Kalt und tief
Umspült vom Ozean, durchzogen von Gletschern, belebt durch heiße Quellen: Auf Island ist Wasser nicht nur ein Element. Es prägt die Kultur und Identität der Menschen und wird zum Lebensgefühl. Von Noemi Ehrat (Bild & Text)
Gemäß der isländischen Zeitung Morgunblaðið gibt es im Isländischen nicht weniger als 65 Synonyme für das Meer. So überrascht es nicht, schreibt Politikwissenschaftler Baldur Þórhallsson, dass die Fischerei bis heute als Teil der nationalen Identität wahrgenommen wird und sich viele Isländer*innen nach wie vor stark mit ihren seefahrenden Ahn*innen identifizieren.
Dennoch rücken immer mehr Fragen um die Nachhaltigkeit und somit die Zukunft des Gewerbes in den Vordergrund: Obwohl die Fischtrawler immer größer werden, gibt es durch die zunehmende Mechanisierung immer weniger Arbeitsplätze auf hoher See. Und Forscher*innen des staatlichen Meeresforschungsinstituts können beweisen, wie sich die chemische Zusammensetzung des Meeres verändert. So lässt sich etwa belegen, dass das Meer immer saurer wird, was wiederum die Fischbestände und dadurch den Fischfang in isländischen Gewässern beeinflusst.
Doch Wasser kommt in Island auch in anderen Formen vor, wie den heißen Quellen vulkanischen Ursprungs. In Orten wie Hveragerði im Süden Islands weiß man deren Energie und Wärme zu nutzen – etwa in Gewächshäusern, in denen Bananen, Erdbeeren und Blumen gezogen werden, oder zur Beheizung von Gebäuden.
Auch im Freizeitbereich gewinnt das warme wie kalte Wasser immer mehr an Bedeutung. So hat das Baden in den warmen Becken der öffentlichen Bäder lange Tradition. In ganz Island gibt es über 160 Schwimmbäder, in Reykjavik allein 18. Das älteste, Sundhöll Reykjavíkur, wurde 1937 eröffnet. Zudem ist in den letzten Jahren das ganzjährige Schwimmen im Meer populär geworden. Eine Gruppe rund um die mobile Sauna «Rjúkandi fargufa» trifft sich etwa regelmäßig, um rund um Reykjavík ins kalte Wasser zu gehen. Wasser ist auf Island also längst nicht nur eine natürliche Ressource, die es zu bewirtschaften gilt, oder ein Element, gegen das man anzukommen hat.
Dies widerspiegelt sich auch im Zuwachs, den die Ásatrú-Vereinigung erfährt. Im heidnischen Glauben, der auf Island vor der Einführung des Christentums weit verbreitet war, spielt die Natur eine große Rolle, besonders in den von den sogenannten Goden vermittelten Ansichten und Ritualen. Die Glaubensvereinigung setzt sich auch aktiv für Umweltbelange ein, etwa gegen den Bau des Kárahnjúkar-Wasserkraftwerks im Osten Islands.
In der Kunst setzen sich Isländer*innen aktuell kritisch mit den durch Klimawandel und Kapitalismus einhergehenden Veränderungen des Wassers auseinander: Die aus den Westfjorden stammende Malerin Guðbjörg Lind Jonsdóttir beschäftigt sich in ihren fast plastisch wirkenden Landschaftsbildern etwa nicht nur mit Wasserfällen, sie abstrahiert auch die seit einigen Jahren betriebenen Lachsfarmen. Diese werden kontrovers diskutiert: Sie sorgen zwar für neue Arbeitsstellen an einem Ort, dessen Bevölkerung kontinuierlich abwandert, zugleich bedrohen sie aber auch das örtliche sensible Ökosystem.
Der Autor und ehemalige Politiker Andri Snær Magnason thematisiert die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Bedeutungen des Wassers wiederum auf poetische Art und Weise. Sein Buch «Wasser und Zeit: Eine Geschichte unserer Zukunft» erzählt vom Einfluss des Klimawandels auf Island anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Zudem spielt der Titel seines Buchs auf das bekannte Gedicht «Tíminn og vatni», auf Deutsch «Die Zeit und das Wasser», des Dichters Steinn Steinarrs an. Für diesen ist Zeit «wie Wasser,/ und Wasser ist so kalt und tief/ wie mein eigenes Bewusstsein».
Wasser und Zeit oder eben Wasser und Wandel sind in Island eben eng miteinander verknüpft: Wasser in all seinen Formen prägt das isländische Bewusstsein. Mit Blick auf die Vergangenheit ebenso wie in der Suche nach Lösungen für eine mögliche Zukunft.