Nachts im Dorf
Shisha in der Scheune, Bier in der Laube, eine Spritztour durchs Nirgendwo: Wie junge Menschen die Nacht auf dem Land gestalten. Eine Reportage aus Münchehagen, Niedersachsen. Von Jonathan Bar-Am, Annica-Farina Badowski (Text) und Lena Kunz (Fotos)

«Das Nachtleben hier ist einfach ganz anders als in der Stadt», sagt Lena. Die 24-jährige Studentin ist in Münchehagen aufgewachsen, einem kleinen Dorf zwischen Hannover und Osnabrück. «Clubs oder Bars gibt es nicht. Wir haben uns immer am Waldrand, auf Spielplätzen oder im Garten getroffen.»
Backsteinhäuser, Pferdekoppeln, ein McDonalds und noch mehr kleine Backsteinhäuser. Wir sind auf dem Weg nach Münchehagen, um Jugendliche zu treffen, die ländlich aufwachsen – so wie Lena damals. Seit drei Dörfern und einer halben Stunde Autofahrt haben wir keine Menschen mehr gesehen, und das an einem Samstagabend. Wir fahren an der «Deutschen Eiche» vorbei, die Gaststätte ist nicht beleuchtet. Wenige Meter weiter das «Deutsche Haus», auch das ist geschlossen. Wir parken neben einem Traktor. In der Garage stehen zwei weitere Oldtimer-Traktoren. Der Dachboden darüber ist mit Sofaecke, Minibar und Fernseher eingerichtet. Auf YouTube ziehen sich gerade Traktoren gegenseitig durch ein Schlammfeld. «So ist das halt hier auf dem Dorf!» Wir werden lachend begrüßt und bekommen ein Bier angeboten.

Der «Schuppen» ist ein zentraler Treffpunkt für junge Erwachsene im Dorf. An Wochenenden finden hier häufig Geburtstagsfeiern und andere Partys statt.
«Früher, da haben wir uns immer irgendwas gesucht, wo man sich hinstellen kann, irgendeine Bank oder Hütte, die ins Feld gebaut wurde. Man macht vielleicht eine kleine Fete oder so, trinkt was und grillt zusammen. Aber jetzt gibt’s den Schuppen», erklärt uns Jannik. Eine ausgebaute Bauernscheune wie aus dem Bilderbuch. Dass «alles selber gemacht» wurde, sieht nicht nur in den stolzen Gesichtern gut aus. Und tatsächlich könnten Tischkicker, Billardtisch und Spielautomat es mit jeder städtischen Studentenkneipe aufnehmen.
«Es gibt vielleicht weniger formale, institutionalisierte Räume, aber es gibt ganz viel Freiraum. Und die meisten Jugendlichen leben in Eigenheimen mit großen Gärten und die dürfen sie auch nutzen», sagt Andrea Moser von der Agrarsozialen Gesellschaft e.V. Somit sei es auch eigentlich nicht verwunderlich, dass die Zufriedenheit von Jugendlichen in ländlichen Regionen meistens sehr hoch sei – hingegen vieler Vorurteile. Das bestätigen die Ergebnisse einer bundesweiten empirischen Untersuchung, an der Andrea Moser beteiligt war. Weitere Forschungen zeigen, dass die Bevölkerungskurve in ländlichen Regionen zuletzt auch angestiegen ist. So sei sogar zunehmend zu beobachten, wie Jugendliche in ihrer ländlichen Heimat bleiben, während junge Familien aus der Stadt zuziehen. Im Grünen zu leben, das wünschen sich viele. Und die Dorfjugend trifft sich dann eben auch mal am Waldrand, um Bierpong zu spielen.
Es gibt vielleicht weniger institutionalisierte Räume, aber es gibt ganz viel Freiraum. Die meisten Jugendlichen leben in Eigenheimen mit großen Gärten und die dürfen sie auch nutzen. Das bietet Möglichkeiten zur Selbstinitiative.


Lenas Elternhaus. Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen, kann sie sich nicht mehr vorstellen zurück zu ziehen.

Einer der letzten Abende für dieses Jahr im «Schuppen». Ab November ist es dort zu kalt.
Was als kleines DIY-Corona-Projekt in der Scheune anfing, wurde zum etablierten Treffpunkt in Münchehagen. Mittlerweile kommen nicht mehr nur der Freundeskreis und die Dorfjugend im «Schuppen» zusammen, selbst die älteren Herrschaften leisten gerne Gesellschaft. Somit muss sich auch niemand wegen Ruhestörungen Sorgen machen. Mit den Nachbarn hat man sich gut gestellt und die meisten kommen selbst gerne ab und zu auf einen Absacker vorbei. Also auch die Polizei und der Pastor, aber nur privat. Augenzwinkern – so ist das halt hier auf dem Dorf.
Dass die Politik Alternativen schaffen sollte, fordert kaum jemand. Man nehme die Dinge hier lieber selbst in die Hand – über Dorfvereine, die Feuerwehr oder, wie im Fall des «Schuppens», die elterliche Scheune. Das Engagement ist groß, auch unter Jugendlichen. Wiebke Osigus (SPD), bis vor Kurzem noch niedersächsische Ministerin für Regionale Entwicklung, sagt dazu: «Politik kann nicht alles leisten – und schon gar nicht überall so, wie wir uns das wünschen. Insofern sind wir darauf angewiesen, nicht zuletzt im Ehrenamt, dass sich alle selbst einbringen.»
Osigus stammt selbst aus dem ländlichen Raum bei Hannover. Beim Gespräch war sie noch Ministerin, inzwischen ist das Ministerium aufgelöst. Sie sitzt nun als einfache Abgeordnete im Landtag, bleibt regionalpolitisch aktiv – und kennt sich bestens aus mit Oldie-Partys und «Eierbacken auf dem Dorf».
Politik kann nicht alles leisten – und schon gar nicht überall so, wie wir uns das wünschen. Insofern sind wir darauf angewiesen, nicht zuletzt im Ehrenamt, dass sich alle selbst einbringen.


«In der Stadt ist alles so schnell und laut und man trifft dann tausende von Leute in wenigen Minuten», sagt Silas.

«Man fährt abends halt oft mal mit dem Auto rum. Wir sagen dazu immer OKF. Also Ortskontrollfahrt», sagt Esther.

Erst in der nächsten Stadt gibt es einen Club, oder eine Kneipe im nächsten Dorf.
Im Sommer haben wir uns nachts oft an einem Waldrand getroffen und haben den Bierpongtisch mitgenommen, oder wir sind über den Zaun vom Freibad geklettert um schwimmen zu gehen.

Alkohol ist fast immer Teil der dörflichen Nächte – beim Grillen, beim Feiern oder einfach im «Schuppen». Aber wie viel ist noch normal? «Ein Alkoholproblem besteht doch eigentlich in ganz Deutschland», sagt Jannik. «Hier trinkt jeder mal sein Feierabendbier. Mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Es ist halt Auslegungssache, würde ich behaupten.» Als der Schuppen wegen einer Shisha schon mal fast anfing zu brennen, seien immerhin alle noch in der Lage gewesen, das Feuer selbst zu löschen – mit Apfelsaft. Die Getränke für die Bar im «Schuppen» werden gemeinschaftlich finanziert.
Natürlich fährt nachts dann kein Bus mehr in Münchehagen. Somit bleibt nur der Weg zu Fuß übrig oder selbst fahren. Es ist keine Seltenheit und sehr gefährlich, dass Jugendliche in ländlichen Regionen nachts noch betrunken Auto fahren. Leider sei dies auch immer wieder nach einem Abend im «Schuppen» der Fall gewesen. Einen kleinen Unfall habe es bisher nur mit der Friedhofshecke gegeben. Aber dass sich Alkoholkonsum mit fehlenden öffentlichen Verkehrsmitteln einfach schlecht verträgt, sehen eigentlich alle ein. Also versuchen wir ein gutes Vorbild zu sein – dass wir völlig fahrtüchtig sind, als wir uns verabschieden, ist selbstverständlich. Die Straßenlaternen sind längst aus – und ohne Fernlicht sieht man auf der Dorfstraße kaum noch etwas. Ja – so ist das eben hier auf dem Dorf.

Portrait von Juliane und Jannik vor dem «Schuppen».

Die Straßenlaternen gehen in Münchehagen bereits um 23 Uhr aus. Danach ist es dunkel.