Bilder trotz allem: Fotografische Zeugnisse aus Auschwitz.
Georges Didi-Huberman widerspricht in seiner wegweisenden Bilduntersuchung «Images malgré tout» der These der Undarstellbarkeit des Holocausts. Sein Umgang mit den fotografischen Zeugnissen aus Auschwitz löste eine Kontroverse aus.
Was sehen wir, wenn wir die vier Fotografien des Sonderkommandos aus Auschwitz betrachten? So einfach diese Frage klingt, so schwierig ist sie zu beantworten. Denn um zu wissen, muss man sich ein Bild machen. 1 Dieses Bild ist, so wird deutlich, keineswegs immer mit dem Sichtbaren identisch. Im August 1944 gelang Häftlingen des sogenannten »Sonderkommandos« 2 eine Serie fotografischer Bilder, die die Massenvernichtung im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau bezeugen sollten.
Das «Sonderkommando» bestand aus Häftlingen, die von den Nationalsozialisten dazu gezwungen wurden, die massenweise Vernichtung in den Konzentrationslagern durchzuführen. Ihre Arbeit bestand darin, die Ermordung der deportierten Häftlinge vorzubereiten, die Habseligkeiten abzunehmen und schließlich die Leichen aus den Gaskammern in den Krematorien heraus zu tragen und zu verbrennen. Gleichzeitig diente der Einsatz des «Sonderkommandos» auch dazu, die Zeugenschaft des Massenmordes zu verhindern, indem die Mitglieder des Sonderkommandos in regelmäßigen Abständen erschossen und immer wieder durch andere Häftlinge ersetzt wurden, um jegliche Kommunikation zu anderen Häftlingen oder zur «Außenwelt»3 zu unterbinden. So bezeichnet der Holocaust-Überlebende Primo Levi die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos als «das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus» 3, da ihre Arbeit darin bestand, tausendfach für den Tod von Ihresgleichen zu sorgen.
Aus diesen Unmöglichkeiten – dem baldigen Verschwinden der Zeugen und der fraglosen Undarstellbarkeit des Bezeugten – tauchte das fotografische Bild auf. 4 Obwohl die Autorenschaft des Bildes vermutlich auf Alberto Errera zurückzuführen ist, einen griechischen Marineoffizier jüdischer Herkunft, der 1944 schließlich selbst im Konzentrationslager starb, setzte die Aufnahme der Fotos ein ganzes System kollektiver Wachsamkeit voraus. 5
Während Alberto Errera den Fotoapparat, versteckt unter dem Boden eines Eimers, hervorholte und heimlich in einer Sequenz (Abb. 280 und 281) die Leichenverbrennung durch das «Sonderkommando» fotografierte, hielt ein weiteres Mitglied des «Sonderkommandos» auf dem Dach des Krematorium V Ausschau nach den SS-Wachen.7 Nach der ersten Sequenz begibt sich der Fotograf nach draußen und fotografiert noch in einer zweiten Sequenz (Abb. 282 und 283) entkleidete Frauen auf dem Weg in die Gaskammern des Krematoriums V und vermutlich eine «Fehlauslösung» in Richtung des Himmels des Birkenwaldes, der das Krematorium verdeckt hielt. 8 Die zweite verwackelte Sequenz zeugt dabei von der offensichtlichen Gefahr und Waghalsigkeit der Operation. Der Film wurde anschließend in einer Zahnpastatube versteckt, an eine Frau in der SS-Kantine übergeben und an den polnischen Widerstand nach Krakau geschmuggelt, der die Fotografien als eines der wenigen Zeugnisse der Massenvernichtung von über 1,3 Millionen Menschen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in der Welt verbreitete, um von dem «Unvorstellbaren» zu berichten. 9
Georges Didi-Huberman rekonstruiert in seiner wegweisenden Bilduntersuchung «Bilder trotz allem» die Wege und Überlieferungen der vier Bilder und setzt sich mit der Paradoxie des Unvorstellbaren in diesen Fotografien aus Auschwitz auseinander.
Einerseits richten sich die vier Bilder an «das Undarstellbare» und zugleich widerlegen sie es, indem sie doch «etwas» darstellen. Didi-Huberman stellt sich somit gegen das ikonoklastische Dogma des «Nichtdarstellbaren» nach Claude Lanzmann, der in seinem Film «Shoah» 10 auf jegliche Archivaufnahmen verzichtete und Didi-Hubermans Untersuchung 2001 in einem Interview mit der Tageszeitung Le Monde als «unerträgliche interpretatorische Schulmeisterei» bezeichnete, sowie von Gerard Wajcman, der Didi-Hubermans Bilduntersuchung mit den Worten «Es gibt keine Bilder der Shoah» kommentierte. 11
«Bilder trotz allem» wehrt sich dagegen, Archivbildern die Fähigkeit, über geschichtliche Ereignisse zu berichten, grundsätzlich abzusprechen, aber mahnt auch gleichzeitig an, das Bildmaterial nicht als eindeutigen Pfad in die Vergangenheit zu behandeln. Vielmehr sind die vier Fotografien Fragmente, die Spuren von Wahrheit enthalten und deren Komplexität es zu dechiffrieren gilt.
Didi-Hubermans Untersuchung der Bilderfrage nach Auschwitz bricht mit der Rhetorik des Unsagbaren, des Unvorstellbaren und Nichtdarstellbaren, indem er versucht, die Fotografien auf eine neue Art zu betrachten, die konträr zur Lesbarkeit von Bildern in der herkömmlichen kunstwissenschaftlichen Analyse der Ikonographie steht. Das «Nicht-Lesbare» sichtbar machen und dahingehend nicht nur das Dargestellte, das Belichtete zu analysieren, sondern auch die Bedingungen, unter denen die Bilder entstanden sind, zu kontextualisieren und mit einzubeziehen, um sich nicht nur auf das Gesehene zu berufen, sondern vielmehr auf das Nicht-Sehbare. Denn die Paradoxie der Fotografien aus Auschwitz offenbart sich vielmehr unter dem Aspekt der «Undeutlichkeit» (dem schrägen Winkel) und dem Nichterkennbaren (den schwarzen Schatten), die im Streit mit dem Erkennbaren im Licht liegen.
Die vier Fotografien sind daher weder als ein rein historisches Dokument zu betrachten, das die «ganze Wahrheit» beinhaltet, noch als «Ikonen des Entsetzens» 13, worin sich die ganze Tragik des Geschehenden erkennen lässt. Vielmehr entfalte sich das Dargestellte unter einer «zweifachen Ordnung» 14, des Aspektes der Wahrheit des Geschehenden und gleichzeitig der Intransparenz, es zu erkennen.
Der Erkenntniswert der Fotografien liege vielmehr in ihrer Komplexität als Montage. Nicht im einzelnen Bild, dem Fokus der Ikonographie, in der man glaubt, alles zu sehen und die Bilder somit voneinander isoliert. Vier Bilder, zwei Sequenzen, zwei Momente desselben Vorgangs der Vernichtung. Die Montage als eine archäologische Art der Betrachtung, die es ermögliche, die Bilder nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern zu »mobilisieren« und in Bewegung miteinander zu setzen, um somit «die Brüche, die Analogien, das Unbestimmte und das Überdeterminierte hervortreten lassen.»15
Didi-Hubermann geht es letztlich in seiner Bilduntersuchung auch nicht um die Repräsentierbarkeit des Geschehenden, «wie es dort gewesen ist», sondern vielmehr um die Evidenz, «dass es geschehen» ist. So liest sich Didi-Hubermans «Bilder trotz allem» besonders im ersten Teil des Bandes nahezu wie ein Plädoyer, sich die visuellen Zeugnisse der «Hölle» von Auschwitz im Gedächtnis einzuprägen und die Bildbetrachtung des Materials «trotz allem» einzufordern.
Weitere Werke zum Thema Darstellungen des Holocaust
Entgegen der kritischen Haltung von Wajcman und Lanzmann gegenüber der Arbeit von Didi-Huberman hilft zudem ein Blick in Wendy Creeds Text Representations of the Holocaust: The Grey Zone, Maus, and Shoah.16 Creed argumentiert, alle Darstellungen der Shoah sollten stets in einen Kontext zueinander gestellt werden. Daraus resultierend ergibt sich eine vielschichtigere Annäherung an eine Vorstellung der kaum vorstellbaren Ereignisse, die unter dem Begriff «Holocaust» bekannt sind. Die Gefahr, besonders für nachfolgende Generationen, welche nicht mit Zeitzeugen und Überlebenden kommunizieren können, besteht in der Überhöhung einer einzigen Darstellung, auch wenn scheinbar noch so vollständig, zur abschließenden Repräsentation der Ereignisse. Didi-Hubermans analytische Arbeit zu den Bildern des «Sonderkommando» in Auschwitz-Birkenau wäre nach Creed als Mehrwert zu betrachten, als Arbeit, welche sich in bereits bestehende Arbeiten wie «Shoah» 17 von Claude Lanzmann, Art Spiegelmans Comic «Maus. A Survivor’s Tale»18 oder auch Alain Resnais‘ Film «Night and Fog»19 einreiht und unser Verständnis, unsere Vorstellung vom kaum Vorstellbaren des Holocaust differenziert und erweitert.