriachale Strukturen.

Es wird viel Haut auf der Bühne gezeigt. Dennoch ist den Bandenmitgliedern wichtig, dass auch die männliche Brustwarze ab geklebt wird, um auf die Zensur der weiblichen Brust aufmerksam zu machen.

Der Frontmensch von «Das Günther» hält in der rechten Hand eine braune Lederhandtasche, dazu trägt er einen grauen Mantel. Als besonderes Merkmal sticht eine Flosse hervor, welche beide Beine bedeckt.

Als Frontmensch schlüpft Alex immer wieder in neue Rollen und prägt damit den performativen Charakter der Band.


Es ist ja auch irgendwie ein Teil von Günther, über sich selbst zu stolpern und sich selbst aufzubrechen.

Und so stolpern sie heute Abend auch in den dritten und letzten Akt ihres Debütkonzertes im Hafenklang. Ein letzter Kostümwechsel, ein letztes Mal durchatmen und dann beginnen erneut die Instrumente. Die Geschwindigkeit hat über die letzten zwei Akte zugenommen, ebenso wie die Raumtemperatur im Hafenklang. Das rote, warme Licht und die Lust am Tanzen erreicht jetzt auch die letzten steifen Gliedmaßen. Getragen wird diese Stimmung von schnellen Kicks, dem rhythmischen Geschrei von Alex im 90er Jahre Aerobic-Anzug und synthetischen Klängen. Es wird elektronischer, schneller und verrückter. Alex verliert sich in der Performance, geigelt mit einem kleinen Keyboard herum, spielt es mit der Nasenspitze, bevor sich die Künstler*in das Instrument vollends auf den Kopf setzt, um die Tasten mit der Schädeldecke zu massieren.

Wer bei dieser Band eine Stringenz sucht, der wird sie vermutlich nie finden, nicht im Spiel, aber auch nicht im «Wie?» oder im «Wo?». Neben den herkömmlichen Konzerten in bekannten Locations und auf Festivals finden sich die drei auch auf Line-Ups von elektronischen Musikveranstaltungen wieder. Sie spielten bereits um 7 Uhr morgens das Closing im ehemaligen MJUT, einem der bekanntesten Clubs Leipzigs, bereicherten das Partywochenende Berlins mit einem Auftritt im Club Sisyphos oder standen zur begehrtesten Spielzeit eines jeden DJs, um zwei Uhr nachts, auf der Bühne der Indiego Glocksee in Hannover – natürlich auf einer Techno-Veranstaltung. In solchen Settings müssen die drei Musikerinnen direkt mit Volldampf anfangen. Das Publikum ist meistens schon komplett dem Lauf der Musik verfallen und der Bruch, dass hier und jetzt eine Band mit realen Instrumenten steht, soll Bruch genug sein. In einer herkömmlichen Clubnacht steht das tanzende Individuum im Vordergrund, das sich loslösen, fallen lassen und den Bass fühlen will. Bei einer hohen BPM-Anzahl strebt man im Normalfall in Richtung der Plattenspieler, wo die Musik aufgelegt wird, welche sich oft keinerlei Lyrics bedient. Aber wie passt in solch ein Setting das Konzept von «Das Günther»?

Bandmitglieder von Das Günther beim Soundcheck in der Glocksee

«Das Günther» beim Soundcheck in der Glocksee. An diesem Abend spielen sie als Secret-Act auf einer Techno-Party.

Die Bühne ist bestückt mit Blumen, Pflanzen und einem großen Spielzeugelefanten. Sie erinnert mehr an eine Theater- als eine Konzertbühne.

Ein Konzert von «Das Günther» fühlt sich etappenweise eher nach einem Theaterstück an, als nach einer herkömmlichen Musikperformance.

Mit einer überdimensionierten neongrünen Brille sitzt Alex, das Gesangsorgan von «Das Günther» vor uns und blickt in die Kamera.

Umso später der Abend wird, desto wilder und unkonventioneller werden die Performances von «Das Günther».


Party! Party! Depri! Depri! Für die einen braucht es nach Günther eine Therapie, für die anderen ist Günther die Therapie. Günther führt wie ein schäbiger Clown nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst an der Nase herum. Günther ist Punk, Clown und Mutti zugleich.

Albrecht antwortet darauf scherzhaft: «Meistens haben die ja noch einen anderen Floor, wo sie hingehen können.» Aber vor allem soll ihre Performance immer einen umarmenden Charakter haben und deshalb ist in solchen Kontexten das Schnelle, das Tanzbare und das Empowernde besonders wichtig. Es soll Spaß machen und die Leute nicht aus ihrem Fluss holen. «Gleichzeitig darf es auch kurzweilig mit dem Hedonismus brechen, wobei es aber dennoch hedonistisch ist, aber mit ein bisschen mehr Inhalt eben.» Außerdem sind Clubs mittlerweile viel mehr als nur hedonistische Räume. Um es in den Worten von DJ Gigola aus ihrem Podcast «Our House, Clubs und ihre Geschichten» zu sagen: «Clubs sind Treffpunkte, Freiräume, Safer Spaces, Nährböden für Kreativität, Orte des Widerstands, gelebte Utopien.» Und eigentlich ist das alles, was auch «Das Günther» in ihren künstlerischen Darbietungen lebt. Sie sind stets mit einer kompromisslosen großen Schnauze unterwegs, bieten schrille Performances und laden dich ein, Teil ihrer kleinen Familie zu sein.

Und so geht auch dieser Abend im Hafenklang einmal vorbei, nach fast 120 Minuten Ekstase, auf und vor der Bühne. Und zum Abschluss gibt es nur noch eine Frage: Wie würde Günthers Mutter ihr Kind in eigenen Worten beschreiben?

«Party! Party! Depri! Depri! Für die einen braucht es nach Günther eine Therapie, für die anderen ist Günther die Therapie. Günther führt wie ein schäbiger Clown nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst an der Nase herum. Günther ist Punk, Clown und Mutti zugleich.»


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