Luzides Träumen: Wach im eigenen Kopfkino
Reality Shifting boomt auf TikTok – Jugendliche schwärmen von Reisen in Fantasiewelten. Dabei ist das bewusste Steuern von Träumen längst Gegenstand der Schlafforschung – und kommt ohne App aus.
Von Lotta Fuhrken (Text) und Clara Schoettke (Fotos)

Fliegen wie ein Vogel, in Fantasiewelten abtauchen oder ein Leben nach den eigenen Wünschen gestalten – viele träumen davon, die Grenzen der Realität zu überwinden. Luzides Träumen und Reality Shifting sollen genau das möglich machen. Drei Menschen teilen ihre Erfahrungen: Daniel Wünsch, ein Coach für luzides Träumen, der Traumforscher Prof. Dr. Michael Schredl und die Autorin Johanna Koers. Sie erzählen, wie sie diese Phänomene auf ihre Weise erleben.
Luzides Träumen, oder auch Klarträumen genannt, beschreibt den Zustand, in dem wir uns bewusst sind, dass wir träumen. Das gibt uns bei manchen Klarträumen auch die Fähigkeit, die Traumwelt aktiv zu gestalten. Diese Art vom Träumen wurde um 1980 von zwei Forschern, Stephen LaBerge und Keith Hearne, unabhängig voneinander bewiesen. Coach Daniel Wünsch beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit luziden Träumen und sagt, dass Klarträumen nicht nur ein Abenteuer, sondern auch ein Werkzeug zur Persönlichkeitsentwicklung sei. Selbst habe er einen Albtraum durch Klarträume aufgelöst, der ihn 27 Jahre verfolgt hatte. Dadurch fand Daniel Wünsch auch zu seiner Berufung und möchte so vielen Menschen, wie es nur geht, luzides Träumen beibringen.
Irgendwann dachte ich, dass es auch total schön ist, nicht luzide zu träumen. Und nicht wie schon in der Realität bewusst Entscheidungen zu treffen und fast alles zu steuern.


Über die Fotos in diesem Beitrag
In ihrer Fotoserie «Wach und Schlaf» portraitiert und interviewt Clara Schöttke befreundete Flinta-Personen. Durch das Arbeiten mit Cyanotypien verbindet Clara Schöttke Technik mit Inhalt und thematisiert somit den Gegensatz, aber auch die Notwendigkeit zwischen Tag und Nacht. Bei dem Cyanotypie-Verfahren wird Aquarellpapier mit lichtsensibler Chemie bestrichen und anschließend in dunkler Umgebung getrocknet. Daraufhin wird das Negativ auf das Papier gelegt, und mit UV-Strahlen belichtet, sodass sich die Fotografie auf das Papier überträgt. Der prägnante Blauton entsteht durch das nachträgliche Auswaschen und Oxidierung der Chemie. Luzide Träume waren ursprünglich kein Kriterium bei der Auswahl der Protagonistinnen und wurden erst in der Aufbereitung für diesen Artikel nachträglich angesprochen.
Traumforscher Prof. Dr. Michael Schredl erforscht schon seit vielen Jahren luzides Träumen am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und erklärt auch, dass diese Art vom Träumen durch Disziplin erlernt werden kann. Dabei helfen verschiedene Taktiken, wie sogenannte Realitätschecks: Träumende überprüfen am Tag immer wieder ihren Wachzustand, um diese Gewohnheit dann auch im Traum zu entwickeln. Damit werden sich Schlafende dann bewusst, dass sie träumen und dass sie diesen Traum aktiv als so einen wahrnehmen. Auch Schredl erläutert, dass Menschen luzide Träume nutzen können. Zum Beispiel für die Kreativität in der Musik oder Malerei. Sportler haben ebenfalls schon vereinzelt luzide Träume genutzt, um motorische Fähigkeiten im Schlaf durchzugehen und diese zu verbessern.
Reality Shifting ist ein Trend aus den sozialen Medien und in keiner Weise bis jetzt wissenschaftlich bewiesen. In kleinen Videoclips auf Tiktok behaupten Menschen, sie könnten bewusst in alternative Realitäten «wechseln». Unter Hashtags wie #realityshifting oder #desiredreality finden sich hunderte von Videos, in denen vor allem Jugendliche von ihren nächtlichen Abenteuern in etwa Fantasiewelten aus Filmen oder Büchern berichten. Besonders beliebt ist bei den Praktizierenden dieses Trends unter anderem die Zauberwelt Hogwarts. Dabei schreiben sie sich vorab eine Art Skript, welche Realität sie anstreben. Danach legen sich die Shifter*innen abends bewusst mit der Intention ins Bett, in eine andere Welt zu tauchen. Johanna Koers ist eine Autorin aus dem Emsland und hat ein Buch geschrieben, dass sich unter anderem auch um Reality Shifting dreht. Aufmerksam geworden auf diesen Trend ist sie durch ihre zwei ältesten Kinder. „Meine Töchter wollten plötzlich immer früh ins Bett, da wurde ich stutzig. Als ich nachfragte, meinten die Beiden zu mir, sie würden shiften gehen.“ Ihre Tochter Emma und ihre Schwester haben es ausprobiert zu shiften. Bei Emma selbst hat es nie geklappt und mittlerweile glaubt sie nicht mehr, dass Shiften möglich ist. Auch ihre Mutter Johanna Koers sagt zu dem Trend: „Vielleicht haben wir auch einfach nur luzide Träume und denken, dass es Realität ist, weil es sich so echt anfühlt.“ Trotzdem inspirierte dieser Trend die Autorin und es entstand ein Jugendthriller.
Vor allem Jugendliche könnten sich immer weiter von ihrer eigentlichen Realität entfremden, wenn sie zu viel Zeit mit ihrer Fantasiewelt verbringen





Was beide Methoden verbindet, ist der Wunsch, aus der Realität auszubrechen. Daniel Wünsch erklärt, dass luzides Träumen Menschen helfe, ihre Träume auch im Alltag zu verwirklichen, indem sie innere Blockaden überwinden und Vertrauen aufbauen. Prof. Dr. Schredl ergänzt, dass viele Menschen luzide Träume bewusst zur kreativen Entfaltung verwenden.
Nachts den Schlaf effektiv zu nutzen und auch noch Positives damit zu verbinden, das klingt definitiv «traumhaft». Reality Shifting und luzides Träumen bergen Potenziale, aber auch Gefahren. Der ständige Wunsch nach Flucht in diese andere grenzenlose Welt kann dazu führen, dass Menschen den Bezug zur Realität verlieren. Bei dem Trend Reality Shifting sieht Johanna Koers auch negative Aspekte: «Vor allem Jugendliche könnten sich immer weiter von ihrer eigentlichen Realität entfremden, wenn sie zu viel Zeit mit ihrer Fantasiewelt verbringen». Auch Prof. Dr. Michael Schredl betont, dass nicht alles am luziden Träumen positiv ist. «Wenn man tagsüber einsam ist, kann luzides Träumen das Gefühl der Einsamkeit verstärken, weil man weiß, dass alle Personen im Traum nur Projektionen des eigenen Geistes sind.» Ebenfalls kann man sich in einem Albtraum gefangen fühlen und einfach nicht in der Lage sein, die Kontrolle zu übernehmen. Die zwei Phänomene lassen sich also schon als eine Fluchtmöglichkeit vom Alltag ansehen, jedoch sind sowohl luzides Träumen als auch Reality Shifting häufig mit viel Arbeitsaufwand verbunden. Der Erfolg und ein positives Erlebnis sind nicht garantiert und somit nur bedingt hilfreich, wenn man auf Dauer der Realität entfliehen möchte.
Nach dem Aufwachen verschwinden die Träume relativ schnell, aber manche Bilder brennen sich ein.

