Im Kofferraum in den Westen

Für viele nur eine Schulstunde, für Veronika Schneider eine lebensprägende Realität. Die Geschichte einer Frau, deren Flucht vor der Diktatur auch im Westen weiterging. Von Jule Merx (Text) und Michael Hinz (Fotos)

Ein geteiltes Deutschland – was für die jüngeren Generationen höchstens eine fade Episode des Schulunterrichts oder eine Erzählung der Eltern und Großeltern ist, ist für andere eine lebhafte Erinne-rung. Veronika Schneider ist eine der Personen, die eine solche Geschichte erzählen können. Eine Geschichte, von einem unterdrückerischen Staat und einer Flucht, die auch nach der Ankunft im Wes-ten noch lange nicht zu Ende ist.

«Es war alles noch so, als ob der Krieg gerade erst aufgehört hätte. Ich bin quasi in Trümmern aufgewachsen, habe in Trümmern gespielt», erinnert sich Veronika Schneider an ihre Kindheit. Geboren wurde sie 1952 in Ost-Berlin, in einer Straße ganz in der Nähe des Rosenthaler Platz. Als Kind kennt sie die Stadt fast ohne Grenzen – «und dann war da die Mauer», erinnert sie sich. Als Veronika neun Jahre alt ist, im August 1961, lässt die DDR-Regierung die Mauer errichten. Die Mauer, die 28 Jahre lang Familien trennt und den Osten endgültig von Westen abgeriegelt. «Ich habe gesehen, wie sie die Mauer Stein für Stein hochgebaut haben. Die Polizei stand dort immer mit den Gewehren und meine Oma hat dahinter gestanden. Als die Mauer noch nicht so hoch war, haben wir uns immer gewunken», erzählt sie. Der Oma im Westen aus dem Osten winken – nur wenige Wochen später ist das nicht mehr möglich. Ein fünf bis mehrere hundert Meter breiter Todesstreifen trennt die ostdeutsche Bevölkerung von der Mauer, dem «antifaschistischen Schutzwall», wie man sie in der DDR nannte.

SW Porträt von Veronika Schneider, fotografiert Michael Hinz

Nachdem ihr ehemaliger Verlobter vom Ministerium für Staatssicherheit verhört und gefoltert wird, verhaftet die Stasi auch sie. Ihr werden Einbrüche vorgeworfen, die sie nie begangen hat.

Heute kann sich jede*r der ehemaligen innerdeutschen Grenze ganz unbedenklich nähern, sie überqueren – ohne die Panik, erwischt zu werden und im Gefängnis zu landen, ohne die Panik, eine Selbstschussanlage auszulösen, ohne die Panik, die Aufmerksamkeit eines Grenzers mit Schussbefehl auf sich zu ziehen, und ohne die Panik, auf eine Mine zu treten, einen Arm, ein Bein oder das Leben zu lassen. Das Überschreiten der Grenze fällt meist nicht mal mehr auf. An vielen Orten entlang der ehemaligen Trennlinie zwischen Ost und West erinnert nicht viel dran, dass sich einst eine todbringende Schneise durch Deutschland zog.

Doch an einigen Orten wurden Teile der deutsch-deutschen Grenze bewahrt. Betonklötze, Überreste von Stacheldraht, alte Kolonnenwege und überwucherte Wachtürme erinnern an eine Zeit, die kaum mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt. Sich erinnern oder versuchen zu verstehen, was man in Geschichtsbüchern las – das ist etwa in Marienborn, direkt an der Autobahn Berlin – Hannover in Sachsen-Anhalt, möglich. Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn ist ein Erinnerungsort der deutschen und europäischen Zeitgeschichte. «Wir erinnern uns hier an den größten deutschen Grenzübergang, den es überhaupt gab. Zu seiner Zeit auch der größte Grenzübergang Europas.

Diese monumentale Größe ist natürlich auch ein Symbol für das, was die DDR mit dieser Grenze eigentlich wollte: Verhindern, dass ihre Bürger*innen das Land verlassen», erklärt Felix Ludwig, promovierter Historiker und kommissarischer Leiter der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Auf dem früher 30 Hektar großen Gelände, was etwa 42 Fußballfeldern entspricht, erstrecken sich noch heute alte Baracken unter vergilbten PVC-Überdachungen, die alles in gelbliches Licht tauchen. Hier wurden, bis zum Zusammenbruch der DDR, Ein- und Ausreisende abgefertigt, Zölle erhoben, einzelne Gepäckstücke und ganze Autos gefilzt.

Im Inneren der Baracken finden sich alte Büros von Grenzbeamt*innen, samt Schreibmaschine, Porträt von Erich Honecker und alter Grenztruppuniform – Relikte aus einer vergangenen Zeit, konserviert auf ein paar Quadratmetern. Außerhalb der Baracken ragen unzählige hohe Betonsäulen in die Luft, darauf mehr als einem Dutzend Lautsprecher. Auf dem Boden lassen alte Fahrbahnmarkierungen die Verkehrsflüsse und Abläufe erahnen. Alles wirkt hier gut strukturiert und organisiert, möglichst nichts wurde dem Zufall überlassen.

Schwarzweissfoto von Durchsichtschreibe auf den ehemaligen Grenzübergang Marieborn / Helmstedt, fotografiert von Michael Hinz.

Eine Durchsichtscheibe zeigt den ehemaligen Grenzübergang Marieborn / Helmstedt

Schwarzweissfoto von Röntgenaufnahmen von Reisegepäck Grenzübergang Marienborn, fotografiert von Michael Hinz. ´

«Die DDR wollte nicht, dass ihre Bürger*innen wissen, was es im Westen alles zu haben gibt und vor allem zu welch’ billigen Preisen.» Im Zweifelsfall wurde das Gepäck geröntgt.

Schwarzweissfoto von Zimmer eines Grenzbeamten, Schreibmaschine, Portrait Erich Honecker, Marienborn / Helmstedt, fotografiert von Michael Hinz.


Ein Portrait
von Erich Honecker hängt im ehemaligen Zimmer eines Grenzbeamten.

Schwarzweissfoto von ehemaligen Grenzbeamten, fotografiert von Michael Hinz.

Archivaufnahmen von ehemaligen Grenzbeamten in Marienborn / Helmstedt.

Schwarzweissfoto von ehemaligen Grenzbeamten, fotografiert von Michael Hinz.

Veronika Schneider wächst linientreu auf, wie sie selbst sagt. «Ich war in der Schule sehr gut, bin in die Pionierrepublik geschickt worden und als ich dann zurückkam, so würde ich heute sagen, war es wie eine Gehirnwäsche. Bis ich 17 oder 18 Jahre alt war, war ich totaler Fan der DDR», erzählt sie. Doch das beginnt zu bröckeln. Veronika macht ihr Abitur und studiert, bis ihr das Studium verweigert wird, weil sie nicht in die SED eintritt. Ihr werden Delikte vorgeworfen, die sie nie begangen hat – Diebstahl und Hehlerei. Sie wird von der Polizei und der Staatssicherheit verhört. Die Probleme häufen sich. «Heute würde ich sagen, dass ich Probleme bekam, war ganz normal. Ich lebte als junger Mensch in einem Staat, der das eigene Denken nicht erlaubte und die eigene Entwicklung sehr einengen wollte. Der aufteilte in gut und schlecht – etwas anderes gab es nicht. Gut hieß für den Staat. Wenn du dagegen warst, schon wenn du eine andere Meinung hattest, warst du schlecht.»

Veronika beschließt zu flüchten – im Kofferraum eines Audi 100 Deluxe, einem Fahrzeug aus der BRD, über die Grenzübergangsstelle Marienborn. Die 21-Jährige und ihr damaliger Freund Joachim*, mit dem sie zusammen flieht, treffen sich mit den Fluchthelfern an einem verabredeten Punkt auf der Transitstrecke. «Der Frank*, unser Fluchthelfer, hatte das Auto vorher so präpariert, dass wir von den hinteren Sitzen aus die Rückenlehne lösen konnten.» Die beiden setzten sich zunächst auf die Rückbank des Autos ihrer Fluchthelfer, fahren los und beobachten, ob ihnen ein Auto folgt. «Dann sind wir während der Fahrt von der Rückbank in den Kofferraum gekrochen», erinnert sie sich zurück. Übereinander liegen die beiden auf den Stoßdämpfern, bewegen können sie sich kaum. Quälend lange Zeit, mit der Angst im Nacken, erwischt zu werden. «Wenn sie entdeckt worden wären, dann hätten sie sich nach DDR-Gesetz der sogenannten versuchten Republikflucht schuldig gemacht, die wurde mit bis zu drei Jahren Haft bestraft», erklärt Historiker Ludwig. «Wurden Flüchtende entdeckt, hat man sie festgenommen und in das zuständige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit gesteckt. Hier muss man klar von physischer und psychischer Folter reden.» 

SW Foto von: Agentenschleuse oder Stasiröhre. Eine unterirdische Verbindung zwischen der DDR und der BRD. Wurde von der Stasi verwendet um ungesehen unterhalb der Grenze Agenten zwischen Ost und West zu schleusen., fotografiert: Michael Hinz

Die Agentenschleuse — oder Stasiröhre — war eine unterirdische Verbindung zwischen der DDR und der BRD. Sie wurde von der Stasi verwendet, um ungesehen unterhalb der Grenze Agenten zwischen Ost und West zu schleusen.

SW Foto von: Kolonnenweg entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze auf dem Uhlenkopf, fotografiert Michael Hinz

Ein Kolonnenweg führt entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf dem Uhlenkopf.

SW Foto von Grenzdenkmal Hötensleben, Mauer, Panzersperren, Minenstreifen, MiStrf, Todesstreifen, Wachturm, Kolonnenweg, fotografiert: Michael Hinz

«Wurden Flüchtende entdeckt, hat man sie festgenommen und in das zuständige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit gesteckt. Hier muss man klar von physischer und psychischer Folter reden.» — Felix Ludwig, Historiker

SW Foto von: Verbogener Grenzzaun, Grenzdenkmal Hötensleben, Denkmal, Innerdeutsche Grenze, fotografiert Michael Hinz

Ein verbogener Grenzzaun im Grenzdenkmal Hötensleben

Joachim, der Freund und Fluchtkamerad von Veronika, betrinkt sich mit einem Freund im Osten zum Abschied, Veronika nimmt zwei Beruhigungstabletten. «Als ich auf Joachim drauf lag, fing der an zu singen, weil der so besoffen war. Wahrscheinlich, denke ich mir heute, hatte er Angst. Aber es war natürlich furchtbar, ich habe den nicht ruhig gekriegt. Ich hatte die totale Panik, als der Frank von vorne brüllte, dass wir jetzt verdammt nochmal Ruhe geben sollen, er sehe schon den Kontrollpunkt. Und da habe ich – das ist schrecklich und ich hoffe, das hätte ich nie getan – zum Joachim gesagt, wenn er jetzt nicht still ist, dann ersticke ich ihn. Dann hat er Ruhe geben.»

Veronika erinnert sich, wie der Audi 100 ein paar Mal stehen bleibt und wieder anfährt – jedes Mal wallt die pure Panik in ihr hoch. Sie denkt, gleich wird der Kofferraum aufgerissen und es ist vorbei. «Ich hatte viele Jahre lang nach der Flucht noch Alpträume, in denen ich nachts im Kofferraum lag, dieser aufgemacht wird und fünf Maschinenpistolen auf mich gerichtet sind. Das war eine fruchtbare Angstsituation.»

Trennwand und zugleich Nadelöhr zwischen Ost und West – an der Grenzübergangsstelle Marienborn wurde jede*r kontrolliert, ob man in den Westen wollte oder in den Osten. An der Abgabe und der umfangreichen Kontrolle der Passpapiere kam niemand vorbei. Bei der Einreise in die DDR wurde im Zollbereich nach Waffen, Drogen, politischer Literatur, aber auch nach anderen verbotenen Mitbringseln aus dem Westen gesucht, wie zum Beispiel Versandkataloge. «Die DDR wollte nicht, dass ihre Bürger*innen wissen, was es im Westen alles zu haben gibt und vor allem zu welch’ billigen Preisen», erklärt Ludwig. Im Zweifelsfall wurde das Gepäck geröntgt.

«Gerade, wenn sie ausreisen wollten, reden wir aber vor allem über Flüchtlinge, die sie verstecken konnten. Das ist das, wonach hauptsächlich gesucht wurde. Die Suchhunde, die hier zum Einsatz kamen, waren natürlich drauf trainiert, nicht nur Drogen und Sprengstoff zu erschnüffeln, sondern auch Menschen, die sich in Fahrzeugen verstecken konnten.» Das 1971 unterzeichnete Transitabkommen führte zu Reiseerleichterungen zwischen Ost und West. «Das Transitabkommen verbot anlasslose Durchsuchungen. Anlasslos ist aber ein dehnbarer Begriff. Die Leute, die da arbeiteten, waren natürlich darauf trainiert, Anlässe herzustellen. Das konnten Sachen sein wie Gepäck auf der Rückbank, das man eigentlich im Kofferraum erwarten würde, oder Öffnungen im Heckbereich, die Atemschlitze sein könnten», erklärt Ludwig.

SW Foto von: Kolonnenweg entlang der ehemaligen Innerdeutschen Grenze auf dem Uhlenkopf, fotografiert Michael Hinz

Ein ehemaliger Wachturm im Wald am Pötenitzer Wiek.

Doch Veronika und Joachim schaffen es unentdeckt über die Grenze. «Ihr seid in Freiheit», hört sie Frank sagen, dann öffnet sich der Kofferraum. Doch sie fällt ihrem Fluchthelfer nicht glückselig und erleichtert um den Hals, stattdessen schleicht sich ein ganz anderes Gefühl bei ihr ein. «Ich bin ausgestiegen, über mir war der nackte Himmel, es war eine sehr klare Nacht, ich sah die Sterne und ganz, ganz weit weg, habe ich von Westseite den Grenzkontrollpunkt gesehen. Das war ein Gefühl von kompletter Verlorenheit. Mich hat mein Herz fast zurückgezogen zum Grenzkontrollpunkt, ich konnte mich gar nicht freuen. Der erste Satz, den ich im Westen gesagt habe, war der, der mich wirklich als DDR-Mensch outete. Ich habe zu Frank gesagt: ‚Jetzt weiß ich, was Existenzangst ist.‘ Das wurde uns immer in der Schule gesagt: Im Westen haben alles Existenzangst.» 

Der Westen als Sehnsuchtsort, die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit – was für einige DDR-Flüchtlinge die Fluchtursache gewesen sein mag, trifft nicht auf Veronika zu. «Das Verrückte war, dass ich immer noch an die DDR glaubte. Ich war immer noch überzeugt vom Sozialismus, davon, dass die DDR der bessere deutsche Staat sei. Aber ich glaubte, dass ich nicht gut genug sei. Dann bin ich abgehauen», erklärt sie. 

Doch selbst als Veronika unentdeckt im Westen ankommt, ist die Flucht für sie hier noch nicht vorbei. «Es kam eine sehr lange Zeit, wo ich heute weiß, dass ich innerlich immer noch auf der Flucht war.» Westberlin, Schwaben, Kreta – «erst 10 Jahre später, nämlich 1983, als ich aus Griechenland fest zurückkam nach Westberlin, da fing ich an, wieder ein Gefühl von Heimat zu entwickeln.» Und auch der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 wirbelt das Erlebte wieder auf. Die Bilder dieses Abends gehen um die Welt – Menschenmassen auf der einst unüberwindbaren Mauer vor dem Brandenburger Tor, wildfremde Menschen, die sich glücklich in den Armen liegen, wehende Deutschlandfahnen zum Zeichen der neu gewonnenen Einheit. «Die Grenzöffnung ist eine der wenigen Momente der deutschen Zeitgeschichte, wo man sagen kann, dass das eine uneingeschränkt positive Geschichte ist. Also dieser Tag, dieser Abend, diese Nacht», erklärt Ludwig. 

Für Veronika aber ist dies kein Abend des Glücks, im Gegenteil. «Als 1989 die Mauer dann fiel und alle im Taumel der Freund waren, habe ich Panikattacken gekriegt und bin fast durchgedreht. Ich habe psychisch richtig Probleme bekommen.» Sie sucht sich Hilfe, macht eine Psychoanalyse. «Erst dann, Anfang bis Mitte der 90er Jahre, das ist ja schon ewig nach der Flucht gewesen, habe ich angefangen zu reflektieren, dass nicht ich falsch war oder eine Verräterin, sondern dieser Staat falsch war, mit diesen ganzen Repressalien, mit der Indoktrinierung und mit den Bevormundungen. Das dauerte Jahrzehnte, bis ich begriff, dass ich etwas ganz Normales wollte mit 21 Jahren. Ich wollte hinfahren, wo ich hinfahren wollte, und ich wollte vor allem sagen, was ich denke. Ich wollte leben, ich wollte mich frei fühlen.»

*Namen geändert

Schwarzweissfoto von ehemalige Innerdeutsche Grenze Hötensleben, Mauer, Fluchtleiter, Leiter, Lichttrasse, Signalzaun, fotografiert von Michael Hinz.

Die ehemalige innerdeutsche Grenze bei Hötensleben


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