«Die Taliban ändern sich nicht durch Sanktionen»
Julian Busch lebte nach der Machtübernahme der Taliban monatelang als einziger deutscher Journalist in Afghanistan. Ein Gespräch über historische Umbrüche in einem zerrütteten Land. Von Jannis Schubert (Interview) und Julian Busch (Fotos)
Der Abzug westlicher Truppen und die erneute Machtübernahme der Taliban beeinträchtigen große Teile der afghanischen Bevölkerung. Die internationalen Sanktionen gegen die Taliban und das Einfrieren der afghanischen Währungsreserven im Ausland verstärken die bereits bestehende Wirtschaftskrise. Die Mittelschicht ist größtenteils in die Armut abgerutscht, Millionen Afghan*innen haben das Land verlassen. Einer Studie der Vereinten Nationen zufolge leben mehr als 95 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut.
Gleichzeitig werden die neuen Regeln und Gesetze immer restriktiver. Vor allem Mädchen und Frauen leiden unter den neuen Machthabern, sie dürfen die Schule nur noch bis zur 7. Klasse besuchen. Und doch herrscht für einen Großteil der Bevölkerung in Afghanistan Frieden. Für viele Menschen – besonders in ländlichen Regionen – ist das der erste Frieden seit knapp 40 Jahren. Während das Interesse der internationalen Medien schwindet, bleibt die Zukunft des Landes ungewiss.
Von Ende 2021 bis Frühjahr 2022 lebte und arbeitete Julian Busch als einziger deutscher Journalist in Afghanistan.
Was fasziniert Dich an Afghanistan?
Afghanistan ist ein sehr intensives und facettenreiches Land, das einen schnell in seinen Bann ziehen kann. Ich bin nach dem Sturz der alten Regierung einige Wochen durch das Land gereist und habe schnell gemerkt, dass die kurze Zeit nicht ausreicht, um tiefer einzutauchen. Unsere Bekanntschaften waren so vielfältig wie die Landschaften, von kargen, wunderschönen Berglandschaften über grüne Wälder bis hin zur endlosen Steppe und Wüste. Afghanistan lebt von seinen Gegensätzen und Kontrasten, es gibt eine große Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Menschen, aber auch Neid und Missgunst. Vierzig Jahre Krieg haben die Gesellschaft massiv geprägt. Ich wollte mehr verstehen und bin geblieben.
Wie konntest Du als Europäer dort einfach leben und sogar journalistisch arbeiten?
Ich habe in Kabul in einem Mehrfamilienhaus mit großem Garten gewohnt und ganz normal mit einer Genehmigung der Taliban gearbeitet. Nach dem Ende des Krieges hatte sich die Sicherheitslage in Kabul schnell verbessert, auch wenn es anfangs noch viele Anschläge gab.
Im Land war ich immer mit zwei verschiedenen Übersetzern und Stringern unterwegs. Als Stringer bezeichnen wir Journalisten die Leute, die uns auf unseren Reisen begleiten. Sie beurteilen die Sicherheitslage, sind im Land gut vernetzt und kennen die regionalen kulturellen Gepflogenheiten. Sie bestimmen den Verlauf der Recherchen wesentlich mit und wissen, wie man in heiklen Situationen mit den Taliban verhandelt. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht, daraus sind tiefe Freundschaften entstanden.
Wie hast du als westlicher Journalist die Arbeit unter den Taliban erlebt?
Man braucht eine Arbeitserlaubnis vom afghanischen Außenministerium, aber dann ist man ganz offiziell akkreditiert und kann normal arbeiten – auch wenn man für viele Dinge, wie zum Beispiel den Besuch verschiedener Provinzen, eine Sondergenehmigung braucht. Am Anfang war es sehr einfach, wir sind oft tagelang ohne Probleme durch viele Teile des Landes gefahren. Mittlerweile lassen die Taliban jedoch kaum noch ausländische Journalisten zu, es ist schwer geworden überhaupt ins Land zu kommen.
Unsere Begegnungen mit den Taliban vor Ort waren sehr unterschiedlich: Viele empfingen uns mit offenen Armen, stellten uns an den Checkpoints und örtlichen Ministerien neugierige Fragen und luden uns zum Tee oder Essen ein. Andere hielten uns für Stunden fest, richteten ihre Gewehre auf uns, gingen mit Knüppeln auf uns los, wenn wir etwa die Proteste afghanischer Aktivistinnen begleiteten.
Ich hatte natürlich ein massives Privileg und konnte viele Sachen machen, die afghanische Kollegen und Kolleginnen verwehrt bleiben. Sie werden massiv von den Taliban unterdrückt. Es gibt keine Pressefreiheit in Afghanistan und es ist beinahe unmöglich für afghanische Medien geworden, unabhängig zu arbeiten. Ich dagegen konnte jederzeit das Land verlassen. Ich glaube, gerade als Journalist aus einem westlichen Land muss man sich dessen immer bewusst sein
Unterscheidet sich der afghanische Alltag denn wirklich so stark von unseren Vorurteilen und Klischees?
Der Alltag ist geprägt von der restriktiven Politik der Taliban und der Wirtschaftskrise. Das Land gehört heute zu den restriktivsten für Frauen und Mädchen weltweit, die Situation hat sich seit der Machtübernahme 2021 rapide verschlechtert. Aber natürlich hängt es auch stark davon ab, wo man sich im Land aufhält.
Was viele Besucher*innen übersehen, die sich oft nur in Kabul und den größeren Städten aufhalten: Für viele Afghaninnen und Afghanen herrscht zum ersten Mal seit über 40 Jahren Frieden. Gerade in den ländlichen Regionen des Landes, vor allem im Süden, haben die Menschen unter den ständigen Kämpfen und dem korrupten System der Vorgängerregierung gelitten. Es gibt eine starke Resignation innerhalb der Bevölkerung, die letztlich auch zu einer Akzeptanz der neuen Machthaber geführt hat.
Es mag paradox klingen, aber die Geschichte meines Übersetzers, dessen Schwestern heute ihre Ausbildung aufgrund der Taliban nicht mehr abschließen können, ist eine andere als die eines Bauern. Dessen Kinder können jetzt vielleicht das erste Mal ohne Gefahr die Grundschule besuchen.
Was könnte die internationale Gemeinschaft für Afghanistan tun?
Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft lernen muss, sich langfristig mit den Taliban zu arrangieren und nach Wegen zu suchen, wie sie der Bevölkerung langfristig helfen kann. Das Land befindet sich nach wie vor in einer der größten humanitären Krisen der Welt. Die Taliban wollen nach wie vor eine internationale Anerkennung ihrer Regierung und die Rückkehr in die Vereinten Nationen. Aber die Taliban werden sich nicht ändern, nur weil wir sie von außen isolieren oder mit Sanktionen belegen. Wir sollten weiter auf die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Werten drängen, aber dieser Dialog kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Vorher sollten wir Wege finden, der Bevölkerung zu helfen.