Fischers Fritzin
Es geht nur um ein Stadtfest im Allgäu – und doch um mehr: Darf eine einzelne Frau eine 425 Jahre alte Männertradition zerstören? Ja, sagt ein Gericht. Nein, sagen viele Einwohner von Memmingen. Von Anna Scheld (Text) und Anton Vester (Fotos)
Memmingen liegt in Oberschwaben, zwischen Allgäu und München. Eine schmucke Altstadt, Kopfsteinpflaster, Fassaden in Pastelltönen. Der Marktplatz strahlt im Mittelalter-Look, die Zeit vergeht hier langsamer als anderswo. Immerhin: Die kleine Stadt hat vor ihren altertümlichen Toren einen internationalen Airport. Ryanair nannte den Flughafen mit seinen sieben Gates großspurig «München West», von dem in guten Zeiten bis zu 1,7 Millionen Urlauber im Jahr nach Mallorca oder Alicante abhoben. Aber das ist Vergangenheit. Vor Corona, vor der Spritpreis-Krise, schlimme Zeit heute. Nichts mehr wie früher.
Jetzt darf sogar eine Frau in den Stadtbach springen. Die Welt, sagen einige Memminger Männer, geht den Bach hinunter, und schuld daran ist auch Christiane Renz. Noch vier Wochen. Christiane Renz sitzt in einem Café in der Memminger Fußgängerzone und beschwert sich bei der Bedienung über die Sahne auf ihrer Eisschokolade. Sie sei nicht süß genug. Nicht weit von ihrem Schokobecher fließt der Stadtbach, die Memminger Ach, eher Rinnsal als Fluss. Aber der Stadtbach hat es in sich: Einmal im Jahr springen mehr als 1000 Memminger in das Gewässer, um zu versuchen, die dickste Forelle des Jahres zu fangen. Diesen Satz muss man nicht gendern, denn nur Männer dürfen am traditionellen «Fischertag» um den Thron kämpfen — also darum, Fischerkönig zu sein.
Durften, muss es richtig heißen. Denn das Landgericht Memmingen hat 2021 ein Urteil gesprochen: Zum ersten Mal seit 425 Jahren soll nun auch eine Frau in den Bach springen dürfen oder, wie sie hier sagen, «neijucken». Christiane Renz hat sich per Gerichtsurteil zu einer Party eingeladen, bei der sie ausdrücklich ausgeladen war.
Noch drei Tage bis zum Tag der Tage. Christiane Renz spaziert am Stadtbach entlang zum Marktplatz. Dort, in einer ehemaligen Apotheke, hat die «Feministische Aktionsgruppe» ihre Räume. Dem alten Schriftzug über dem Eingang hat die Gruppe zwei Pünktchen verpasst. «Möhrenapotheke» steht jetzt da. Renz will ihr T-Shirt für den Fischertag abholen, die Aktionsgruppe hat gleich mehrere davon bestellt. «Equality hurts no one» ist darauf gedruckt, was auf Schwäbisch übersetzt ungefähr heißt: «Gleichheit duat koim wea.»
Empfangen wird Renz von Selina. Blaue Haare, Nasenring, heisere Stimme. Ihre Finger sind übersät mit bunten Farbtupfern, bis eben hat sie Plakate bemalt. Natürlich könnte sie nach Hamburg ziehen, nach St. Pauli, ins Epizentrum der linken Szene. Aber was passiert dann mit ihrer Heimat? «Wenn wir gehen würden», sagt sie, «wäre Memmingen ein konservatives Loch, in dem sich nichts bewegt.»
Für Memmingen ist der Fischertag das höchste Fest im Jahr. Wichtiger als Weihnachten. Das Ausfischen des Stadtbachs im Sommer ist ein Brauch, der sich aus dem Mittelalter durch die Jahrhunderte bis ins Heute schlängelt. Fischerkönig wird, wer den schwersten Fisch erwischt. Eine Wer-hat-den-Größten-Tradition, organisiert vom Fischertagsverein, dem mächtigsten Verein der Stadt mit 4300 Mitgliedern. Fragt man sie, was ihnen das Fest und der Verein bedeuten, leuchten die Augen. Verträumter Blick in die Ferne, Suche nach Worten. Meistens reicht für die Antwort ein einziges Wort: «Heimat».
Frauen dürfen Mitglied im Verein sein. Doch am Tag der Tage stehen sie am Rand als Kübelweiber, wachen über die Forellen, die ihre Männer ihnen aus dem Bach in die Eimer reichen. Sie dürfen nicht mitfischen. So bestimmten es bisher die Vereinsstatuten.
Christiane Renz war um die 20, als sie Anfang der 80er Jahre in den Verein eintrat. Eine junge Frau, aufgewachsen in der Illusion von Gleichheit. Auf der Mädchenschule, die sie besuchte, machten die Lehrer keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, denn es gab ja keine Jungs. Ihren Aha-Moment hatte sie mit 15, als sie den Roman «Die Töchter Egalias» der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg von einer Freundin auslieh. Sie las und las und tauchte ab in eine fiktive Welt, in der Frauen keine BHs tragen, stattdessen tragen Männer PHs. Das Verb «herrschen» gibt es nicht, es heißt «frauschen». Eine Utopie, in der die Geschlechterrollen komplett verdreht sind. Ab diesem Moment, sagt Renz, habe sie keine Erklärung mehr stehen lassen und alles hinterfragt. Auch den Fischertag.
Während Renz in der «Möhrenapotheke» ihr T-Shirt auspackt, sitzt ein paar hundert Meter weiter Werner Eberhardt in seiner Werkstatt und prophezeit: «Alle werden sie auslachen, wenn sie nichts fängt.» Er hat sein Amt im Fischertagsverein zurückgegeben, als klar war: Christiane Renz darf mitfischen. Schon sein Großvater war im Verein, sein Vater ebenso. «Das konnte man bestimmt seismographisch messen», sagt er und zeigt schräg hinter sich aus dem Fenster in Richtung Friedhof, «wie sich mein Großvater im Grab umgedreht hat, als die Satzung geändert wurde.»
Wo die Toten im Grab rotieren, zerreißt es erst recht die Lebendigen. Nichts ist mehr heilig, nichts mehr sicher vor dem Zerfall der guten alten Sitten. «Früher», sagt Eberhardt, und seine Stimme klingt jetzt halb erregt, halb drohend, «da haben wir die Fische noch am Bachgeländer bewusstlos geschlagen, zehn Stück nacheinander in den Eimer, zack, zack, zack.» Heute müssen etliche Sicherheitsauflagen erfüllt werden, die gefangenen Forellen werden unter den Augen von Tierärzten in einem Zelt fachmännisch mit einem Stich ins Herz getötet. So weit ist es gekommen.
«Und jetzt darf auch noch eine Frau mitfischen.» Eberhardt schüttelt den Kopf. Sein Vater habe vor Jahren auf seinem Sterbebett zu ihm gesagt: «Wenn eine Frau reinspringt, musst du aufhören.» Also tat er das. Beim Verlassen seiner Werkstatt äußert er noch eine Bitte: «Nennen Sie bloß meinen Namen nicht.» Er wolle keinen Ärger. Darum heißt Eberhardt in Wirklichkeit anders.
Die Revolution der Christiane Renz begann höflich: Vor fünf, sechs Jahren unterhielt sie sich mit der einzigen Frau im Vorstand und sprach das Thema an. Ob der Verein nicht langsam mal die Satzung ändern wollte. Frauen sollten auch mitmachen dürfen. Doch schon die Frage war ein Sakrileg, wurde als «Nestbeschmutzung» abgetan, sagt Renz.
Mehrmals stellte sie Anträge, mehrmals holte sie sich eine Abfuhr. Während der Sitzungen sprach niemand mehr mit ihr. Sie wurde im Raum übersehen, als sei sie gar nicht da. Einmal bat sie, den Antrag komplett vorzulesen, auch die Begründung. Etwa 15 von 200 Delegierten stimmten für die Änderung. Viele klatschten, als der Antrag abgelehnt wurde.
Dann sah sie in den Fernsehnachrichten einen Beitrag. Er handelte von einer Berliner Anwältin, die per Klage die Teilnahme ihrer Tochter in einem Knabenchor durchsetzte. Renz schrieb der Anwältin eine Mail und berichtete vom Fischertag: «Vielleicht ist das für Sie interessant.»
Auch im bayerischen Voralpenland hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert: Zwölf von insgesamt 41 Sitzen im Memminger Stadtrat sind derzeit von Frauen besetzt (29 Prozent), Memmingen ist «Modellregion Zukunft der Mobilität», und beim Eishockeyclub ECDC hat man sich schon überlegt, ob «Indianer» noch der passende Beiname für den Verein ist. Die Zeiten, als hier selbst ein Besenstil gewählt worden wäre, Hauptsache, er ist Mitglied der CSU, sind jedenfalls längst vorbei. Bei der letzten Bundestagswahl kam die CSU in Memmingen nicht einmal mehr auf 30 Prozent. Man gibt sich modern und doch traditionsbewusst. Laptop und Lederhose, der bayerische Slogan, gilt auch hier. Deshalb wirbt die Stadt auf Flyern mit: «Memmingen — Stadt mit Perspektiven». Vor allem mit männlichen.
An den Tagen vor dem Fischertag verändert sich die Stadt. Mit jeder Stunde, die er näher rückt, wächst die Unruhe, die Vorfreude, die Anspannung. Bis zu 40 000 Besucher kommen jedes Jahr, um das Spektakel zu sehen. Auch dieses Jahr sind die Hotelzimmer ausgebucht, die Kneipen am Abend oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Wird sie wirklich springen? Wird Christiane Renz als erste Frau der Welt, ja, des ganzen Kosmos offiziell in den Stadtbach «neijucka»? Wird sie ihr Recht beanspruchen, das ihr erst das Amtsgericht, dann das Landgericht zugesprochen haben und gegen das es keinen Einspruch, keine Revision mehr geben wird, nicht einmal vor dem Bundesverfassungsgericht?
Zwei Tage noch. Renz mag den Rummel um ihre Person nicht. Sie triumphiert nicht, jedenfalls nicht laut. An diesem Nachmittag, 37 Grad, kühlt sie sich im Stadtpark im Bach die Füße ab. Hierher kommt sie oft, wenn ihr der Trubel in der Stadt zu viel wird. Zu viele eigene Gedanken, zu viele andere Gesichter. Dann braucht sie Bäume statt Beton, Grün statt Grau. Sie starrt auf Bienen, die in Blüten krabbeln, und verliert sich im Nichtsdenken.
Diesen Zustand nennt sie «das Guckerle». Der Blick haftet sich fest, geht gleichzeitig ins Leere. Und der Geist fliegt frei.
Renz kann gut mit Tieren. Viel besser als mit Menschen, sagt sie. Sie ist Tierärztin, in ihrer Praxis bietet sie Kurse an, um gestörte Beziehungen zwischen Mensch und Hund zu behandeln. Ziel dabei sei es, so schreibt sie auf ihrer Website, dass ein Tier unerwünschte Verhaltensweisen verlernt. Bei Tieren weiß sie, wie das geht. Aber bei Männern?
Der Marktplatz am Abend vor dem Fischertag. Der «Büttel» in seinem historischen Kostüm kündigt von der Bühne den morgigen Fischertag an, neben ihm stehen der scheidende Fischerkönig und der Oberbürgermeister. Die Zuschauer auf der Tribüne klatschen zum Takt der Trommelmusik. Dann rollt der Büttel eine riesige Papierrolle aus, von der er abliest. Er heißt Gottfried Voigt, ist Vorsitzender der Freien Wähler im Stadtrat und hat die Rede selbst geschrieben. Mehrere Wochen hat er daran gefeilt. Er setzt an in tiefstem Schwäbisch: «Liabe Leit, liabe Gäschd.» Hält nach ein paar Zeilen inne. Dann: «Au, jetzt hau i des Gegendere ganz vergessa!»
Im nächsten Satz sagt er «Fischer Schrägstrich In», spricht vom «Forellen- und Forellinnen-Preis». Die Menge auf den Rängen johlt. Dann trillern Pfiffe, Buh-Rufe prasseln von den Rängen herab. Sie sind Christiane Renz gewidmet.
Samstag. Fischertag. 6 Uhr. Christiane Renz steht zwischen 1100 Männern auf dem Schulhof der ehemaligen Realschule, um sich den Stempel zur Teilnahme abzuholen. Alles, auch das «Neijucken» in den Stadtbach, hat seine Ordnung. Die Männer stehen in Grüppchen, manche sprechen miteinander, andere grölen sich die Gesichter rot und prosten sich schon um diese Uhrzeit mit Bierflaschen zu. Immer wieder sehen sie aus den Augenwinkeln zu ihr. «Isch se da?», fragen sie zischend aus allen Richtungen.
Man sieht ihr nicht an, was sie denkt. Das Kinn hält sie leicht gehoben. Ihre Augen springen zwischen den verschiedenen Männer-Grüppchen umher. Einer kommt zu ihr, drückt ihr die Hand und versucht einen Scherz: «Das ist ja fahrlässig, was du hier machst.» Dann geht er wieder. Ihr Bruder kommt, der hält sich raus aus dem ganzen Thema. Jetzt aber zieht er einen einzelnen Grashalm aus seinem Hut und steckt ihn an ihren. An den Hüten der männlichen Fischer hängen Dutzende bunter Zettelchen mit Teilnahme-Stempeln aus den vergangenen Jahren. Bei Christiane Renz hängt ein einziger Zettel in Hellgrün — Fischertag 2022.
Den Fischertag hört man, bevor man ihn sieht. Zur Begrüßung grölen sich Männer tief aus der Kehle ein «Heeey» zu. Dazu heben sie den Kescher, den sie «Bären» nennen, oder den Fischerhut. Viele röhren das «Heeeeey» mit erhobener Bierflasche. Gestern war es noch ein höflicher, spitzer Ruf zum offiziellen Anlass der Büttelrede: «Hey!» Jetzt ist es ein hitziges Bellen in schneller Abfolge, «HeyHeyHey». Ein martialischer, kehliger Ruf. Rohe Männlich- keit. Als wäre er aus den Untiefen der Vergangenheit bis ins Heute durchgestoßen.
Kurz nach 7 Uhr. 1100 Fischer und Christiane Renz laufen in einem Zug, begleitet von mehreren Musikkapellen, ins Zentrum der Stadt. Am Rand drängen sich die Schaulustigen. Die Kapellen spielen den Schmotz-Marsch, das offizielle Lied des Fischertags. Dazu singen die Fischer: «Schmotz, Schmotz, Dreck auf Dreck, Schellakenig wüaschte Sau!» Ein leichter Sommerregen hat eingesetzt. Etwas abseits läuft eine Gruppe Frauen im Dirndl durch die Gassen zum Stadtbach, sie beißen von Brezeln ab und schlürfen Coffee to go. Eine von ihnen hebt die Handfläche zum Himmel und sagt: «Der Himmel weint. Wegen der Frau.»
Am Bach, kurz vor acht. Um das Geländer stehen vor allem Frauen und Kinder, als die Männer und Christiane Renz eintreffen. Die «Feministische Aktionsgruppe» hat ein Transparent an einer Straßenlaterne aufgehängt und stellt sich mit Pappschildern entlang der Stadtmauer auf.
Christiane Renz hat den Modus gewechselt. Laut grölt auch sie jetzt «HEY!», mehrere Fernsehkameras stürzen sich auf jede Bewegung von ihr. Renz’ Partner befüllt den Eimer mit Flusswasser. Er übernimmt die Rolle als Kübelweib. Sogar ihre Anwältin Susann Bräcklein ist aus Berlin angereist, ein paar weitere Verwandte und Freundinnen stehen um sie herum. Fast wie zum Schutz.
Kurz vor acht Uhr ertönt ein kollektives «Pssssscchhhht» — so ist es Tradition –, und aufgeladene Stille kriecht am Bachufer entlang. Christiane Renz sitzt schon hinterm Gelände, die Beine angewinkelt wie beim Damensitz auf einem Pferd.
Eine Kirchturmglocke läutet acht Uhr, dann zerreißt ein Kanonenschuss die Stille. BUMM.
Ihre Augen weiten sich ganz kurz, dann springt sie in den Bach, zusammen mit 1100 Männern. Das Wasser spritzt, bis zur Wade stehen alle im trüben Bach und ziehen ihren Bären hektisch durch die schlammige Strömung. Sie rufen, sie grölen, reißen ihre Bären nach oben und befreien die zappelnden Fische aus den Netzen in die Eimer am Rand.
Zehn Sekunden nach dem Kanonenschuss spürt auch Renz ein Gewicht im Netz. Sie hat es geschafft. Applaus am Bachrand. «Der Wahnsinn, was für ein Viech!», ruft jemand. Behutsam reicht Renz ihren Fang nach oben, wo ihr Partner ihn entgegennimmt. Kameras klicken. Eine Frau ruft: «Frau Renz, ich fühle mich geehrt, dass Sie genau hier reinspringen. Ich wohne ja da oben. Toll, dass Sie das machen!»
Mit dem vollen Eimer machen sich Renz und ihre Leute später auf den Weg zum Versorgungszelt, wo die Fische getötet werden. An einer Ampel begegnet Renz anderen Fischern. Einer zischt sie von der Seite an: Wenn sie Stress machen wolle, solle sie doch woanders hingehen. Ein Auto wartet aufs grüne Licht, im offenen Kofferraum sitzen zwei Fischer. Sie rufen ihr zu: «Und, wie viele?» — «Zwei!» — Sie heben die Hüte als Zeichen der Anerkennung.
Um elf Uhr übernimmt der neue Fischerkönig sein Amt: Luca Wassermann, 28 Jahre alt, Key-Account-Manager. Hobbys: Fußball spielen und Ski fahren. 2000 Gramm wiegt seine Forelle. Sie geben ihm den Königsnamen: Luca der I., der Frische. Von einem Thron aus Birkenholz winkt er, schon stark schwankend. Das Volk applaudiert. Es geht zu wie auf einem Volksfest. Eine riesige Halle mit Bier- tischen und -bänken, die Musikkapelle spielt, Frauen und Mädchen im Dirndl, Männer und Jungen in bestickten Lederhosen und Karohemd. Hin und wieder ein Fischerhut auf den Köpfen der Besucher.
Ein kleines Mädchen mit Flechtfrisur steht auf einer der Bierbänke, um besser zu sehen. Sie isst Pommes aus einer Papiertüte und schaut dabei zu, wie Luca I. mit einem geschwungenen Fischerhut zum König gekrönt wird.