Editorial. Dokumentarische Praktiken zwischen Journalismus, Kunst und Aktivismus
How to make images matter?
Die Suche nach neuen Erzählformen im Feld von Fotojournalismus und Dokumentarfotografie, die den Blick über die Grenzen des konventionellen Verständnisses der dokumentarischen Form erweitern, ist Gegenstand zahlreicher zeitgenössischer Debatten1 und war ein zentrales Movens der Publikation Images in Conflict / Bilder im Konflikt2. Die Frage nach den Möglichkeiten des Dokumentarischen und der Entwicklung visueller Narrationen, die die Stereotypisierungen und traditionellen Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen klassischer dokumentarfotografischer Erzählformen unterlaufen, verfolgen wir mit dem Themenfokus des vorliegenden Bandes weiter. Gerade die Textualität und Kontextualität dokumentarischer Praktiken und das Ausloten ihrer Grenzbereiche, hier insbesondere des Verhältnisses von Kunst, Dokumentation und Journalismus, stehen im Zentrum der Beiträge von image/con/ text. Dokumentarische Praktiken zwischen Journalismus, Kunst und Aktivismus.3
Richtet man den Blick auf gegenwärtige Auseinandersetzungen, dann fällt auf, dass diese oftmals das permanente Ineinandergreifen von Konstruktion und Dekonstruktion dokumentarischer Wirklichkeitsversprechen als Voraussetzung ihrer eigenen Praxis begreifen und damit die Schnittstelle von Dokumentarismus und Herrschaft zum Thema machen. Ein daraus resultierendes Verständnis des Dokumentarischen als kontextbedingtes, gleichsam mobiles Konzept, in dem sich dieses gerade dadurch auszeichnet, dass es permanent infrage gestellt und wieder bestätigt werden muss,4 bringen aktuelle Projekte vielfach durch die Integration unterschiedlicher Materialien und Zeugenschaften zum Ausdruck. Anders als die Koppelung von Visuellem und Verbalem in journalistischen Publikationen, denen es vor allem um das Ziel der Lesbarmachung geht, suchen diese Arbeiten einer Vereindeutigung der semantischen Ebenen zu entgehen. Während das Verhältnis von Bild und Bildunterschrift in der Presse meist einen klaren Funktionszusammenhang impliziert und dabei auf eine Einheit der Repräsentation von Wort und Bild zielt, beschreiben jüngere Auseinandersetzungen Bilder nicht durch Texte im deskriptiven Sinne, sondern heben gerade die Polysemie und Kontextualität von Bildern hervor.
Zwischen Bild und Text
Arbeiten wie die von Eva Leitolf, mit der die vorliegende Publikation ihren Ausgangspunkt nimmt, etablieren ein Verhältnis von visuellen und verbalen Medialitäten, in dem diese nicht als spiegelbildlich, sondern als Teil eines heterogenen Felds repräsentierender Praktiken begriffen werden.
In Arbeiten wie Deutsche Bilder II und Postcards from Europe wird deutlich, was Eva Leitolf auch in ihrem Interview mit Florian Sturm bestätigt: „Für mich sind Bild und Text völlig gleichberechtigt, mich interessiert das Spannungsfeld zwischen diesen Medien.“ In der Kombination und Konfrontation von Visualität und Textualität betont Eva Leitolf gerade den Raum dazwischen und verweist auf die Inkohärenz und Inkommensurabilität der unterschiedlichen Repräsentationsebenen. Leitolf selbst nennt Martha Rosler und Allan Sekula, bei dem sie am California Institute of the Arts studierte, als Referenzen für ihr Interesse an der Kontextabhängigkeit von Bildern, da beide die Begrenztheit rein visueller Darstellungsformen problematisiert hätten. Wie Karen Fromm in ihrem Beitrag „Context matters“. Bild und Text bei Allan Sekula und Martha Rosler zeigt, waren beide bereits Anfang der 1970er-Jahre sowohl in ihrer künstlerischen Praxis als auch in theoretischen Texten Wegbereiter*innen einer Repolitisierung und Neuausrichtung der institutionellen und diskursiven Strategien des Dokumentarischen, die Kontextualität als Voraussetzung jeder Form von Bedeut- und Wirksamkeit begreifen. In den von Fromm beispielhaft vorgestellten Projekten The Bowery von Martha Rosler und Aerospace Folktales von Allan Sekula arbeiten beide mit Bild-Text-Kombinationen. Dabei eröffnen sie Felder sich ergänzender und gegenseitig relativierender Ansprüche, um zugunsten einer Vielheit der Perspektiven gerade die perfekte Korrespondenz zwischen Darstellungsgegenstand und Realitätsausschnitt zu negieren. Einem tief in die Geschichte visueller Repräsentationen eingeschriebenen Begehren, die Differenz zwischen Darstellung und der Präsenz des Dargestellten aufzuheben, arbeiten sie so entgegen.
Layered contexts
Auch Jean-Luc Godard wird in seinem Filmschaffen von einem Misstrauen gegenüber kontextlosen Bildern geleitet, ringt um eine neue Form, privilegiert eine Zeit lang den Text, fragt, wie Rosler und Sekula, letztlich nach dem Verhältnis von Ästhetik und Ideologie. In Bildbuch, seinem Film von 2018, stellt der Regisseur fest, dass kein Zweifel daran bestehe, dass der Akt des Repräsentierens fast immer mit Gewalt gegenüber dem repräsentierten Subjekt verbunden sei – ganz im Widerspruch zu der Ruhe, die der Darstellung selbst innewohnen mag. Der üblicherweise vorausgesetzte Einklang von Bild und Sprache, der Film als audiovisuelles Medium charakterisiert, wird in Godards zunehmend essayistischen Filmen hinterfragt. Die Einheit von Bild und Text könnte zu einem Kollaps der Bedeutungspotenziale führen, sodass Komplexitäten verschleiert würden, die im Sinne einer Herrschaftskritik bewahrt werden sollten. Thomas Helbig zeichnet in seinem Aufsatz die Entwicklung des Zusammenspiels von Bild, Ton und Schrift im Werk des politischen Filmautors anhand mehrerer historischer Stationen nach. Dabei bezieht er Kinofilme ebenso ein wie die für eine ganz andere mediale Umwelt, das Fernsehen, entstandene Produktion Photo et Cie (1976). Diese Metareflexion auf Massenmedien analysiert deren Bild- und Sprachgebrauch anhand von Werbebildern und einer Pressefotografie Schicht für Schicht, nicht nur abtragend, sondern auch addierend. Schrift wird auf das Filmbild gelegt, die Entstehungsgeschichte der Konfliktfotografie im Voice-over erzählt. Mit Überschreibungen und Einschreibungen, Verschiebungen auf der Tonspur, Aussetzern auf der Bildspur, Zwischentafeln, Zitaten und Kommentierungen geschieht bei Godard ein Philosophieren durch Film.
Der Beitrag von Alisha Sett stellt, zunächst im familiären Umfeld, fest, wie zutiefst mangelhaft die mit einer fotografischen Vergangenheit verbundene Erinnerung sein kann. Zum einzelnen Familienfoto gehören mehr als eine Geschichte. So war es für Sett bei der Gründung des Kashmir Photo Collective (KPC) naheliegend, nicht nur die zum Teil schon sehr alten Fotografien durch Scannen zu retten, sondern auch deren Kontexte aufzuzeichnen. Bei der Übernahme von Aufnahmen in das Archiv wird im Dialog mit den bildgebenden Familien handschriftlich erfasst, was an Fakten und Fiktionen zur Sprache kommt. Kommentierungen der Erzählungen, aber auch Korrekturen des Berichts finden sofort Eingang in die Dokumentation. Dabei äußert sich neben den individuellen Familiengeschichten zwangsläufig die größere kollektive Identität und Geschichte Kaschmirs mit. Es zeigen sich Vernetzungen mit anderen Familien, eine Beziehung führt zur nächsten Geschichte und ergibt ein weiteres Archivierungsvorhaben. Sett findet für dieses Entstehen eines „archivischen Waldes der Erinnerungen“ das poetische und zugleich sehr treffende Bild des Banyan-Baumes. Diese Feigenart kann ausgehend von einem Samen Flächen von Hunderten Quadratmetern mit ihren Verzweigungen, Luftwurzeln und stammähnlichen Stützen überziehen.
Die solcherart gesammelten kaschmirischen Fotografien mit ihren umgebenden Materialien ergeben ein kollaborativ erstelltes komplementäres Archiv, das notwendig wird, weil die staatlichen (und damit auch staatstragenden) Archive entweder Zugänge verweigern, Dokumente verloren haben oder die alleinige Deutungshoheit der regionalen Konfliktgeschichte für sich reklamieren. Damit wird diese Praxis des Dokumentierens inhärent zu einer politischen. Für Sett verfolgt das KPC das Ziel, die traditionellerweise entfremdende Rolle, die Archive spielen, infrage zu stellen und umzukehren. Ariella Azoulay schreibt dazu:
Um in ein Archiv einsortiert, aber auch, um wieder aufgefunden zu werden, müssen einer Fotografie Konzepte und Namen zugeordnet werden. Zugleich unterminiert jede Begegnung zwischen Betrachtenden und Fotografien solche Versuche der Fixierung einer stabilen Referenz.6 Die Schaffung eines ‚bürgerlichen‘, zugänglichen Archivs, das solche Begegnungen ermöglicht, arbeitet der Gewalt der Repräsentation entgegen, die der Staat an seinen Subjekten verübt. Der Filmemacher Godard wie die Archivarin Sett arbeiten einer hermetischen Verschweißung der Bedeutungsebenen entgegen und öffnen den Blick für die Feinschichtigkeiten und Verzweigungen einer geteilten Wirklichkeit.
Weaving hidden stories: visuelle Investigationen
Ein Themenbereich des vorliegenden Bandes widmet sich dem aufkommenden Subgenre der recherchebasierten Fotobücher, in welchen in einem mit der Arbeit des Kashmir Photo Collective vergleichbar archivarischen und nicht selten aktivistischen Gestus7 Bild- und Textfragmente zusammengetragen und in eine narrative Struktur überführt werden, um komplexe und verborgene Themen sichtbar zu machen. Auch hier treffen Wort und Bild nicht in einem Verhältnis gegenseitiger Kontrolle oder Kontingenzbewältigung aufeinander, sondern als gleichwertige Modi der Wirklichkeitsdarstellung. Indem das in diesen Publikationen zu einer neuen Einheit verwobene, sehr diverse Material seine ursprünglichen Kontexte verlässt, die Genregrenzen überschreitet und in andere Formate integriert wird, eröffnen sich neuartige Wirkungsräume jenseits der jeweiligen Fachdiskurse und Filterblasen.
So interagieren in dem kollaborativen Fotobuch Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition Dokumente, die aus Recherchen des Journalisten Crofton Black stammen und bislang insbesondere in Gerichtsverfahren im Zusammenhang von Menschenrechtsverletzungen zum Einsatz kamen, mit den Aufnahmen des Fotografen Edmund Clark. In ihrer wechselseitigen Bezugnahme thematisieren sie den Aufdeckungsprozess um die außergerichtlichen Überstellungen von Inhaftierten zwischen geheimen CIA-Gefängnissen und zeichnen das bürokratische Netzwerk aus Verträgen, Vollmachten und Rechnungen nach, durch welches die Existenz dieses Programms und seine Logistik offengelegt werden konnten. Sowohl die mitunter stark zensierten Unterlagen als auch die Fotografien von vermeintlich gewöhnlichen Orten, die kaum mehr zu offenbaren scheinen als die Begrenztheit ihrer eigenen Fassade, visualisieren in ihrem ‚Nicht-Zeigen‘ Aspekte der Geheimhaltung, Verdeckung und Fehlinformation. Mit ihrer komplexen Verweis- und Indexstruktur spiegelt die Form des Buches dessen Inhalt wider und fordert die Lesenden und/oder Betrachtenden dazu auf, selbst aktiv und investigativ tätig zu werden, das fragmentarisch dargebotene Material zu verknüpfen und zu interpretieren.
Für das Potenzial einer derart erschwerten Lesbarkeit und die Dekonstruktion vertrauter Muster anstelle leichter Konsumierbarkeit und Festschreibung von Bedeutung plädiert Edmund Clark auch im Gespräch mit Sophia Greiff, wenn er vor der Fülle vereinfachter Botschaften und Informationen warnt, die uns heutzutage über diverse Plattformen erreichen: „Our screens are targeting us with messages of advertising, propaganda, potential news… this is a kind of battlefield of imagery and text and quite often the messages are incredibly simplistic.“ Einen Ausweg sieht Clark in kreativen Ansätzen, die eine Form von Dissonanz, Verwunderung oder Unbehagen aufseiten der Rezipient*innen auslösen und dadurch, dass sie an sich wiederholenden Repräsentationsweisen rütteln, zu einer kritischen Haltung, Neubetrachtung und Reflexion anregen.
Wie auch Laia Abril im Dialog mit Sophia Greiff bestätigt, scheint es insbesondere der Kunst- bzw. Buch- und Ausstellungskontext zu sein, der diesbezüglich entsprechenden Spielraum und Experimentiermöglichkeiten bietet. So spricht sich Abril durchaus für den in ihrer journalistischen Ausbildung verinnerlichten moralischen und ethischen Anspruch der journalistischen Praxis aus, möchte sich jedoch nicht durch ein enges Regelwerk in ihrer Aussage begrenzen lassen: „I’m not a photojournalist, I don’t reveal my sources; I have a different way of presenting my material. I’m more interested in showing emotions, ideas and concepts that arise and challenge me during my research.“ So macht auch sie sich in ihrer Arbeit die Polysemie der Bilder zunutze und schafft unterschiedlichste Bild-Text-Beziehungen, um einen möglichst facettenreichen Einblick in schwierige Materien zu geben. In ihrem Fotobuch On Abortion. And the Repercussions of Lack of Access, das seinen Ursprung in einer Ausstellung fand, setzt sie sich mit dem komplexen und kontrovers diskutierten Thema Schwangerschaftsabbruch auseinander und kombiniert in einer Art visual investigation eigene Fotografien und Dokumentationen mit gefundenem oder bearbeitetem Material sowie mit inszenierten, verdichteten Symbolbildern. Neben einem visuellen schafft sie so auch einen emotionalen Rhythmus und arbeitet mit dem Spannungsfeld aus Bild, Text, Design und Produktion, das ein Fotobuch ausmacht.
Als eine visuelle Untersuchung lässt sich auch die Arbeit Find a Fallen Star von Regine Petersen bezeichnen. Meteoriteneinschläge in Alabama (USA), Ramsdorf (Deutschland) und Kanwarpura (Indien) dienen ihr als Ausgangspunkt, um mittels Fotografien, Interviews und Dokumenten Fragen von Ort, Zeit, Geschichte und Erinnerung nachzugehen. In drei Büchern, die in einem Schuber zusammengefasst werden, verwebt Petersen dokumentarische, assoziative und poetische Elemente zu einer gleichsam faktischen und mythischen Narration.
Anja Schürmann ist in ihrem Beitrag schließlich einer epistemologischen Struktur des research-based Fotobuchs auf der Spur. In ihrer Einzelfallanalyse der Bücher Redheaded Peckerwood (Christian Patterson, 2010–2013), The Epilogue (Laia Abril, 2014) und Find a Fallen Star (Regine Petersen, 2015) stellt sie Bezüge zur Kriminalliteratur, Appropriation Art und Konzeptkunst her und folgert in Anlehnung an Lesley A. Martin, dass die von ihr betrachteten Bücher allesamt wie Puzzles funktionieren, die „zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen changieren“.
Found in translation
Es ist bereits deutlich geworden, dass einige Formen dokumentarischer Produktion neben den Grenzen der verwendeten Medien auch diejenigen der Diskurse von Dokumentarismus, Kunst und Aktivismus verschieben und verwischen. In der Aufweichung einer begrifflichen Engführung von Objektivität und dem Dokumentarischen im Allgemeinen und fotojournalistischen Praktiken im Speziellen wird vermehrt auch dem Fiktionalen eine Rolle beim Erzählen vom Realen und darüber eingeräumt. Bereits Chris Markers L’Ambassade (1973) bediente sich einer Grammatik des Dokumentarischen, indem er vorgab, anhand gefundenen Super-8-Materials die Ereignisse in einem nicht näher benannten Botschaftsgebäude8 wiederzugeben, nur um in der letzten Einstellung seine Fiktionalität auszustellen. Susanne von Falkenhausen nimmt dies zum Ausgangspunkt ihres Essays über die Lokalisierung des Dokumentarischen – in Form, Inhalt und Verbreitung – und die Tauglichkeit des Begriffs als Kategorie, anhand derer sie die Videoarbeiten der Künstlerin Angela Melitopoulos untersucht, die sich mit geteilten Erinnerungen, Geschichts- und Protesterfahrungen beschäftigt. Wie bereits am Beispiel von Rosler und Sekula gesehen, erscheinen auch Falkenhausen Künstler*innen oftmals als treibende Kraft hinter einer Ausweitung dokumentarischer Praktiken: „With the boundaries between art and documentary being crossed – mostly by artists and curators, less by the practitioners of documentary as genre – it might be worth looking at developments in this sphere.“ Anhand mehrerer in diesem Band vorgestellter Positionen lässt sich allerdings beobachten, dass diese Grenze vermehrt auch von Praktiker*innen überschritten wird, die nicht in der Kunst, sondern in der angewandten Fotografie reüssiert haben. Mehr aber, als nur eine Ausflucht aus dem krisengebeutelten System des Fotojournalismus zu suchen, geht es oftmals darum, die resultierende Verschiebung des Diskursraums auch in der Frage nach der Wirksamkeit der Bilder produktiv zu machen. Eine Frage, derer sich Falkenhausen am Beispiel Melitopoulos’ annimmt, wenn sie zeigt, wie sich Bilder von politischem Aktivismus von ebenjenem abgrenzen.
Wie Melitopoulos greift auch der ungarische Künstler Peter Puklus in seiner Arbeit The Epic Love Story of a Warrior auf ein Reservoir individueller und kollektiver Erinnerungsräume zurück, um eine auf Fakten basierende und dennoch fiktionale Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts zu erzählen. Es ist bei Puklus, wie Malte Radtki herausarbeitet, gerade der weitestgehende Verzicht auf Kontextualisierung durch Text, der ein grundsätzliches Zusammenwirken von Bild und Sprache veranschaulicht, an dem sich mit W. J. T Mitchell zeigen lässt, dass auch wenn „der verbale Diskurs in einem Bild vielleicht nur figürlich oder indirekt evoziert wird“, dies nicht bedeutet, „daß die Evokation ohnmächtig ist, daß der Betrachter im Bild nichts ,hört‘ oder ,liest‘“.9 Puklus’ Fotobuch The Epic Love Story of a Warrior steht hier beispielhaft für eine Tendenz fotografischer Arbeiten, historische, gesellschaftliche und soziale Fragestellungen zu bearbeiten, dabei aber weniger auf eine eindeutige Lesbarkeit abzuzielen, sondern die Leser*innen und Betrachter*innen aktiv in die Bedeutungskonstitution einzubeziehen, mehr noch, ihnen diese zu großen Teilen zu überlassen.
Joan Fontcuberta spannt in einem Essay über seine Googlegrams einen Bogen von den frühesten bekannten menschlichen Spuren über Edwin Aldrins Foto eines Fußabdrucks auf dem Mond zu den Algorithmen von Googles Bildersuche, in denen sich trotz aller Versuche zur Vereindeutigung die Polysemie der Bilder und die Inkommensurabilität von Bild und Text fortschreiben. Eine Google-Suche nach Aldrins ikonischem Bild anhand der vermeintlich eindeutigen Archivnummer #AS11-40-5878 bringt, neben dem Original, als zweites Ergebnis zugleich dessen Inszenierung zum Vorschein. Was sich als Teil einer Serie von Reinszenierungen des Schweizer Künstlerduos Cortis & Sonderegger entpuppt, verdeutlicht Fontcubertas Argument: Suchbegriff und Gesuchtes, Wort und Bild gehen nie vollständig ineinander auf, sondern generieren ein Rauschen im Archiv. Fontcuberta macht sich dieses Rauschen zunutze, wenn er für seine Googlegrams ikonische Bilder als Mosaike neu zusammensetzt. Die Bausteine der Mosaike sind die Ergebnisse einer Bildersuche nach thematisch verwandten Begriffen. Ein Folterbild aus dem amerikanischen Militärgefängnis in Abu Ghraib entsteht aus Bildern, die sich anhand der Namen aller im Abschlussbericht des mit der Aufklärung des Skandals beauftragten Panels genannten Personen im Internet finden. So entscheidet sich Fontcuberta nicht für Bild oder Text, sondern platziert seine Argumentation im Raum zwischen den Medien.
Eines Bildes aus Abu Ghraib bedient sich auch der Künstler Max Pinckers im letzten Kapitel seines Fotobuchs Margins of Excess. Die Geschichte hinter dem Foto des sogenannten Kapuzenmanns ist Teil von Pinckers’ Auseinandersetzung mit den Grenzbereichen des Dokumentarischen und der Problematisierung journalistischer Konventionen, die sich mit Lebensgeschichten konfrontiert sehen, die mit herkömmlichen Realitäts- und Wahrheitsbegriffen brechen. Ali Alqaisi handelte als tatsächliches Folteropfer in der Überzeugung, die auf dem berühmten Foto abgebildete Person zu sein. So wurde er, der im möglichen Moment der Aufnahme den Blick der Täter nicht erwidern, geschweige sich einer Kamera gewahr werden konnte, ob der Differenz zwischen Geschichte und Abbild der Lüge bezichtigt.
Pinckers eröffnet jedoch, wie Anna Stemmler in ihrer Analyse von Margins of Excess zeigt, „einen komplizierteren Möglichkeitsraum für die Vermischung von Fakten und Vorstellungen, aber auch für die Frage nach den Hintergründen des Lügens“. Gerade in der Übersetzungsleistung der Reinszenierungen und Interviews, in gefundenem Material und Auszügen aus journalistischer Berichterstattung wird – abseits von Objektivitäts- und Wahrheitsversprechen – sicht- und lesbar, dass Fiktion dazu beitragen kann, sich der Vielschichtigkeit und Ambiguität der Realität anzunähern.
Kontext schafft Bedeutung
Auch Bilder können Bildern einen Kontext geben, nicht nur Texte. Friedrich Weltzien beschreibt in seinem Beitrag über drei Beispiele des Fotocomics beide Varianten der Einordnung von Bildern: die durch Text, auch Paratexte, die zugleich eine Art dokumentarischen Lektürevertrag etablieren helfen, und die gegenseitige von Bildern aus unterschiedlichen Medien. Die wechselseitigen Rahmungen bestätigen, präzisieren und bestärken jedes der Bilder in Aussage und Glaubwürdigkeit. Dieser Effekt gewinnt an Kraft, je diverser die Techniken, Stile, Realitätsebenen oder Verweiszusammenhänge der sich komplementierenden Bildmaterialien sind. Insbesondere Fotografie und Zeichnung können sich in ihrer Zusammenführung authentifizieren.
Für Weltzien sind Kontexte als bedeutungskonstituierend unerlässlich, ein Ansatz, den auch Fred Ritchin teilt. In den technischen Optionen von Internet und Multimedia sieht der ehemalige Bildredakteur des New York Times Magazine sowohl die Gelegenheit für eine befreitere Beziehung zwischen Fotografien und den sie begleitenden Texten als auch eine andere Involvierung der Betrachtenden. Spielerische Zugänge von Hypermedien, die das lineare storytelling verlassen, werden den Ambiguitäten der Bilder und damit schließlich der Realität eher gerecht. Ein Anreichern mit zusätzlichen Informationen ist zwar mit hohem Aufwand verbunden, aber würde eine nie da gewesene Vertiefung bieten. Ritchin muss allerdings feststellen, dass viele Strategien der Verknüpfung verschiedenster Informationsebenen, die früh mit dem Aufkommen des Hypertexts entwickelt wurden, bis heute nicht vollumfänglich im journalistischen Alltag Fuß gefasst haben. Parallel dazu setzen sich Mechanismen der Informationsverzerrung und -verkürzung sehr viel effizienter durch.
Betrachter*innen und Leser*innen haben durch das Aufkommen von Digitalität und Social Media zugleich mehr und weniger Möglichkeiten, bei der Herstellung von Sinn mitzuwirken. Bezogen auf sein Projekt mit dem Fotojournalisten Gilles Peress von 1996, Bosnia: Uncertain Paths to Peace, berichtet Ritchin, wie in den dazugehörenden discussion groups eine lebhafte, teils auch hasserfüllte Konversation aufkam, die zwar von dem Zeugnis eines Fotografen (und dessen Einbettung in eine Nachrichtenorganisation) begonnen wurde, sich aber sehr schnell nicht linear und außerhalb der selbst gesteckten Verhaltensregeln des etablierten Journalismus fortsetzte. Im Anschluss an Christina Thürmer-Rohr sei an dieser Stelle ihre Zusammenführung zweier Zitate der Philosophin Hannah Arendt aufgegriffen: Arendt würdige das mitmenschliche Gespräch „wegen seines unerschöpflichen Reichtums und wegen ,der Freude an dem anderen und dem, was er sagt‘. Dieses Gespräch würde ,unweigerlich zum Stillstand kommen, wenn es eine Wahrheit gäbe, die allen Streit ein für allemal schlichtet‘.“10 Während feindselige und oft verkürzende Kommentare schwer zu ertragen sind und die Grenzen des mitmenschlichen Gesprächs sprengen, indem sie dem Gegenüber die für den Dialog grundlegende Anerkennung verwehren, ist auch der Hinweis auf das Aushalten konkurrierender Wahrheitsansprüche wesentlich für die Aufrechterhaltung des Austauschs. Eine Komplementarität der Zeugnisse im dokumentarischen Diskurs umfasst über für sich allein inadäquate Beschreibungssysteme hinaus nicht zuletzt das Sich-Ergänzen der verschiedensten Stimmen.
Erschienen in: Karen Fromm, Sophia Greiff, Malte Radtki und Anna Stemmler (Hg.): image/con/text. Dokumentarische Praktiken zwischen Journalismus, Kunst und Aktivismus, Berlin 2020, S. 6-16.