Bibliothek der geretteten Bücher

Wie ein Pfarrer aus Niedersachsen Tausende DDR-Bücher vor der Vernichtung rettete – und warum eines davon eine entscheidende technische Spur für die Forschung im All lieferte.
Von Sarah Schmidt (Text) und Thomas Müller-Vahl (Fotos)

Am Anfang stand ein Bild und Entsetzen. 1991 blätterte Martin Weskott, ein deutscher evangelischer Pfarrer, durch die Süddeutsche Zeitung. Auf Seite vier: ein Foto, das Bücher zeigte, die in einer Müllkippe bei Plottendorf aus einem Miststreuer gekippt wurden – unter freiem Himmel, dem Regen ausgeliefert, aufgeschichtet wie wertloser Schutt. Bücher aus DDR-Beständen: Phaedrus, Heinrich Mann, Stefan Heym. Vollständig, druckfrisch, manche noch auf Paletten verpackt.

100.000 Bücher auf dem Müll und einer fährt los

Zusammen mit Freiwilligen aus der Kirchengemeinde in Katlenburg-Lindau machte er sich auf den Weg. Mit einem VW-Bus, einem Anhänger, später auch mit LKWs, wenn ein Getränkehändler am Wochenende half, holten sie Bücher. Zehntausende Werke, die vernichtet werden sollten.

«Viele dieser Bücher waren nicht nur literarisch oder historisch wertvoll», erzählt er heute. «Sie waren einzigartig, enthielten Wissen, das man anderswo gar nicht mehr bekommt.» Was damals als spontane Aktion begann, wuchs über drei Jahrzehnte zu einer bedeutenden Buchsammlung.

Die Bücherburg in Katlenburg-Lindau ist ein Archiv von derzeit ca. 50.000 Büchern. In den 1990er Jahren fing der Pfarrer Martin Weskott damit an, Bücher (zuerst aus der ehem. DDR) vor der Vernichtung zu Retten.

Unter dem Motto «weitergeben statt wegwerfen» setzt sich Weskott ür die Weitergabe dieser Bücher ein. Wer die Bücherburg besucht, kann selber durch das Archiv stöbern und Bücher gegen eine Spende mitnehmen.

Mehr als 50.000 Bücher: Eine Bibliothek gegen das Vergessen

Die Sammlung beherbergt heute über 50.000 Werke: Fachliteratur, Lehrbücher, Bildbände und Kinderbücher. Ein Schatz, der nicht gehortet, sondern geteilt wird. Wer vorbeikommt, darf stöbern, mitnehmen, behalten. «Bücher weitergeben statt wegwerfen» ist das Leitmotiv und eine leise Rebellion gegen die Wegwerfgesellschaft. In einer Zeit, in der Kultur oft in Clouds und Klickzahlen gemessen wird, wächst hier eine analoge Gegenwelt: haptisch, dauerhaft, überraschend.

«Ich habe Bücher, die sind über 300 Jahre alt», sagt Weskott. «Die kann ich einfach aus dem Regal nehmen und lesen. Aber bei digitalen Speichermedien? Da müssen Sie alle zehn Jahre die Daten neu sichern – wenn Sie überhaupt noch die Software finden.»

Magnesiumsilikate und der Weg zum Saturn

Eines der geretteten Bücher zeigt besonders eindrücklich, warum diese Arbeit so bedeutsam ist: Ein Werk über Magnesiumsilikate, gedruckt in der DDR. Einem Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Aeronomie fiel es in die Hände – rein zufällig, nach einem Gottesdienst, als er durch die Sammlung stöberte.

Magnesiumsilikate, ein unscheinbares Thema. Doch in diesem Buch fand der Wissenschaftler entscheidende Rezepturen für eine Fassung eines Fotospektrometers – ein Instrument, das später mit der Raumsonde Cassini zum Saturn flog. «Es ist absurd und gleichzeitig wunderbar», sagt der Büchersammler. «Ein Buch, das fast verbrannt worden wäre, trägt zur Weltraumforschung bei. Was sagt das über unseren Umgang mit Wissen?»

Die Geschichte machte weltweit Schlagzeilen – Artikel in der New Scientist und der London Times berichteten. Ein deutsches Buch aus DDR-Beständen, gefunden im ländlichen Niedersachsen, wurde zum Bauteil interplanetarer Forschung.


In einer Bibliothek können Sie das finden, was Ihren Horizont nochmal erweitert.

Martin Weskott

«Das ist der Lexikon-Effekt», erklärt er. Es sei der fundamentale Unterschied zum digitalen Suchen. Im Internet fänden wir nur das, was wir formulieren können – in Bibliotheken finden wir das, was uns erweitert. Viele Besucher*innen kommen mit konkreten Wünschen: Schulbücher für Kinder, Studienmaterial für das Lehramtsstudium. «Andere kommen einfach vorbei, weil sie davon gehört haben. Besonders im Frühjahr, wenn Menschen aufräumen oder auf Reisen sind – dann brummt es hier.»

Die Sammlung wird ausschließlich durch Spenden finanziert. Ein kleiner Kreis von Ehrenamtlichen – etwa 25 Menschen – hilft beim Sortieren, Archivieren, Restaurieren.

In Sarajevo, Belgrad, Shanghai oder Lwiw helfen die Bücher, Deutsch zu lernen oder ganze philologische Seminare auszustatten.

Vom Müll zur Weltbibliothek

Was einst aus der DDR gerettet wurde, reiste weiter: nach Sarajevo, Belgrad, Shanghai oder Lwiw (Lemberg). Dort helfen die Bücher nun, Deutsch zu lernen oder ganze philologische Seminare auszustatten. «Diese Bücher haben nicht nur einen materiellen, sondern auch einen kulturellen Wert», betont er. «Sie zeigen Sichtweisen, Stimmen, Inhalte, die sonst verlorengingen – etwa von DDR-Schriftstellern der zweiten und dritten Reihe, die im Westen nie erscheinen durften.»


Bücher sind nicht nur Erinnerungen – sie sind Rohstoff für neues Denken.

Martin Weskott

Die Sammlung wird ausschließlich durch Spenden finanziert. Ein kleiner Kreis von Ehrenamtlichen – etwa 25 Menschen – hilft beim Sortieren, Archivieren, Restaurieren. Viele von ihnen sind im Ruhestand, manche kamen neu hinzu. Und obwohl der Aufwand groß ist – täglich werden Mehrfachexemplare neu geordnet, Bücher angenommen und geprüft, ob sie vollständig sind – ist der Sinn größer: «Wenn wir es schaffen, dass ein Mensch ein gutes Buch findet, das sonst verloren gewesen wäre, dann hat es sich gelohnt.»

Der Blick nach vorn bleibt vorsichtig optimistisch: Die Sammlung ist inzwischen deutschlandweit bekannt, Menschen bringen Bücher aus allen Regionen. «Ich hoffe, dass dieses Modell Schule macht. In der Schweiz zum Beispiel gibt es die Brockenstuben – dort kaufen sogar Menschen im Porsche Gebrauchtwaren.»


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