Schlafen bis der Arzt kommt

Unkontrollierbare Schlafattacken, Halluzinationen und quälende Müdigkeit: Darunter leidet Studentin Livia Sommer. Ein Schlaflabor testet sie auf die Schlafkrankheit Narkolepsie – und stellt eine unerwartete Diagnose.
Von Antonia Röhrer (Text) und Anton Vester (Fotos)

Es fühlt sich an, wie ein Kaugummi. Wie ein Kaugummi an der Innenseite ihrer Schädeldecke. Livia Sommer* versucht, gegen eine sich anbahnende Schlafattacke zu kämpfen. Der Kaugummi wird länger und länger, sie versucht, ihn mit ihren Gedanken wieder zurückzukleben und damit wach zu bleiben. Es klappt nicht. Irgendwann macht es «Plopp» und der Kaugummi löst sich vom Knochen ab. Ein Gefühl, als würden die Welten verschwimmen. Sie nimmt wahr, was um sie herum passiert, und gleichzeitig ist sie am Träumen. Sommer schläft ein, und das mitten in der Universitätsbibliothek in Hannovers Innenstadt. Mal wieder.

Die Studentin Livia Sommer sitzt tagsüber in der Universitätsbibliothek. In der Hand hält sie ein Buch, ihre Augen sind geschlossen. Hannover, Juni 2024

Studentin Livia Sommer (Name geändert) in der Universitätsbibliothek der TIB – beim Lernen ist sie dort schon oft plötzlich eingeschlafen.



Das Gefühl, das sich anfühlt wie ein Kaugummi, ist nichts Neues für sie: Schlaf bestimmt mittlerweile Sommers Alltag. Sie schläft mehrmals am Tag und das unabhängig davon, wo sie sich gerade befindet – in der Vorlesung, auf der Arbeit, im Auto. Unter ähnlichen Schlafattacken leiden auch rund 40.000 Menschen in Deutschland, die von Narkolepsie betroffen sind. Die neurologische Erkrankung steht nun auch bei der Studentin im Raum. Deshalb macht Sommer sich heute auf den Weg in eins der drei neurologischen Schlaflabore in Niedersachsen: dem Schlaflabor im Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge. In einem der zwei Betten der Klinik testen Ärzte heute Nacht, ob Sommer, wie vermutet, von der «Schlafsucht» betroffen ist. 

Livia Sommer sitzt im Krankenhaussprechzimmer am Tisch mit dem Chefarzt Dr. Evers, den man nur von hinten sieht. Sein Blick durch die Brille geht auf den Tisch, wo er einige Unterlagen ausgebreitet hat. Der Arzt will sie über die bevorstehenden Untersuchungen aufklären. Coppenbrügge, Krankenhaus Lindenbrunn Schlaflabor

Am ersten Tag ihres Krankenhausaufenthalts führt Chefarzt Dr. Evers das Aufnahmegespräch durch und klärt über die bevorstehenden Untersuchungen auf.


Im Moment bin ich in einer soliden, mittel-schlechten Phase. Als ich vergangenes Jahr den Termin hier bekommen habe, dachte ich‚ hoffentlich sterbe ich bis dahin nicht.

Sommer sitzt in ihrem Krankenhauszimmer. Nachdem die Haut entfettet wurde, bringt die Krankenpflegerin Marie Drebing die ersten zwei Elektroden im Augenbereich von Sommer an. Sie sorgen dafür, dass die Augenbewegungen getrackt werden können. Das Licht scheint ihr warm ins Gesicht.

Krankenpflegerin Marie Drebing klebt die ersten zwei Elektroden im Augenbereich an – sie messen Livias Augenbewegungen im Schlaf.

Eine Elektrodencremetube liegt auf den medizinischen Unterlagen von Sommer.

Als Gedankenstütze zur Kopfverkabelung nutzt Krankenpflegerin Marie Drebing eine Skizze.

Sommer wird verkabelt. Die 24-Jährige sitzt in einem T-Shirt und ihrer Schlafhose auf der Kante ihres Bettes im Schlaflabor. Es ist 20 Uhr, alles ist bereit für die anstehende Polysomnographie, die Untersuchung, die über einen Teil von Sommers Zukunft entscheiden wird. «Entfettung, Aufrauung, optimale Leitfähigkeit», steht auf der Creme, die Krankenpflegerin Marie Drebing ihr gerade im Gesicht aufträgt. Jetzt kommen die weißen Klebeelektroden ins Gesicht: Eine aufs Kinn, zwei hinter die Ohren, zwei links und rechts der Mundpartie, eine auf der Stirn und zwei über- und unterhalb der Augenpartie. Gurte umschlingen eng den Körper der Patientin, so eng wie es angenehm möglich ist, denn die Sensoren darin sollen heute Nacht ihre Atmung messen. Der nächste Schritt: Gips in die Haare. Krankenpflegerin nimmt eine grüne und eine orangefarbene Napfelektrode und drückt sie an. Die Napfelektroden messen die Hirnaktivitäten der Studentin im Schlaf. Drebing legt ein Kabel um Sommers Kopf bis unter ihre Nase: Hier misst ein kleines Gerät, ob die Studentin durch den Mund oder die Nase atmet. Ein Mikrofon neben ihrem Kehlkopf, Elektroden an den Beinen, und fertig. Viel ist von ihrem Gesicht nun nicht mehr zu sehen: Ihre Nase schaut zwischen den Kabeln und ihrer Brille hervor. 

Sekundenschlaf: Zu müde zum Autofahren

«Im Moment bin ich in einer soliden, mittel-schlechten Phase. Als ich vergangenes Jahr den Termin hier bekommen habe, dachte ich «‚hoffentlich sterbe ich bis dahin nicht‘», erzählt die Studentin. Seit fast drei Jahren kann sie nicht mehr steuern, wann sie tagsüber einschläft. Fast täglich hat sie Schlafattacken: Sie nickt weg, wann immer ihr Körper sich dazu entscheidet, ist ihrem eigenen Schlaf hilflos ausgeliefert. Normalerweise dauernd diese Attacken zwischen fünf und 20 Minuten und an schlechten Tagen treten sie auch mehrmals auf. «Der Punkt ist, dass ich absolut nichts dagegen unternehmen kann, einzuschlafen», sagt sie. Sommer hat vieles probiert: Koffein, Herumlaufen, sich Beschäftigen. Alles Strategien, die das Einschlafen aber nur herauszögern. In solchen Situationen kann es dann richtig gefährlich werden. «Manchmal musste ich beim Autofahren anhalten, weil ich sonst vor Müdigkeit in den Graben gefahren wäre. Hin und wieder hatte ich auch Sekundenschlaf», sagt Sommer. Der Grund, warum sie nun lieber den Fuß vom Gaspedal lässt. Fahren ohne Medikation könnte sogar rechtliche Konsequenzen haben. Würde der Studentin nun Narkolepsie diagnostiziert werden, könnte sich das ändern – denn die Symptome der neurologischen Erkrankung sind mit Tabletten behandelbar. «Ich hoffe, dass es mir diagnostiziert wird. Dann hätte ich zumindest eine Antwort und könnte mit den Medikamenten wieder etwas besser am Leben teilnehmen», sagt Sommer.  

Zu sehen ist eine Kamera, womit Sommer in der Nacht beobachtet wird.

Das Patientenzimmer wird während der gesamten Untersuchung der Polysomnographie durch eine Live-Kamera aufgezeichnet. Die Bilder liefern eigene Informationen, die später im Zusammenhang mit Messwerten aufschlussreich sein können.

Zu sehen ist ein Screenshot der Aufzeichnung der Messung von Sommers und ein Überwachungsbild der Patientin, wie sie sich das erste Mal selbst über ihr Handy anschaut.

Messbeginn im Schlaflabor: Marie Drebing prüft die Elektroden. Gemessen werden u.a. Hirnströme, Atmung, Augen- und Beinbewegungen. Auf dem Überwachungsbild ist die Patientin zu sehen, wie sie sich das erste Mal selbst über ihr Handy anschaut.

Krankenpflegerin Drebing drückt auf einen schwarzen Knopf auf dem Kästchen an Sommers Bauch, mit dem alle Kabel verbunden sind. Jetzt beginnt die Aufzeichnung. Sommer steht unter voller Beobachtung, auch die Kamera über dem Bett nimmt jede einzelne Bewegung der Patientin auf. «Innerhalb von zehn Minuten wird jetzt die Messung in Gang gebracht», sagt die Krankenpflegerin. Die Kamera überträgt ihre Aufzeichnung auf den Computer im Nebenraum. Dort beginnt gerade die Messung: Von links nach rechts zeichnen sich bunte Linien auf dem Bildschirm ab. Herzfrequenz, Atmung und Sommers Hirnströme. In der Mitte des Bildschirms: Die Patientin in schwarzweiß, die sich gerade in der Innenkamera ihres Smartphones betrachtet. Drebing klickt sich durch das System, um zu prüfen, ob die Elektroden alle Signale ableiten. «Alles ist grün und jede Linie ist zu sehen. Das bedeutet, dass alles ableitet. Ich bin zufrieden», sagt sie. Nun heißt es: Flugmodus an und Schlafenszeit. 

Sommer schläft in dem Bett des Schlaflabors. Man kann sehen, dass sie am ganzen Kopf verkabelt ist. Das Licht ist gedimmt, sodass man sie nur dezent erkennen kann.

Wie sich anhand der Datenaufzeichnung zurückverfolgen lässt, schlief Livia am ersten Abend um 22:22 Uhr ein.


Wenn ich einschlafe, nehme ich noch wahr, was um mich herum passiert, aber gleichzeitig bin ich irgendwie auch schon am Träumen. Das vermischt sich sehr merkwürdig.

Die Krankenschwester schaut sich Sommers Werte auf dem Computer an. Der Bildschirm leuchtet ihr ins Gesicht, während der Raum dunkel wirkt.

Die Krankenpflegerin Marie Drebing überprüft, ob die Elektroden ableiten. Der erste Eindruck bestätigt sich: Alle Elektroden übertragen erfolgreich Daten.

Hypnagoge Halluzinationen: Sommer sieht Dinge, die nicht existieren 

«Wenn ich einschlafe, nehme ich noch wahr, was um mich herum passiert, aber gleichzeitig bin ich irgendwie auch schon am Träumen. Das vermischt sich sehr merkwürdig. Ich nehme dann Dinge wahr, die gar nicht passieren, oder sehe eben in echt Dinge, die eigentlich in meinem Traum passieren», sagt Sommer. Hypnagogische Halluzinationen nennt sich das – typisch für Narkolepsie. Ebenfalls typisch: Die Schlafattacken. Allerdings schläft Sommer nachts gut durch, das ist bei Menschen mit Narkolepsie meist nicht der Fall.  «Ich wusste nicht, dass das Durchschlafen ein Problem sein könnte», sagt diese. Ein weiteres fehlendes Symptom sind Kataplexien, also Muskeltonusverluste, bei denen Betroffene bei starken Emotionen zusammensacken. 

Sommer liegt auf einem Gartenstuhl des Schlaflabors und scheint eingeschlafen zu sein.

Am zweiten Tag wird eine weitere Untersuchung durchgeführt. Dabei soll Livia versuchen, 5 Mal im Rhythmus von 30 Minuten zu schlafen und 90 Minuten zu pausieren, den Tag zu gestalten. Auf dem Bild befindet sie sich in der Pause im Garten der Klinik.

Nächster Morgen, 11:22 Uhr. Sommer hat die Polysomnographie hinter sich. Heute steht ein Multipler Schlaflatenztest an: Fünfmal muss sie sich für jeweils 30 Minuten schlafen legen. Die erste Runde hat sie bereits hinter sich, nun wertet Dr. Kirsten Wolfgramm, Oberärztin der Neurologie, die Ergebnisse der Nacht aus. «Die Aufzeichnungen waren gut, Sie haben aber keine verfrühte REM-Schlafphase, wie das bei Narkolepsie der Fall ist», sagt die Ärztin. Schnelle Augenbewegungen, bei geschlossenen Lidern: Das kennzeichnet solch eine REM-Schlafphase. Auf dem Bildschirm geht Dr. Wolfgramm Schritt für Schritt die Aufzeichnung der Nacht durch – REM-Schlafphasen lassen sich erst später finden. Viele der Symptome passen zu Narkolepsie – viele aber auch nicht. «Können Sie nach den Tests heute noch eine Nacht bleiben?», fragt Dr. Wolfgramm. Sommer kann. 

*Name geändert


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