«Der erste Ansatz, um die Leute abzuholen, ist über Emotionen und Empathie.»

Der Erziehungswissenschaftler Aljoscha Napp über Erinnerungskulturen und Bildung.

Foto: Ellen Zylinski

Aljoscha Napp ist Mitbegründer und Mitglied des Lehr- und Forschungsschwerpunktes «Erinnerungskulturen und Bildung» der Abteilung für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim.

Die Gedenkstätte Bergen-Belsen liegt praktisch am Rand der Orte Bergen und Belsen. Können Sie sich vorstellen, dass die Leute damals wirklich nichts mitgekriegt haben oder wollten sie vielleicht auch lieber nichts mitkriegen?

Das ist eine sehr politische Frage, die aus der Gegenwart an die Vergangenheit gestellt wird. Ich habe mich zum Beispiel mit den Orten Ravensbrück und Moringen beschäftigt, da waren die Konzentrationslager wirklich im Stadtkern integriert. Es ist belegt, dass die Anwohner*innen davon wussten. Es gibt auch Belege dafür, dass in Moringen die Inhaftierten zur Zwangsarbeit in einem Betrieb im Ort gegangen sind. In Ravensbrück wiederum lag das Lager gegenüber von einem See, der die Schreie aus dem Konzentrationslager über die Wasseroberfläche transportiert hat. Das heißt, es war zu hören. Es gibt noch heute Zeug*innenaussagen von jungen Menschen, die das mitbekommen haben. In Bergen-Belsen war das nochmal was anderes als bei diesen Orten, denn das Konzentrationslager lag nicht direkt im Stadtkern. Nichtsdestotrotz gab es auch hier Verflechtungen zwischen Zivilbevölkerung und dem KZ, was wissenschaftliche Studien belegen.

Sollten die Menschen heute noch einen Teil Verantwortung übernehmen oder finden Sie, es geht dann zu sehr in die Richtung von Schuldzuweisungen?

Die Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt schlägt da eine Teilung vor. Bei der Arbeit mit jungen Menschen sollte man von Schuld zu Verantwortung gehen. Die Schuld der Deutschen in der NS-Zeit soll nicht relativiert werden. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen, indem man schaut, was diese Geschichte noch mit mir zu tun hat. Es gibt schon eine gewisse Verantwortlichkeit, die aber von der Pädagogik der Schuld weggeht. Die Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ ist brandaktuell. Um zu schauen, wo meine Verbindung zu der Geschichte ist. Beispielsweise in Workshops ist die größte Herausforderung junge Menschen und Teilnehmende dazu zu kriegen, eigene Fragen zu stellen. Das ist fast schon eine wissenschaftliche Herangehensweise. 

Wenn es um Gedenkstätten geht, denken die Meisten vermutlich nicht an Erziehungswissenschaften. Wo ist da der Zusammenhang?

Wir müssen uns als Erziehungswissenschaftler*innen immer oftmals legitimieren, weil die Frage im Raum steht, warum wir uns mit Gedenkstätten beschäftigen. Dabei wird oft vergessen, dass auch schon viele Erziehungswissenschaftler*innen Gedenkstätten geprägt haben. Wir beschäftigen uns zum Beispiel damit, wie gesellschaftliches Wissen entsteht und wie es vermittelt wird.

Wieso ist es wichtig, dass Student*innen der Erziehungswissenschaften oder der Sozialpädagogik sich ebenfalls mit der Gedenkstättenpädagogik beschäftigen?

Weil wir uns darüber Gedanken machen, wie Wissen hergestellt wird und wie wir auch als Gesellschaft mit Wissen umgehen. Der Anspruch für meine Seminare ist immer der Versuch, dass die Studierenden selber aktiv werden. Das Thema also kennenlernen und sich gleichzeitig auch einbringen können. Bei Exkursionsseminaren versuchen wir, unsere Theorien, die wir haben, anzuwenden und zu gucken, wie wir Erinnerungskultur gestalten können. Denn sie ist auch etwas Lebhaftes und Aktives, zumindest sollte das so sein. 

Nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen wurden die Holzbaracken aus Angst vor Seuchen abgebrannt. Bergen-Belsen ist heute ein internationaler Gedenkort, auch wenn vom Ort des Grauens nichts mehr zu sehen ist. Wieso ist Gedenken auch hier wichtig?

Das Thema ist eine riesige Debatte, in Bezug auf die Frage nach dem Echten und Authentischen von Gedenkstätten. Trotzdem sagen viele Besucher*innen an Gedenkstätten wie Bergen-Belsen, dass sie da eine gewisse Aura spüren. Dazu, ob das Ganze konstruiert ist, was diese Gedenkorte mit einem machen, gibt es auch in der Wissenschaft eine breit geführte Diskussion. Es gibt also Debatten zu diesen Gedenkorten und deren vermeintliche Echtheit. Andererseits hat ein Ort wie Bergen-Belsen auch eine gewisse Symbolkraft. Denn ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass diese Orte vor allem von Überlebenden aufgebaut wurden. Gerade in Bergen-Belsen, wie bei anderen Gedenkstätten auch, wurde der Ort vor allem von ehemaligen Häftlingen initiiert. Erst später in den achtziger Jahren hat man von Erinnerungskultur gesprochen. Deshalb ist es wichtig solche Orte zu haben, wo tatsächlichen Gedenken praktiziert werden kann. 

In Gedenkstätten wie Bergen-Belsen kann man auch von den dramatischen Berichten der Zeitzeugen lesen. Direkt vor Ort zu sein, kann also emotional mitnehmen. Vor was für Herausforderungen stehen Gedenkstättenpädagogig*innen insbesondere bei der Wissensvermittlung an jungen Menschen?

Nach der aktuellen Studienlage haben junge Menschen immer weniger Bezüge zum Nationalsozialismus. Der erste Ansatz, um die Leute abzuholen, ist über Emotionen und Empathie. Damit sind eben auch sehr viele Chancen verbunden, aber auch Gefahren. Nämlich, dass es bei diesen Emotionen bleibt. Dadurch können sie in gewisser Weise den Bildungsaspekt blockieren, wenn es vielleicht „nur noch“ bei dem Mitleid mit einem Schicksal bleibt. Der Zusammenhang, der Prozess, die Kontinuität ist dann außen vor. Das ist ein Spagat, den die Gedenkstättenpädagog*innen schaffen müssen. Neben den Gefühlen auch die Prozesshaftigkeit und die Geschichte als unabgeschlossen zu vermitteln. 

Die Studierenden besuchen im Laufe der Exkursionswoche auch Gedenkstätten wie Bergen-Belsen. Haben sie denn auch mal davon erzählt, dass sie den Besuch im Laufe des Studiums anders wahrnehmen als während der Schulzeit?

Es kommt darauf an. Durch die Seminare haben wir natürlich nochmal eine andere Perspektive. Wir setzen uns vorher mit der Theorie auseinander und gehen dann eigentlich mit zwei Brillen in die Gedenkstätten. Einerseits schauen wir uns das als ganz reguläre Teilnehmende einer Führung an. Andererseits versuchen wir auf einer Metaebene anzuschauen, wie das Wissen dort vermittelt wird. Wie gehen Pädagog*innen vor Ort mit Herausforderungen um? Viele Studierende haben gesagt, dass sie den Besuch einer Gedenkstätte dadurch anders wahrnehmen, weil der Blick geschärfter ist. Für manche ist es überhaupt der erste Besuche einer Gedenkstätte, wie beispielsweise Moringen.

Was für ein Gefühl ist das für Sie, eine Gedenkstätte wie Bergen Belsen zu besuchen? Woran denken Sie dann?

Durch meinen Job mit dem Schwerpunkt Erinnerungskultur ist es bei mir noch etwas besonderes. Ich versuche mich ein bisschen von meiner Forscher*innen-Position zu distanzieren und eher aus meiner privaten Brille zu gucken, wenn ich in Gedenkstätten bin. Ich habe erstmal eine gewisse, wissenschaftliche Distanz. Aber wenn ich mir Zeit nehme, auch für mich selbst und wirklich nur für mich bin, dann kann ich reflektieren, was der Ort mit mir macht. Was an diesen Orten passiert ist, ist unvorstellbar und dadurch eben so schwer zu vermitteln. Das ist eine große Herausforderung für Gedenkstättenpädagogig*innen. Das Unvorstellbare irgendwie vorstellbar zu machen.