Ein Abend im Kuschelraum

Fremde treffen sich zum Kuscheln – ohne Erotik, mit klaren Regeln. Ein Besuch in Hamburg zeigt, wie ungewohnt Nähe sein kann. Von Jana Junker

Gruppe von Menschen die Kuscheln / im Vordergrund zwei Menschen bei der der Mann die Frau im Arm hält / alle sind im Moment

Vor ein paar Jahren hat mich ein Freund spontan auf einen Kuschelabend mitgeschleppt. Ja, genau das: Ein Abend voller Umarmungen und Berührungen mit wildfremden Menschen. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz. Jemandem, den ich nicht kenne, so schnell so nah zu sein, fühlte sich ungefähr so entspannt an wie ein Zahnarztbesuch. Aber während ich etwas verkrampft zwischen zwei Frauen lag, konnte ich nicht übersehen, wie glücklich und entspannt die Anderen für mich aussahen. Und die Aussage einer Teilnehmerin blieb mir besonders im Gedächtnis: «Berührung und Nähe geben mir unglaublich viel Kraft für all die Widrigkeiten in meinem Leben. Das hält mich über Wasser.»
 
Irgendwie hinterließ dieser Abend Eindruck auf mich. Denn vielleicht steckt da doch mehr dahinter, als ich damals dachte. Manchmal sind es die kleinen Dinge, oder in diesem Fall die warmen, knuddeligen Momente, die uns helfen, durch den Alltag zu navigieren. Also begab ich mich auf Spurensuche.


Berührung und Nähe geben mir unglaublich viel Kraft für all die Widrigkeiten in meinem Leben. Das hält mich über Wasser.

eine Menschengruppe die kuschelt / Stimmung wirkt sehr fröhlich Hamburg, Januar 2025

Teilnehmer*innen berichten, dass sie sich nach einem Kuschelevent entspannter und ausgeglichener fühlen.

Rebecca Böhme, Neurowissenschaftlerin und Autorin des Buches «Human Touch», betont die essenzielle Bedeutung von Berührungen für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Berührungen sind laut Böhme kein Luxus, sondern lebenswichtig. Sie beeinflussen Entscheidungen, fördern den Zugang zu Emotionen und unterstützen das innere Gleichgewicht. Bereits Neugeborene profitieren von Hautkontakt, da dieser ihre emotionale Entwicklung anregt. Auch im Alter bleibt Berührung ein wichtiger Faktor für die Gesundheit, da regelmäßiger Kontakt das Leben verlängern und die Genesung unterstützen kann. Dann kommt die Zusage von Aske und Lorenz, dass ich einen Kuschelabend mit meiner Kamera begleiten darf. Die Beiden leiten den Kuschelraum in Hamburg. Dort werden verschiedene Workshops und Events zum Thema Berührung angeboten. Die Vorfreude ist groß und schließlich beginnt das kleine Abenteuer.

Die große Altbauwohnung, ganz in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs, empfängt ihre Besucher mit einer fast schon filmreifen Gemütlichkeit: hohe Decken, indirektes Licht und eine Einrichtung, bei der jedes Detail zu sagen scheint: «Bleib doch ein bisschen und fühl dich einfach wohl.» Antike Holzmöbel, viele Bilder an den Wänden, breite Dielenbretter. Im Kuschelraum liegen Matratzen mit grünen Bezügen, akkurat arrangiert, darauf Kissen und Decken. Ein angenehmer Duft, den ich nicht wirklich einordnen kann, durchzieht den Raum. Gegenüber der Tür steht ein großes schweres Sofa vor einer floral gemusterten Wand. 

zwei Menschen die kuscheln / halten sich im Arm / wirkt vertraut / genießen den Moment Hamburg, Januar 2025

Regelmäßiges Kuscheln kann das Selbstwertgefühl und Wohlbefinden steigern.

Nahaufnahmen von Beinen / eine Gruppe kuschelt Hamburg, Januar 2025

Kuschelclubs sind in den letzten Jahren immer populärer geworden – vor allem in Großstädten.

Nach und nach treffen die 12 Teilnehmer*innen ein, in bequemen Wohlfühl-Klamotten. Jogginghosen, ein weicher Ganzkörperanzug und dehnbare Oberteile bestimmen das Bild. Einige scheinen sich noch etwas zu orientieren. Die ersten Gespräche entwickeln sich jedoch schnell, sind teilweise aber noch zurückhaltend, eher wie das Aufwärmen eines Orchesters, hier und da ein paar Töne, die bald zu einem harmonischen Klang werden. «Boah, ich bin echt aufgeregt», höre ich aus dem Flur. Ich auch, denke ich, ich auch. Nach der Begrüßung folgt eine Vorstellungsrunde im großen Kreis. Einige sind das erste Mal im Kuschelraum dabei, andere kennen sich bereits. Jede*r beschreibt kurz die eigene Stimmung. Anschließend werden die Regeln und vorbereitenden Übungen erklärt, mit deren Hilfe die eigenen Grenzen und die der anderen geachtet und respektiert werden sollen.


Wenn ihr merkt, dass ihr sexuell erregt seid, ist es wichtig, achtsam zu reagieren.

Eine Übung geht so: Im Raum umhergehen, Blickkontakt mit einer Person aufnehmen und fragen, ob man die Person umarmen darf. Interessanterweise soll jede Person in dieser Übung bewusst dreimal ablehnen, um das Nein-Sagen zu üben. «Wenn es sich wie ein Vielleicht anfühlt, ist es ein Nein», lautet eine Regel. Eine andere besagt, dass Berührungen im Intimbereich untersagt sind. Als ich mich gerade frage, was eigentlich passiert, wenn plötzlich Sexualität ins Spiel kommt, sagt Lorenz: «Wenn ihr merkt, dass ihr sexuell erregt seid, ist es wichtig, achtsam zu reagieren.» Zieht euch dann bitte aus der Situation zurück. So bewahren wir den respektvollen Rahmen.»

Eine Teilnehmerin äußert ihre Sorge, sich wieder abgelehnt zu fühlen. «Das tat mir weh und ich habe Angst, dass es jetzt wieder so sein wird.» Aske spricht klare Worte: «Wir sind nicht hier, um den Anderen einen Gefallen zu tun. Wir sind für uns selber hier, sorgen bitte nur für uns selbst. Und nichts muss. Es gibt hier keinen Kuschelzwang.» Mit der Zeit werden die Bewegungen flüssiger, die Interaktionen sicherer. Der Raum entwickelt für mich eine spürbare Dynamik, geprägt von Respekt und Offenheit. Was anfangs zurückhaltend wirkte, sieht zunehmend natürlicher aus. Ab und an ist ein Lachen oder Kichern zu hören. 

eine Frau liegt auf dem Rücken mit geschlossenen Augen / drei Hände berühren ihr Gesicht und massieren dieses / die Stimmung wirkt sehr harmonisch / die Person entspannt sich Hamburg, Januar 2025

Besonders für Menschen, die wenig körperliche Nähe im Alltag erfahren, bieten Kuschelevents eine Möglichkeit, Berührung in einem respektvollen Umfeld zu erleben.

Die Neurowissenschaftlerin Böhme erklärt in ihrem Buch auch, dass Berührungen in Freundschaften und Beziehungen eine tiefere Bindung schaffen, indem sie das Bindungshormon Oxytocin freisetzen. Dieses sorgt für Nähe und Vertrauen. Bei der Person, die berührt, ebenso wie bei der, die berührt wird. Ein Mangel an Berührung kann hingegen negative psychische und körperliche Folgen haben. Irgendwann beginnt dann das freie Kuscheln. Aske und Lorenz sind ebenfalls mittendrin. Jede Berührung wird vorher erfragt. Manche beginnen mit einer zaghaften Umarmung, andere sitzen einfach nebeneinander, während sich nach und nach kleine Gruppen bilden. Es entsteht ein leises, fast meditatives Murmeln im Raum, unterbrochen von gelegentlichen Fragen wie: «Darf ich deine Hand halten?« oder «Ist es okay, wenn ich mich an dich lehne?» Und gar nicht so selten höre ich auch ein Nein.


Ein Mangel an Berührung kann negative psychische und körperliche Folgen haben.

Rebecca Böhme

Die Atmosphäre bleibt dabei ruhig. Ich habe den Eindruck, dass sich niemand aufdrängt. Einige scheinen regelrecht in sich zu versinken, die Augen geschlossen, während sie eine Hand auf ihrem Körper spüren oder selber Andere berühren, mit jemandem Rücken an Rücken, oder eng umschlungen liegen. Andere suchen das Gespräch und verbinden ihre leisen Worte mit sanften Gesten, wie ein lockerer Austausch auf einer neuen, wortlosen Ebene. Ein Teilnehmer sitzt für sich etwas abseits und schaut einfach zu. Als ihn jemand fragt, ob alles gut sei, antwortet er: «Ich fühle mich gerade nicht danach mitzukuscheln. Zudem merke ich, dass ich ein Problem damit habe, auf diese Weise Männern näher zu kommen. Aber mir geht es hier sehr gut.» 

Immer wieder lösen sich Gruppen auf und bilden sich neu. Wer eine Pause braucht, zieht sich einfach zurück, oder legt sich etwas abseits auf eine der Matratzen. Das gedämpfte Licht und die weiche Musik im Hintergrund tragen dazu bei, dass der Raum fast wie eine Insel wirkt, abgeschirmt vom Rest der Welt. So vergeht die Zeit fast unmerklich. Und als es dem Ende zugeht, ich mich hinsetze und die Kamera sinken lasse, kommt von der Seite eine zaghafte Frage: «Möchte die Fotografin auch einmal gekuschelt werden?» Ich spüre in mich hinein und sage: «Ja, total gerne.» Und so lege ich mich in weiche warme Arme. Eigentlich ist mir der Körper, der mich hält, fremd, doch ich kann loslassen. Ich versinke förmlich. Es ist ein ganz wunderbares Gefühl. Im Alltag habe ich meine Liebsten mit vielen Kuscheleinheiten um mich herum, doch diese Begegnung ist anders. Es berührt mich zutiefst, dass es möglich ist, in so kurzer Zeit mit einer mir fremden Person menschliche und vertraute Wärme auszutauschen. So nah. So zugewandt.

im Bild sind ingesamt vier Menschen / im Vordergrund liegt eine Frau auf dem Rücken / auf ihrem Bauch ein Mann / sie kuscheln / von rechts oben sieht man eine Hand die auf den Kopf gelegt ist / im Hintergrund liegt eine Frau auf dem Bauch / die Stimmung des gesamten Bildes ist sehr harmonisch / alle sehen entspannt aus Hamburg, Januar 2025

Neben Kuschelclubs gibt es auch professionelle Kuscheltherapeutinnen und Kuscheltherapeuten, die individuelle Sitzungen anbieten.

Hamburg, Januar 2025

Jede Berührung wird vorher erfragt. Manche beginnen mit einer zaghaften Umarmung, andere sitzen einfach nebeneinander

Und dann ist der Kuschelabend vorbei. «Ich möchte gar nicht raus. Viel lieber möchte ich jetzt weiter eine menschliche Teekanne zwischen euch sein», höre ich von der Seite, während wir uns die Schuhe anziehen. Die Aussage erntet Lachen und Zustimmung. Und dann gehen alle wieder ihrer Wege. Drinnen war die Welt warm und voller Geborgenheit. Draußen trifft mich die kalte, raue Wirklichkeit, die hektisch pulsiert.

Kuscheln ist viel mehr als eine nette Geste. Es ist eine Art, sich zu öffnen, Ängste abzulegen und echte Verbundenheit zu erleben. Und was soll ich sagen? Mein breites Grinsen ist auf dem Nachhauseweg sicherlich nicht zu übersehen – trotz der gehetzten Realität um mich herum.


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