Notunterkünfte: Lärm, wo Stille wichtig wäre
Maryna Sviderska floh aus der Ukraine nach Deutschland. Durch ihren Aufenthalt in Geflüchtetenunterkünften bekam Stille für sie eine neue Bedeutung. Von Antonia Röhrer
Foto: Tetyana Chernyavska
Nur eine Plastikwand trennte Maryna Sviderska (43), ihren Sohn und ihre sechs weiteren, fremden Zellenbewohner*innen vom Rest der hunderten Geflüchteten. Am 9. Juli 2022 kam sie in Hannover an, untergebracht in einer Halle auf dem Messegelände, mit hunderten anderen Geflüchteten verschiedenster Nationalitäten.
Im Mai vergangenen Jahres floh sie aus Melitopol, der ukrainischen Stadt, die seit Beginn des Krieges als erstes unter russischer Macht war, nach Deutschland. Nun sitzen wir gemeinsam auf einer Parkbank in Bad Bevensen, gemeinsam mit Tania, Marynas Tochter, die schon zwei Monate früher in Hannover ankam. Sie hilft bei der Übersetzung und kann dies nur bestätigen: «Es war sogar am Handy schwierig meine Mutter zu verstehen. Kinder haben geschrien und es war wahnsinnig laut, zu jeder Tageszeit.»
Innerhalb der zwei Tage, die Maryna in ihrer ersten Notunterkunft verbringen musste, fand sie keine Ruhe, an Schlaf war gar nicht zu denken: «Wenn ich Zeit für mich wollte, bin ich nach draußen auf die Straße gegangen.» Von Hannover wurden ihr Sohn und sie nach Bad Bevensen, einer Kleinstadt 100 Kilometer von Hannover entfernt, gebracht. Dort lebten sie zusammen mit zwanzig weiteren Geflüchteten aus der Ukraine in Zelten in einer Schulturnhalle. «Die Situation dort war besser, ich hatte die Frauen, mit denen ich im Zelt wohnte, wenigstens schon vorher im Bus kennengelernt und sie waren nicht komplett fremd», sagt sie.
Man hörte zwar auch die Menschen in den anderen Zelten, für die ersten zwei Wochen wäre das aber aushaltbar gewesen. Dann kamen weitere geflüchtete Frauen und Kinder hinzu, die Situation verschlechterte sich: «Seitdem war es eine Katastrophe. Man hatte keine Ruhe, keine Privatsphäre, keine Sauberkeit, die Kinder haben ihr Geschäft zwischen den Zelten verrichtet und die Exkremente liegen lassen.» Dieser Zustand führte auch zu Konflikten unter den Geflüchteten.
Auf die Frage, ob sie ihr Bett von dem Blick anderer schützen konnte, lacht Maryna nur. Privatsphäre gab es für sie nicht, drei Monate lang. Diese sollte aber dringend gegeben sein: Das NIFN (Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e.V.) stellte im August 2020 einen Leitfaden für die Unterbringung von Geflüchteten vor. Dieser besagt zum Beispiel, dass «zu allen Tages- und Nachtzeiten die Möglichkeit gewährleistet sein (muss), das Zimmer abzuschließen.» Wenn das nicht möglich sei, wäre es wichtig, dass «Rückzug dennoch möglich ist, z.B. durch Raumteiler.» Von allemdem hatte Maryna nichts, dafür schlief sie jede Nacht mit Ohrstöpseln.
Beengte räumliche Bedingungen und fehlende Privatsphäre können auch die Symptome von Traumafolgestörungen verstärken, so der NIFN: Sie schränken das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle über die eigene Lebenssituation ein. Das kann Maryna nur bestätigen: «Wenn du keine Privatsphäre hast und keinen Ort zum Nachzudenken, kannst du das Erfahrene nicht verarbeiten, das belastet einen nochmal zusätzlich.» Es wäre zwar anfangs gut gewesen, mit Gleichgesinnten über den Krieg zu reden und zu weinen, aber ab einem gewissen Punkt hätte sie das lieber für sich selbst, in Stille getan.
Nach drei Monaten fanden freiwillige Helfer*innen eine Wohnung für Maryna, ihren Sohn und ihren Mann, der einen Monat später nach Deutschland kam. «Das, was ich mir für meine eigene Wohnung am meisten gewünscht habe, war die Stille und mein eigenes Bad», sagt die Ukrainerin. Ihr sei es egal gewesen, wie die Wohnung aussah, Hauptsache weg von dem ganzen Lärm. «Es war eine Erlösung», sagt sie, «endlich konnte ich wieder ohne Ohrstöpsel schlafen.»
Doch für Geflüchtete aus Kriegsgebieten hat Stille noch eine andere Bedeutung, sagt sie: «Wenn Stille ist, fliegen keine Bomben.» Eines Nachts im Lager gab es ein Gewitter, alle sind aufgewacht und hatten Angst, weil sie dachten, es wäre wieder eine Explosion, erzählt sie. Das sei nicht die einzige Situation gewesen, die sie in den Krieg zurückversetzt habe: «Eines Tages haben wir Tania in ihrer früheren Dachgeschosswohnung bei den Herrenhäuser Gärten besucht. Dort fand ein Feuerwerkswettbewerb statt, und als es anfing zu knallen, fing mein Sohn an zu weinen. Es klang genau wie die Schüsse in der Ukraine. Jetzt lachen wir darüber, damals war es schrecklich.»