Der Nachbar, den keiner kannte
Ein fremdes Fahrrad im Keller, ein vergilbter Briefkasten vor der Tür – und irgendwo dazwischen die Lebensgeschichte eines Mannes, der plötzlich nicht mehr da ist. Wer war er? Eine Spurensuche von Jana Junker
Hans ging manchmal an unserem Fenster vorbei – immer im grünen Parka, immer mit einer Plastiktüte in der Hand. Grüßte ich ihn auf der Straße, kam ein Grummeln zurück. Ein freundliches Grummeln.
Hans wohnte alleine und recht zurückgezogen, auf einem nicht ausgebauten Dachboden eines Mehrfamilienhauses. Dort verstarb er im Juli 2023 – das genaue Datum lässt sich nicht feststellen, ein Hausbewohner fand Hans mehrere Tage nach seinem Tod. Hans wurde anonym auf einem Dorffriedhof beigesetzt.
Zwei Monate nach Hans‘ Tod zog ich selbst in sein ehemaliges Wohnhaus ein.
Hans‘ Tod hat viel in mir bewegt. Im ganzen Haus lassen sich noch Spuren seines Lebens finden. Das winzige Badezimmer im Treppenhaus, sein Fahrrad im Keller, eine uralte Postkarte, die er vor über 30 Jahren aus Italien zugeschickt bekam, Kleinigkeiten in vielen Ecken. Sein altes Zuhause ist unangetastet.
Wer war Hans? Seit wann lebte er auf dem Dachboden? Wer kannte Hans mehr als nur vom Grüßen? Wohin ist er mit seiner Plastiktüte gegangen? Wie kann es sein, dass jemand in einem so bunten und lebendigen Viertel vermeintlich einsam lebt? Und was bedeutet das für uns Lebende?
Meine Suche nach Antworten auf all die Fragen begann. Ich führte viele Gespräche mit Hausbewohner*innen, Nachbar*innen und auch seinem Vermieter. Hans lebte 40 Jahre in diesem Haus. Damals wohnten dort oben jeden Sommer Wanderarbeiter. Irgendwann kamen diese nicht mehr, Hans blieb. Der Vermieter versuchte einmal, ihn hinauszuklagen – laut eigener Aussage mehr, um Hans abzusichern, als um an der Situation etwas zu verändern. Legal war Hans‘ Zuhause auf dem Dachboden nicht.
Mein Anliegen stieß in der Nachbarschaft auf mal mehr und mal weniger Interesse. Und ja, einige Menschen im direkten Umfeld wussten nicht einmal, von welcher Person ich da sprach, obwohl sie teilweise länger in dieser Straße gewohnt hatten als Hans. Das stimmte mich sehr nachdenklich und warf gleichzeitig die Frage auf, wie gut eigentlich ich meine Nachbar*innen kenne.
Zugegeben: Ich kenne längst nicht alle. Da wohnt zum Beispiel im Nachbarhaus genau hinter meiner Schlafzimmerwand eine Person, die genau meinen Musikgeschmack zu haben scheint. Es trennt uns nur eine Wand, aber ich kenne diesen Menschen nicht einmal vom Sehen her, obwohl unsere Balkone nicht weit auseinander liegen.
Ich merkte relativ schnell, dass ich aufpassen musste, in Hans‘ vergangenes Leben keine falschen Vermutungen hineinzuinterpretieren. Fühlte er sich einsam? Oder war er vielleicht rundum zufrieden mit seinem Leben?
Vor dem Haus steht eine auffällige, weiße Briefkastenanlage. Nur Hans‘ kleiner verbeulter brauner Briefkasten hängt nicht dort, sondern leicht zu übersehen an der Rückseite des Zauns. Sein Name steht noch immer verblichen hinter einem vergilbten Plastiksichtfenster. An der Seite klebt ein Kaugummi und aus dem Briefschlitz ragt ein altes Werbeprospekt heraus.
Fakt ist, dass Hans vielleicht nicht einsam lebte, aber in unserer Siedlung recht anonym und sozial isoliert. Niemand, weder im Haus noch in den umliegenden Wohnungen, scheint einen engeren und regelmäßigen Kontakt zu ihm gehabt zu haben. Selten mal hier oder da ein kurzer Smalltalk über das Wetter und ab und an hängte Hans im Haus Zettel mit Nachrichten für die Hausbewohner*innen auf – zumeist mit einer Beschwerde oder Frage. Mehr nicht. Keiner konnte mir sagen, wohin Hans mit seiner Plastiktüte ging. Er wurde von der Hausgemeinschaft zu gemeinsamen Lagerfeuerabenden oder Feierlichkeiten im Garten eingeladen, aber er tauchte dort nie auf.
Und doch muss es Menschen in Hans‘ Leben gegeben haben, denn im Internet existiert eine Traueranzeige für ihn, darin auch ein paar Namen. Eine Mailadresse ist dort ebenfalls zu finden, jedoch bekomme ich auf meine Mails keine Antwort. Ich erfuhr aus der Anzeige, dass Hans anonym beigesetzt wurde. Was bedeutet das überhaupt? Und was passiert eigentlich, wenn ein Mensch verstirbt und keine Angehörigen hat?
Ich spreche mit Torsten Lips, Inhaber des Bestattungsinstituts «Ahorn Trauerhilfe Lips». Wenn es wirklich keine Angehörigen eines verstorbenen Menschen gibt, ist das Ordnungsamt für die Bestattung zuständig. Wenn es keine finanziellen Rücklagen gibt, werden die Kosten normalerweise von der zuständigen Gemeinde oder der Stadt übernommen. In diesem Fall findet nur die reine Urnenbeisetzung statt – ohne Zeremonie oder Andacht. In Lüneburg gibt es jedoch die Tobias-Gemeinschaft. Diese engagiert sich für eine würdevolle Bestattung von Menschen ohne Angehörige. Zu diesem Zweck organisiert sie viermal im Jahr Trauergottesdienste auf dem Lüneburger Waldfriedhof.
Die finanziellen Mittel stammen aus Spenden. Während der Gottesdienste werden die Namen der Verstorbenen verlesen und es wird für sie gebetet. Im Anschluss daran erfolgt die Beisetzung, bei der die Mitglieder der Tobias-Gemeinschaft den Verstorbenen das letzte Geleit geben. Konfession oder Kirchenzugehörigkeit der Verstorbenen ist dabei irrelevant. Die Tobias-Gemeinschaft versteht sich als diakonisch-karitative Einrichtung und steht allen Menschen offen.
Lips wirft eine Frage auf: «Wo fangen anonyme Bestattungen an?» Es ist keine anonyme Bestattung, wenn ausschließlich die Beisetzung anonym ist oder lediglich kein Grabstein existiert, es aber im Vorfeld eine Trauerfeier gab. Es gibt auch Beisetzungen, bei denen Angehörige zugegen sind, es aber trotzdem ein anonymes Grab gibt. Kann in diesem Fall überhaupt von einer anonymen Beisetzung gesprochen werden?
Hans wurde nicht über die Tobias-Gemeinschaft in Lüneburg beigesetzt. Ich gehe also davon aus, dass sich jemand um seine Bestattung kümmerte. Entweder ein Angehöriger oder Menschen, die in irgendeiner Form mit Hans verbunden waren. Die Anonymität der Beisetzung kann natürlich auch Hans selbst gewünscht haben. Auch hier konnte ich keine Antwort finden.
Laut einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2019 ist es 24 % der Befragten überhaupt nicht wichtig, dass es einen Namenshinweis an ihrer Grabstelle gibt. 27 % ist es weniger wichtig, 31 % ist es wichtig und lediglich 16 % der Befragten ist es sehr wichtig. Damit hätte ich ehrlicherweise nicht gerechnet. Ich bin davon ausgegangen, dass mehr Menschen Wert auf ihren Namenshinweis legen.
Hans‘ Geschichte, die so viele Fragen offen lässt, bewog mich dazu, mehr über soziale Isolation zu erfahren. Was bedeutet dies für die psychische wie auch physische Gesundheit eines Menschen?
Maximilian Schiff, praktizierender psychologischer Psychotherapeut in Winsen/Luhe, sagt zu den psychischen Auswirkungen: «Soziale Isolation ist zum Beispiel eng mit Depressionen verbunden. Zudem können Angstzustände verstärkt oder Angststörungen entwickelt werden. Anhaltende Einsamkeit kann das Selbstwertgefühl eines Menschen stark beeinträchtigen. Auch das Risiko für Demenz und kognitive Einschränkungen ist erhöht.»
Dr. med. Heiko Schmidt, praktizierender Allgemeinmediziner in Dannenberg, betont die physischen Konsequenzen: «Soziale Isolation ist ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, da vermehrt Stresshormone wie Cortisol ausgeschüttet werden, was den Blutdruck und die Herzfrequenz negativ beeinflusst. Chronische Einsamkeit kann das Immunsystem schwächen, was die Anfälligkeit für Infektionen und Krankheiten erhöht. Es können Schlafstörungen entstehen und Studien haben gezeigt, dass einsame Menschen ein höheres Risiko für einen vorzeitigen Tod haben. Sozial isolierte Menschen neigen dazu, ungesündere Verhaltensweisen zu entwickeln, wie zum Beispiel weniger körperliche Aktivität, ungesunde Ernährung oder Substanzmissbrauch. Der Mangel an sozialer Unterstützung verschärft die Schwierigkeiten, mit Stress und anderen gesundheitlichen Herausforderungen umzugehen. Insgesamt zeigt die Forschung, dass soziale Isolation ein bedeutendes Gesundheitsproblem darstellt.»
Das sind wirklich eine ganze Menge Risikofaktoren und ich muss an Hans‘ Alter denken, als er verstarb. 70 Jahre ist nicht gerade alt. Und eine wirklich wichtige Frage ist offen geblieben: Welche Hilfsangebote gibt es für sozial isolierte Menschen?
Ich habe mit Sandra Mendel gesprochen, welche die ehrenamtlichen Tätigkeiten bei den Roten Engeln des DRK in Lüneburg leitet und koordiniert. Die Roten Engel sind ein ehrenamtlicher Besuchsdienst, der seit 2012 im DRK-Alten- und Pflegeheim in Adendorf tätig ist. Derzeit sind sechs Rote Engel im Einsatz, die ihre persönlichen Interessen und Fähigkeiten einbringen, um den Bewohner*innen Freude und Abwechslung zu bieten. Die Aktivitäten umfassen musikalische Begleitung, Handy- und Tablet-Sprechstunden, Unterstützung bei Veranstaltungen, Planung und Durchführung von Ausflügen sowie individuelle Besuche.
Die Roten Engel wurden ins Leben gerufen, um das bereits vorhandene ehrenamtliche Engagement im Alten- und Pflegeheim zu strukturieren. Ein weiteres Ziel war es, der Vereinsamung älterer Menschen entgegenzuwirken und ihnen durch regelmäßige Besuche mehr soziale Kontakte zu ermöglichen. Im Alten- und Pflegeheim leben etwa 100 Personen. Die Ehrenamtlichen besuchen die Bewohner*innen in der Regel einmal wöchentlich, einige nehmen ausschließlich an Veranstaltungen oder Ausflügen teil. Die Besuche durch die Roten Engel helfen, die Stimmung der Bewohner*innen zu heben, ihre Teilnahme am Leben zu fördern und sie dazu zu bringen, sich offener mitzuteilen.
Im Alten- und Pflegeheim sind besonders jene Bewohner*innen von sozialer Isolation betroffen, deren Familien weit entfernt wohnen oder die keine Angehörigen mehr haben. Neben den Roten Engeln gibt es in Lüneburg auch weitere Unterstützung für sozial isolierte Menschen. Das Seniorenservicebüro vermittelt Alltagsbegleitungen und die DRK-Ortsvereine bieten regelmäßige Aktivitäten wie Kaffee- und Spielenachmittage an. Auch einige Kirchengemeinden unterhalten Besuchsdienste.
Für mich bleibt allerdings die Frage offen, an wen sich Menschen wenden können, die nicht in einem Pflegeheim wohnen oder im Alltag in den eigenen vier Wänden auf Hilfe angewiesen sind. Soziale Isolation, Anonymität und Einsamkeit können Menschen in jedem Alter betreffen.
Ich sitze auf unserem Balkon in der Abendsonne, als aus dem offenen Fenster des Nachbarhauses einer meiner Lieblingssongs zu hören ist. Ich muss lächeln und mein Herz pocht ein wenig schneller, als die Balkontür nebenan aufgeht. «Toller Song, ich liebe ihn!», rufe ich hinüber. «Lust auf ein Glas Wein?», kommt es zurück.