Co-Parenting: Zwei Freunde, ein Kind

Julia möchte ein Kind bekommen. Ihr Freund Patrick nicht. Was tun, wenn Lebensentwürfe so unterschiedlich sind? Die Lösung findet Julia in einer Freundschaft – und geht damit einen ungewöhnlichen Weg.
Von Andreas Blauth (Text) und Jana Margarete Schuler (Fotos)

Wenn Julia und Ingmar heute durch Leipzig mit ihrer Tochter im Kinderwagen spazieren, wirken sie auf den ersten Blick wie eine klassische Kleinfamilie. Aber Julia und Ingmar sind kein Paar. Sie waren nie romantisch und nie intim miteinander. Und dennoch sind sie die leiblichen Eltern der neun Monate alten Tochter Verle und teilen eine gemeinsame Verantwortung.

Ein Blick zurück, ein gutes Jahr zuvor: Julia lebt mit ihrem langjährigen Partner Patrick in einer eigentlich glücklichen Beziehung. Nur einen sensiblen Punkt gibt es: Für Patrick ist die Vorstellung, Kinder zu haben und Verantwortung für diese zu tragen eine Aufgabe, der er nicht gerecht werden kann. Er ist «grundpessimistisch» wie er sagt: Die Vorstellung, ein eigenes Kind in diese Gesellschaft zu setzen, kann er für sich nicht verantworten. Aus diesem Grund hat er sich bereits sterilisieren lassen. Die Möglichkeit, ein Kind für die beiden zu bekommen galt somit schon zu Beginn der Beziehung auch biologisch als ausgeschlossen. Mit der Zeit wird Julias Kinderwunsch jedoch stärker. Wenn sie ein Kind bekommen möchte – so hat sie sich geschworen – dann, bevor sie 38 Jahre alt ist. Da sie die Frage umtreibt, informiert sie sich über längere Zeit über alternative Methoden für eine Schwangerschaft.

Leipzig, Sommer 2024

Ingmar und Julia waren früher Partyfreunde. Heute hält sie eine gemeinsame Elternschaft, zusammen, ohne dass sie jemals romantisch miteinander waren. Ihr Modell ist eine Form des «Co-Parentings», das immer beliebter wird.

Mit ihrem langjährigen Partyfreund Ingmar, der selbst schwul ist und wie Julia in Berlin lebt, redet sie immer wieder darüber. Auf der ein oder anderen Party scherzen die beiden herum, dass Ingmar selbst ja der Vater ihres Kindes werden könne. «In der schwulen Community ist es gang und gäbe, dass Männer befreundeten Frauen halb scherzhaft, halb ernst ihre Hilfe beim Kinderwunsch anbieten – nach dem Motto: Wenn die Uhr tickt, sprechen wir nochmal…» Ernsthaft haben beide zu dem Zeitpunkt aber noch nicht darüber nachgedacht. Erst als Julia sich mehr informiert und solche Gespräche zwischen den beiden auch außerhalb von Partys häufiger werden, wird auch die Idee immer ernster. Für beide kommt es aber nicht in Frage, intim miteinander zu werden. «Klar passt das rein funktional und wenn es eine fremde Frau wäre, könnte ich mir das ganz vielleicht vorstellen. Aber Sex mit der besten Freundin – das kam für mich nicht infrage», sagt Ingmar.

Die beiden entscheiden sich für einen anderen Weg: An einem Sommertag führt sich Julia in der fruchtbaren Phase Ingmars Ejakulat mit einer Spritze ein. Heiminsemination nennt sich dieser Vorgang der Befruchtung, der umgangssprachlich gerne auch als «Bechermethode» bezeichnet wird. Mehrmals hatten sie die «Bechermethode» probiert; einmal in Berlin und einmal, als er Julia in Leipzig besucht hat. Dass es bereits im zweiten Zyklus geklappt hat, hätte Julia nicht gedacht. Sie wird schwanger – und im Juli 2024 kommt Julias und Ingmars Tochter Verle zur Welt.

Für die Befruchtung füllte Ingmar im Badezimmer einen Urinbecher mit seinem Sperma, zog es in eine Spritze auf und reichte sie Julia.

Im Juli 2024 kommt Verle Flora Kirchhoff zur Welt. «BORN» schreibt Julia in den neuen Familienkalender, in dem auch die Termine von Julia, Ingmar, Ingmars Mann Marcelo und Julias Freund Patrick stehen.


Für uns alle ist das Konzept neu – und es gibt wenig kollektive Erfahrung von Anderen, auf die man sich berufen kann

Julia Kirchhoff

Wer welche Verantwortung in dieser Form des Co-Parenting-Modells übernimmt, muss vor der Geburt klar kommuniziert und geklärt werden. Denn Julia zog mit Verle zwischenzeitlich zu ihrem Partner Patrick nach Leipzig, während Ingmar weiterhin in Berlin lebte. Deshalb trifft Julia im Moment die meisten Entscheidungen und trägt die Hauptverantwortung.

Ingmar nimmt durch diese Umstände bedingt gerade noch die Rolle des Wochenendpapas ein: Einmal die Woche fahren sein Partner Marcelo und er nach Leipzig zu Julia, in deren Wohnung sie ihr eigenes Zimmer haben. Ingmar hilft im Haushalt aus und verbringt Zeit mit Verle. So kann Julia Zeit mit ihrem Partner Patrick verbringen, was unter der Woche häufig zu kurz kommt. In manchen Momenten fühle es sich wie eine Alleinerziehung an, sagt Julia. «Das ist aber auch völlig in Ordnung. Das habe ich mir auch ein Stück weit so ausgesucht», sagt sie kompromissbereit.

Co-Parenting

Gemeinsam spazieren Julia, Ingmar, Marcelo und Verle durch die Straßen und lassen sich auf einer Bank im Stadtpark in Berlin-Schöneberg nieder. Einige Menschen werfen der Konstellation neugierige Blicke zu.

Julias Partner Patrick unterstützt sie in ihrem Alltag in Leipzig, gelegentlich fragt Julia ihn auch ab und zu nach seinem Rat. Er bleibt aber bewusst außen vor, wenn es um die Vaterrolle und Erziehung geht: Große Entscheidungen, die zum Beispiel Impfungen, Schulwahl oder andere Verantwortlichkeiten betreffen, trifft er nicht mit ihr. Sie werden am Ende nur mit Ingmar zusammen entschieden. So etwas wie Eifersucht hat Patrick gegenüber Ingmar nie empfunden: «Für mich tut es mittlerweile unglaublich gut, zu wissen, das Verle bei Ingmar und Marcelo gut aufgehoben ist.»

Die Geburt von Verle war für Patrick im Vergleich zu allen anderen Beteiligten noch etwas schwerer zu verarbeiten. «Ich habe dann in dem Moment gemerkt, dass ich in diesem Modell doch mehr drin stecke, als mir vielleicht lieb war, und mir ist klar geworden, dass ich doch zumindest einen Teil der Verantwortung trage, den ich doch eigentlich immer vermeiden wollte.» Über die Zeit hat sich dieses Unbehagen aber gelegt. «Wenn man sieht , wie süß Verle ist und wie gut sie bei Julia, Ingmar und seinem Freund Marcelo aufgehoben ist, dann hat sich das eigentlich zu genau dem entwickelt, wie ich mir das immer vorgestellt habe.» Dazu, Julia zu helfen, hat sich Patrick selbst verpflichtet und sieht es als Entgegenkommen, als Teil des Kompromisses, den Julia und er im Rahmen ihrer Liebesbeziehung geschmiedet haben: Sie will ein Kind, er nicht. Sie sucht sich einen alternativen Weg, und er unterstützt sie dabei, ohne die Hauptverantwortung zu tragen. So der Deal.

Mutter Julia stillt ihr Kind. Eine Hebamme und ihr Kumpel Ingmar (links), mit dem sie in einem Co-Parenting Konzept lebt, schauen dem Kind zu. Rechts schaut ihr Beziehungspartner Patrick zu Verle

Nach der Geburt kommt die Hebamme regelmäßig zu Check-Ups und erklärt den betreuenden Personen, worauf sie im Umgang mit dem Neugeborenen achten sollten. Auf dem Bild sind von links nach rechts zu sehen: Ingmar, die Hebamme, Julia mit Verle auf dem Arm und Julias Freund Patrick.

Das Co-Parenting-Modell hat natürlich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Beteiligten verändert. Für Julia ist Ingmar von einem früheren Partyfreund zu einer engen Bezugsperson geworden, der Mitverantwortung für ihr Kind übernimmt. Hilfe gibt es zusätzlich auch von Ingmars Partner Marcelo, der so auch in gewisser Weise ein Teil der Familie geworden ist. Dass zwei Menschen, die befreundet sind, ein gemeinsames Co-Parenting führen, passiert nicht besonders oft.

Für Ingmar und Julia überwiegen die Vorteile. «In dem Co-Parenting-Modell habe ich gewisse Konflikte einfach nicht, weil mein romantischer Freund nicht die Verantwortung hat, das finde ich gut. Vielleicht ist es entspannter, dass es weniger Streitpotential zu meinem Liebespartner gibt. Positiv finde ich, dass ich mit Ingmar sehr rational über Themen sprechen kann, die Verle betreffen. Es ist nicht so emotional aufgeladen», sagt Julia.

Das sieht auch Ingmar so: «Ich kann nur theoretisch sprechen, aber ich denke, eine platonische Beziehung als Grundlage einer Erziehung hat seine Vorteile. Sicherlich hat es nicht die Innigkeit, Intensität und Frequenz der Momente des Teilens, die entstehen, wenn man zusammenlebt. Aber es gibt auch weniger Potential für Streit und Missgunst, wie sie in langen romantischen Beziehungen entstehen – und worunter oft die Kinder leiden.», sagt Ingmar. «Spätestens, wenn die Beziehung nicht mehr so rosig läuft, kommt oft persönliche Kränkung dazu. Bei uns gibt es natürlich auch vereinzelte Konflikte, aber keine Bestrafungen wie z.B. Liebesentzug. Das Co-Parenting-Modell hat Vorteile, weil dort das Wohl des Kindes im Vordergrund steht, wie es eigentlich idealerweise in jeder Beziehung der Fall sein sollte.»

An einigen Tagen fühlt sich Julia wie eine alleinerziehende Mutter. Von Montag bis Donnerstag ist sie alleine für Verle zuständig, die To-Do-Listen sind lang. «Abpumpen» steht ganz oben auf der Liste, damit sie Verle an diesem Wochenende ein paar Stunden allein mit Ingmar lassen kann.

Gleichzeitig fordert das Modell aber auch ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Spontanität ein. Lösungen müssen sie ständig neu herausfinden und besprechen: «Für uns alle ist das Konzept neu – und es gibt wenig kollektive Erfahrung von Anderen, auf die man sich berufen kann» räumt Julia ein. Ein Buch hatte Ingmar über grundsätzliche rechtliche und strategische Fragen des Co-Parenting-Modells informiert und all die damit einhergehenden bürokratischen Angelegenheiten geklärt.

Ganz angewandte und konkrete Erziehungsentscheidungen müssen sie aber immer wieder neu verhandeln und in der Praxis diskutieren. Das ist anstrengend; aber Julia begegnet diesen Prozessen auch mit großer Wertschätzung. Auch deswegen, weil sie das Gefühl hat, da etwas Neues zu schaffen, das in dieser Form noch kaum existiert: «Ich finde die Tatsache, dass Nichts von all den alltäglichen Angelegenheiten selbstverständlich ist in gewisser Weise beruhigend, vielleicht auch spannender, bunter. Man weiß nicht, was noch kommt; der Weg, die Zukunft sind nicht vorgeschrieben. Bei anderen Beziehungen habe ich das Gefühl, dass da oft Wege fest vorgeschrieben sind – als vermeintliche Selbstverständlichkeit.»

Co-Parenting

Als Julia und Ingmar sich für ein Kind entschieden, hatte Ingmar noch keinen Partner. Bei einer Mexikoreise lernt er Marcelo kennen und heiratet ihn noch während der Schwangerschaft. Während Julias Freund Patrick sich aus dem Familienleben größtenteils raushält, ist Marcelo bei allem dabei. «Er gehört jetzt auch zur Familie», sagt Julia.

So sieht Julia – ein grundsätzlich spontaner Mensch – bei der Erziehung ihrer Tochter davon ab, auf lange Sicht zu planen. Was, wenn sie später bei Ingmar in Berlin leben möchte? Was, wenn Verle sich später einmal immer vor anderen Kindern erklären muss? Wo Außenstehenden möglicherweise Machbarkeits-Fragen aufkommen, reagieren beide Elternteile gelassen und sehen vor allem Kommunikation als den entscheidenen Lösungsweg.

Noch ist unklar, wie sich die Vaterrolle auf mehrere Personen verteilt. Wie werden Patrick, Ingmar und Marcelo einmal angesprochen? Noch kann Verle nicht sprechen, sie freut sich einfach, alle drei zu sehen. «Mehr weiß ich nicht, wie sie uns Männer definieren wird», sagt Ingmar. Möglich sei, dass Verle alle drei mit «Papa» anspricht. Er selbst nimmt die Vaterrolle aber nicht als geteilt wahr: Verantwortung, Sorgerecht und Verpflichtung liegen bei ihm. Für ihn habe Verle einfach zwei weitere männliche Bezugspersonen, die für Außenstehende wie Väter wirken. Patrick wiederum könnte sich vorstellen, dass Verle alle drei mit «Papa» anspricht. Das sei nicht sein Wunsch, weil er sich nicht als Vater fühlt. Trotzdem verbringt er viel Zeit mit ihr.

Das neue Konzept der Veranwortungsgemeinschaft

Die Geschichte des Co-Parenting von Ingmar und Julia passt gut in einen gesellschaftlichen Trend: Die Nachfrage danach, das Konzept von Familie neu zu betrachten und andere Formen der Lebensgemeinschaft auszuprobieren, steigt stetig. Derweil lässt eine rechtliche Grundlage, die es solchen Elternpaaren leicht macht, die Elternschaft rechtlich zu besiegeln, auf sich warten. Nach dem Konzept der Verantwortungsgemeinschaft können auch Menschen, die nicht die leiblichen Eltern sind aber auch nicht im klassischen Sinne adoptiert haben, als verantwortliche Bindungspersonen eingetragen sein und als solche agieren.

Ein geplantes Gesetz zur «Verantwortungsgemeinschaft» sollte im Koalitionsvertrag von 2021 auf den aufkommenden Trend antworten und ermöglichen, dass bis zu sechs Personen rechtlich Verantwortung füreinander übernehmen können – unabhängig von Ehe oder Verwandtschaft. Bislang fehlten dafür noch gesetzliche Regelungen für Themen wie Erbe, Steuern oder Sorgerecht. Unter der Leitung von Marco Buschmann (FDP) wurde diese rechtliche Grundlage für diese Art des Co-Parentings geschaffen; durchgesetzt wurde sie in der gescheiterten Ampelkoalition aber nicht mehr – und eine Umsetzung des Entwurfs unter der laufenden Bundesregierung ist nicht geplant.


Verle wird in einer Welt aufwachsen, in der sie sich erklären müssen wird.

Aber auch abgesehen von der rechtlichen Verankerung die Modells muss das Konzept womöglich erst einmal in der Mitte Gesellschaft angekommen sein. Dafür braucht es wohl noch Zeit: «Verle wird in einer Welt aufwachsen, in der sie sich erklären müssen wird; in der sie merkt, dass sie anders ist und in andere Umstände eingebettet ist als die Norm» sagen Julia und und ihr Partner Patrick, der was das angeht beunruhigter ist als es Verles Eltern Ingmar und Julia sind.

Für sie sind solche Themen viel mehr eine Sache der Kommunikation und der Art und Weise, wie sie die Situation vor anderen Menschen, die das Konzept noch nicht verstehen, erklären kann. «Es ist insofern anstrengend, als dass man das Co-Parenting-Modell nie in einem kurzen Satz erklären. Ich habe schon gehört, dass die Kinder im Kindergarten am ersten Tag ein Foto von ihrer Familie mitbringen sollen, und natürlich habe ich da auch ein bisschen Angst vor. Ich versuche, möglichst viel auch ihr zu erklären, dass das ok ist, und dass Familien ganz unterschiedliche sein können. Das alles ist manchmal natürlich anstrengend. Aber ich will natürlich auch der Gesellschaft ein Stück weit zeigen, dass es anders geht und, dass Frauen nicht ewig auf ‹den Richtigen› warten müssen, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen.»


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