Bergen-Belsen: Am Rande der Vernunft
Britische Soldaten befreiten 1945 das KZ Bergen-Belsen – und brannten es nieder, aus Angst vor Seuchen. Ein heutiger Besuch der Gedenkstätte führt durch Wiesen und Beton, vereint in Trauer und Optimismus. – von Lion Knirsch (Text) und Salome Ophelia Ziermann (Fotos)
Dieser Ort zieht mich an. Eine Gravitationskraft aus mattem Glas und grauem Beton. Doch es sind nicht nur die Ecken und Kanten der Architektur, die schwer auf meinem Gemüt liegen. Es sind jene der Geschichte, die dieses Gebiet am Rande von Bergen und Belsen erzählt – am Rande der Vernunft.
Viele Jahre ist es her, da musste ich schon einmal in diesen menschlichen Abgrund blicken. Doch nicht mit Notizblock und Kamera, sondern mit Schulranzen und Pausenbrot. Jetzt bin ich älter, ich selbst und mein Blick auf die Welt haben sich verändert. Doch dieser Ort kein Stück, wie ein Fels aus Beton in der Brandung des Vergessens. Vergessen hatte ich einiges, weder an genaue Zahlen noch Bilder konnte ich mich erinnern. An das Gefühl hier zu stehen jedoch sehr wohl.
Doch es ist nicht nur meine Erinnerung. Auch die Wände im Innern des Dokumentationszentrums sind mit Rissen durchzogen. Als würden auch sie unter der Last der Vergangenheit zerbrechen. Eine Last verkörpert durch Fotos, Aussagen und Zitate. Ich las von Hunger, so groß, dass Rinde, Gürtel, sogar Tote gegessen wurden. Ich sah Fotos von gestapelten Leichen, nackt, blass und ausgehungert, nebenan Häftlinge, die sich seelenruhig ihr Essen zubereiten. Alles wirkte auf mich wie eine zutiefst abartige Karikatur, als habe Dante Alighieri sie in seinem Inferno beschrieben. Jedes Foto, jedes Wort, jedes Zitat ein weiterer Riss durch mein Weltbild.
Als sich die Türen zum Außengelände öffneten, fühlte ich mich wie befreit. Statt eines Spaliers aus Stacheldraht und Wachen begrüßte mich eins aus Büschen und Bäumen. Statt Schreien hörte ich Vogelgezwitscher. Statt ausgemergelten Körpern bedeckten Blätter den Boden. Lediglich die Informationstafeln, Gedenksteine und Grabhügel lassen erahnen, was sich hier zwischen 1940 und 1945 zugetragen hat. Hinter Glas und Beton liegt die Vergangenheit, draußen die Gegenwart und wie meine Reflexion in der Fensterscheibe war ich irgendwo dazwischen gefangen. Zwar sah ich keine Baracken und Wachtürme mehr, doch das Gehörte klang noch immer in mir nach.
«Der Winter war streng; wir waren halb nackt; es regnete Eis und unsere Füße waren gefroren», berichtet die Überlebende Edith Bruck. So erreichten mit mehr als 100 Transporten und Todesmärschen zwischen Dezember 1944 und Mitte April 1945 mindestens 85.000 Männer, Frauen und Kinder Bergen-Belsen. Alles, nachdem weitere frontnahe KZ-Außenstellen dieser Art gegen Ende des Krieges ihre Eichenblätter verloren hatten. Allein in diesen Monaten starben 35.000 von ihnen – am Ende insgesamt mehr als 70.000. Und das alles, weil sie «falsch» glaubten, «falsch» liebten, «falsch» lebten.
Es waren solche Aussagen der Vergangenheit samt Architektur der Gegenwart, die mich hineinzogen – vom bloßen Betrachter zum Augenzeugen. Wie muss es gewesen sein zwischen meterhohen Zäunen, kein Ausweg, keine Perspektive? Der Blick, trotz oder gar wegen des Elends, starr gerichtet nach vorn. Wie groß muss der Hunger gewesen sein, dass man beginnt, über Leichen herzufallen? Wie groß muss die Angst gewesen sein, überall, zu jeder Zeit, aus jedem Grund, hingerichtet werden zu können? All diese Fragen durchlöcherten meinen Verstand und gehen mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf.
Dabei bin ich nicht der Einzige, der nach Antworten sucht. Denn überall auf dem Gelände schmücken tausende Kerzen, Briefe und beschriftete Steine die Monumente und Gedenktafeln. Selbst nach so vielen Jahren. „NIEMALS VERGESSEN“ steht auf einem der Steine. Doch ist das möglich? Denn so wie auch über den alten Lager-Grenzen, so wird auch über den Mahnmalen eines Tages Gras gewachsen sein.
Doch noch immer wird jedes Jahr um den 15. April – der Tag der Befreiung – an diejenigen Überlebenden erinnert, die im Jahr zuvor verstorben sind. Und selbst wenn die Namen eines Tages ausbleiben werden, weiß ich, dass es Hoffnung gibt. Denn solange wir nicht vergessen, was war und nie wieder sein darf, wird es einen Morgen geben.
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