Stadtrandmagie

Unser Autor Robin Prottung kehrt heute regelmäßig ernüchtert von den Spielplätzen und Wäldern seiner Kindheit zurück. Nun fragt er sich: War sein Blick auf das Randgebiet seines Aufwachsens jahrelang verklärt? Fotos von Noah Hermann

Beim Thema Kindheit öffnet sich bei vielen Menschen eine große Truhe voller Erinnerungen. Bei manchen ist diese Truhe eingestaubt, bei manchen wird sie ganz regelmäßig geöffnet. Gelegentlich hängt auch ein dickes Schloss davor, das nicht mehr angerührt wird. Doch was passiert, wenn man an die Orte von damals zurückkehrt, an denen die Erinnerungen von heute geschaffen wurden? Wenn ich meine Augen schließe und an meine Kindheit zurückdenke, schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Kleine Fragmente, Szenen und Erlebnisse, die sich zu einem großen Mosaik zusammenfügen. Ein Mosaik, das in mir ein warmes und vertrautes Gefühl auslöst.

Mein kleiner Ort war eine eigene Welt für sich.

Diese Sorglosigkeit, die ich als Kind nicht als diese erkannt habe. Alles war groß und wichtig. Welcher Fußballer ich auf dem Bolzplatz sein wollte, ob die anderen Kinder wohl unser Versteck im Wald finden würden oder wer unsere Fahrradrennstrecke am schnellsten fahren kann. Mein Universum hätte in meinem Kinderkopf nicht größer sein können. Mein Heimatort am Rande einer Großstadt. Die Großstadt war so weit weg wie ein anderer Planet. 

Mein kleiner Ort war eine eigene Welt für sich. In meiner Erinnerung war ich jeden Tag draußen und erkundete mit meinen Freunden und Freundinnen diese Welt. Tage, an denen es regnete, Tage, an denen ich krank war, oder Tage, an denen ich nicht nach draußen durfte, gibt es in meiner Erinnerung nicht. Diese Größe des Kleinen wird mir im Nachhinein erst richtig bewusst. Den ganzen Tag aktiv zu sein, frei und zwanglos. Ich hatte eine wundervolle Kindheit. In einem Randgebiet, das für mich alles war.

Bielefeld, 20.12.22

«Tage, an denen es regnete, gibt es in meiner Erinnerung nicht.»

Bielefeld, 20.12.22

Eine alte Stromleitung vor bewölktem Himmel.

Doch wenn ich heute an diese Orte zurückkehre, bin ich ernüchtert. Aufgewacht. Oder verstehe ich einfach nur, dass mein riesiges Universum von früher nur ein kleiner Ort ist, an dem meine Eltern ein Haus kauften und sich niederließen? Ich versuche, diese Welt durch die Augen meines jüngeren Ichs zu sehen. Es fällt mir sehr schwer. Ich fühle mich wie in einem Apokalypsenfilm, in dem Menschen an Orte zurückkehren, die ihnen etwas bedeuten, die nun aber gänzlich zerstört sind oder sich komplett verändert haben. Nichts hat mehr diesen Zauber, den ich als Kind spürte. 

Der tiefe Wald, in dem wir Verstecken spielten, scheint trostlos und kühl. Der Bolzplatz, der in meinem Kopf ein riesiges Stadion war, ist nur noch ein Käfig aus kalten Gitterstäben. Und wo unsere Fahrradstrecke war, kann ich nur noch erahnen. Ich wandere auf den Spuren meiner Erinnerungen. Doch diese Spuren kann ich kaum noch erkennen. Spielende Kinder sehe ich nirgends. Deren Universum ist wahrscheinlich in ihrem Smartphone oder einem Videospiel. All diese kleinen, wunderbaren Erinnerungen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin, sind zu einem immer blasser werdenden Gedanken verkommen.

Der Bolzplatz, der in meinem Kopf ein riesiges Stadion war, ist nur noch ein Käfig aus kalten Gitterstäben.

Vielleicht muss ich auch einfach nur verstehen, dass sich meine Welt verlagert hat. Mein Lebensmittelpunkt, mit all den Zaubern seiner Zeit, liegt jetzt an einem anderen Ort. Zauber, die ich vielleicht in erst in 20 Jahren als solche erkenne. Die Schönheit des Einfachen in der Studienzeit. Die Freiheiten, die ich jetzt habe, im Vergleich zu einem 9-to-5-Job, Haus, Frau und Kind habe. Erinnerungen, an die ich eines Tages zurückdenken werde, finden genau jetzt statt. Diese Erinnerungen sind nicht an den Ort gebunden, an dem sie entstanden sind, sondern erblühen in all ihrer Pracht in meinem Kopf. Und das für immer.

Bielefeld, 20.12.22

«Spielende Kinder sehe ich nirgends.»

Bielefeld, 02.01.23

Ein älterer Herr auf einem Spaziergang.


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