Mein Wasser, dein Wasser
Chile ist eines der wenigen Länder, in dem Wasser vollständig privatisiert ist. Ein Dorf in Patagonien kämpft gegen das Erbe Pinochets, um seine malerische Natur zu retten. Von Elena Prudlik, Raphael Knipping (Text), Stella Meyer und Sarah Schneider (Fotos)
«Der Vertreter der Firma Edelaysén schwitzte sehr stark», erinnert sich Frannie Parkinson. Als sie und ihr Freund Cristóbal Weber McKay im Frühjahr 2019 an einer Infoveranstaltung zum Bau eines neuen Wasserkraftwerks in Puerto Guadal teilnahmen, wurden sie sofort skeptisch. «Es gab viele Fragen zu den Bauplänen, und es war klar, dass das, was das Unternehmen präsentierte, nicht der Realität des Projekts entsprechen würde.» Dass das Bauvorhaben ihre Dorfgemeinschaft spalten könnte, ahnten sie damals noch nicht.
Franny, eine 35-jährige Amerikanerin aus Virginia, und der 33-jährige Chilene Cristóbal leben seit fünf Jahren in der 500-Einwohner*innen-Gemeinde Puerto Guadal, knapp 2000 Kilometer südlich von Santiago de Chile. Das ländliche Dorf mit seinen bunten Hütten liegt eingezwängt zwischen baumlosen Hügeln und dem Lago General Carrera, der etwa 3,5-mal so groß ist wie der Bodensee. Die Gletscher am Horizont des türkisblauen Sees lassen kaum erahnen, dass es in dieser Region Konflikte um Wasser geben könnte.
In der Nähe von Frannies und Cristóbals Haus bahnt sich ein kleiner Fluss, der Los Maquis, seinen Weg den Hang hinab. Kurz vor seiner Mündung in den Lago General Carrera rauscht das Wasser über mehrere natürliche Terrassen, die Wasserfälle und Becken bilden. Für die Bewohner von Puerto Guadal war der Los Maquis immer ein beliebtes Naherholungsgebiet, bis im Dezember 2019 die Baumaschinen anrollten.
Der Energieversorger Edelaysén begann mit dem Bau des Wasserkraftwerks und ließ baggern. Ein Arm des Flusses wurde aufgestaut und umgeleitet. Dort, wo früher Bäume den Hügel säumten, durchtrennt jetzt ein grünes Rohr und eine Zufahrtsstraße die Landschaft. Außerdem entstand am Fuße des Hügels ein neues Maschinenhaus in markantem Grün.
Frannie und Cristóbal wollten der Zerstörung des Idylls nicht tatenlos zusehen. Bereits als die ersten Bäume gerodet wurden, gründeten sie zusammen mit anderen Dorfbewohner*innen die Bürgerinitiative «Los Maquis Libres». Aus ihrer Sicht war der Bau illegal, da sich das Kraftwerk in einem Naturschutzgebiet befindet und ohne Umweltverträglichkeitsprüfung gebaut wurde. Los Maquis Libres sei «nicht gegen nachhaltige Energie oder das Projekt selbst, sondern dagegen, dass Edelaysén glaube, über den chilenischen Umweltgesetzen zu stehen, um Geld zu verdienen», sagt Cristóbal.
Neben verschiedenen Protestformen unternahm die Gruppe auch rechtliche Schritte. Die Klagen der Einwohner*innen von Guadal haben den Betrieb des Kraftwerks vorerst gestoppt. Edelaysén muss das Projekt der Umweltbehörde vorlegen, um zu prüfen, ob es die Anforderungen für den Betrieb erfüllt. «Wir haben die Klage als Kollektiv Los Maquis Libres eingereicht, da Edelaysén die geltenden Umweltgesetze nicht einhält», erklärt Cristóbal. «Bisher haben wir in beiden Klagen Recht bekommen.»
Der Kampf der Los Maquis Libres steht stellvertretend für viele Konflikte um Wasser in Chile. Mit dem Militärputsch Augusto Pinochets 1973 wurde das südamerikanische Land zum Experimentierfeld für neoliberale Ideen. Besonders die «Chicago Boys», eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die an der Universität Chicago ausgebildet wurden und von neoliberalen Ideen inspiriert waren, sorgten für eine beispiellose Politik der Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung des chilenischen Marktes.
Folgen dieser Agenda sind auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende von Pinochets Diktatur in Chile spürbar. Es ist eines der wenigen Länder der Erde, in dem Wasser vollständig privatisiert ist. Bedeutet: Große Teile der Wasserressourcen werden von wenigen Akteuren kontrolliert. Die Auswirkungen dieser Politik sind besonders in ländlichen und abgelegenen Regionen wie Aysén zu spüren, wo lokale Gemeinschaften oft gegen mächtige Unternehmen kämpfen müssen, um ihre Wasserrechte und die Umwelt zu schützen. Private Eigentümer können das gesamte Wasser eines Flusses beanspruchen, was anderen Menschen die Nutzung dieses Wassers verwehrt. Im Falle des Maquis besitzen die Eigentümer des Grundstücks, auf dem sich das Kraftwerk befindet, die gesamten Wasserrechte des Maquis-Flusses. Der Eigentümer, Edelaysén, gehört wiederum einem kanadischen Lehrer-Pensionsfonds und einer kanadischen Investmentgesellschaft.
Chile mangelt es mit 1.251 Flüssen, 12.784 Seen und 24.114 Gletschern wahrlich nicht an Wasser. Es ist schlicht ungleich verteilt. Laut dem Wasserrisiko-Atlas des World Resource Institute gehört Chile zu den achtzehn Ländern mit dem größten Wasserstress weltweit. Es wird also mehr Wasser verbraucht, als durch Regen auf natürlichem Wege nachfließen kann. Für die Bevölkerung bedeutet das, weder eine gesicherte Trinkwasserversorgung noch genügend Wasser für sanitäre Anlagen zur Verfügung zu haben. Zahlen der Universidad de Chile zufolge haben 47,2 Prozent der Bevölkerung keinen regelmäßigen Zugang zu einer ausreichenden Wasserversorgung.
Der Klimawandel wird das Land zukünftig noch vor größere Probleme stellen, ist aber nicht der einzige Grund für den Wassermangel. 2017 verbrauchte Chiles Landwirtschaft 73 Prozent des verfügbaren Wassers. Zum Vergleich: In Deutschland sind es lediglich zwei Prozent. Die Avocados, Äpfel und Trauben Chiles werden dann meist exportiert und landen in den Supermärkten auf der ganzen Welt.
Die Wasserprivatisierung hat noch einen weiteren Nebeneffekt: Der Spekulationsmarkt mit Wasserrechten floriert. Reiche kaufen Wasserrechte, ohne sie zu nutzen, und verkaufen sie später teurer weiter. Laut einer Studie der Universidad de las Américas verbraucht ein Prozent der Eigentümer von Wasserrechten 70 Prozent des verfügbaren Wasservolumens.
Código de Aguas
Chiles Wassergesetz und der Kampf um gerechte Ressourcenverteilung
1. Was ist der Hintergrund des Código de Aguas?
Der Código de Aguas von 1981 ist ein zentrales Gesetz in Chile, das während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet verabschiedet wurde. Es regelt die Nutzung und Verwaltung der Wasserressourcen des Landes und bildet bis heute die Grundlage für das chilenische Wassermanagement. Das Gesetz hat weitreichende wirtschaftliche, soziale und ökologische Auswirkungen und ist sowohl Gegenstand von Lob als auch von Kritik.
Quelle: Ingo Gentes, Zur Rechtsgeschichte der Wasserverwaltung in Iberoamerika – Das Beispiel Chile, in forum historiae iuris (zuletzt abgerufen am 17. August 2024)
2. Was sind die Hauptbestimmungen des Gesetzes?
Artikel 5 des Código de Aguas erklärt Wasser zu einem nationalen Gut öffentlichen Gebrauchs (bien nacional de uso público). Obwohl Wasser damit als Eigentum der Nation anerkannt wird, ermöglicht der Artikel gleichzeitig die Vergabe von Wasserbenutzungsrechten an Privatpersonen und Organisationen. Diese Rechte sind dauerhaft und handelbar, was zur Entstehung eines Marktes für Wasserrechte geführt hat. Inhaber dieser Rechte dürfen Wasser aus natürlichen Quellen entnehmen und nutzen, müssen jedoch die festgelegten gesetzlichen Bedingungen einhalten.
Die Dirección General de Aguas (DGA), wie in Artikel 2 des Gesetzes festgelegt, ist die zuständige staatliche Behörde für die Umsetzung und Durchsetzung des Wassergesetzes. Die DGA überwacht die Vergabe von Wasserrechten, stellt die Einhaltung der Nutzungsbedingungen sicher und ist für das Management der Wasserressourcen auf nationaler Ebene verantwortlich.
Bei Verstößen gegen das Wassergesetz, insbesondere bei der unbefugten Entnahme von Wasser ohne entsprechendes Nutzungsrecht, sieht der Código de Aguas in Artikel 173 Sanktionen vor. Diese umfassen Geldstrafen, die von der DGA verhängt werden. Die Höhe der Strafen hängt von verschiedenen Faktoren ab:
• Menge und Dauer der unbefugten Wasserentnahme.
• Umweltauswirkungen und mögliche Schäden an Ökosystemen.
• Wiederholungsfälle, die zu erhöhten Strafen führen können.
Die Sanktionen dienen sowohl der Bestrafung als auch der Abschreckung, um einen nachhaltigen Umgang mit Wasserressourcen zu fördern.
Quelle: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile, Ley Chile
3. Welche Auswirkungen und Debatten gibt es um den Código de Aguas?
Der Código de Aguas hat im Laufe der Jahre zu intensiven Debatten geführt. Kritiker bemängeln, dass die Privatisierung und der Handel mit Wasserrechten zu sozialen Ungleichheiten führen. Sie argumentieren, dass der Zugang zu Wasser für ärmere Bevölkerungsgruppen erschwert wird und Umweltauswirkungen nicht ausreichend berücksichtigt werden, was die Übernutzung von Wasserressourcen begünstigt.
Auf der anderen Seite betonen Befürworter, dass das Gesetz die wirtschaftliche Effizienz fördert. Durch die Nutzung von Marktmechanismen wird Wasser dorthin gelenkt, wo es am dringendsten benötigt wird. Die Handelbarkeit von Wasserrechten schafft Anreize für Investitionen in Infrastruktur und fördert eine effiziente Wassernutzung.
Quellen: Deutsche Welle, Universidad de Chile
4. Welche Reformen gibt es?
Am 6. April 2022 wurde die Gesetzesreform Nr. 21.435 veröffentlicht, die den Código de Aguas modifiziert. Diese Reform erkennt den Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen als ein unveräußerliches Menschenrecht an und betont den öffentlichen Charakter des Wassers. Zudem wurden neue Regelungen für die Vergabe, Ausübung und den Entzug von Wasserrechten eingeführt, um die Funktion des Süßwassers in terrestrischen Ökosystemen zu schützen und zu stärken.
Quelle: Universidad de Chile
Der Kampf von Los Maquis Libres richtet sich daher nicht nur gegen die Zerstörung der Natur in Puerto Guadal. Er richtet sich gegen die Wasserprivatisierung als Ganzes. Und die Gruppe ist mit ihren Protesten nicht alleine. Im Oktober 2019 rollte eine beispiellose Welle des Protestes über Chile. Ausgelöst durch eine Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise in Santiago gingen Millionen Chilen*innen gegen soziale Ungerechtigkeit auf die Straße und stellten bald weitreichendere Forderungen: Der Staat solle die Verfassung ändern und darin mehr Umweltschutz und mehr Rechte für Indigene verankern. Im September 2022 stimmten 62 Prozent der Chilenen gegen eine neue Verfassung, die auch eine Überarbeitung des Wassergesetzes vorgesehen hätte.
Anfangs schlossen sich viele Bewohner*innen Puerto Guadals der Bürgerbewegung «Los Maquis Libres» an. Bald aber begann die Stadtverwaltung, Druck auf die Gruppe auszuüben. Der Bürgermeister verbot ihnen, im Radio zu sprechen. Aktivist*innen, die ein öffentliches Amt innehatten, fürchteten um ihren Arbeitsplatz. Und die Stadtverwaltung hat Erfolg: Das kleine Dorf spaltet sich in Befürworter*innen und Gegner*innen des Wasserkraftwerks.
Solange die Gerichtsverfahren nicht abgeschlossen sind, produziert das Kraftwerk in Puerto Guadal keinen Strom. Für Frannie und Cristóbal ist das nicht genug: «Ich wünsche mir, dass Umweltgesetze von der Regierung und ihren Politikern und Institutionen eingehalten und respektiert werden», sagt Franny. «Ich wünsche mir, dass Wasser in Chile nicht mehr privatisiert ist und dass mehr Menschen erkennen, dass ihre Handlungen einen Unterschied machen können, wenn es um Umweltungerechtigkeiten in ihren Gemeinschaften geht.»
«Was geht hier vor sich?»
Die Fotografinnen Stella Meyer und Sarah Schneider über ihre Recherche in Chile (Video auf Englisch).