Sonntagmorgen am Stadtrand
Ein Spaziergang durch Hannovers Randbezirke mit Amir Khalifa (Text) und Moritz Schorpp (Fotos)
Das wahre Gesicht einer Stadt zeigt sich oft an ihren Rändern. An einem Sonntagmorgen, als die Stadt noch in ihrem trägen Schlaf liegt, beginne ich meine Wanderung entlang der peripheren Linien Hannovers. Mein Ziel: die Stadt dort zu erkunden, wo sie ausfranst.
Ich starte meine Erkundungstour entlang der gestrichelten roten Stadtgrenze, die mir bei Google Maps angezeigt wird. Die ersten Schritte führen mich runter vom Parkplatz, ich folge einem Trampelpfad entlang von Getreidefeldern, in einiger Entfernung höre ich Pferde wiehern – der Parkplatz gehörte wohl zu einem Pferdehof. Ansonsten ist es still, lediglich ein einziges Auto rauscht auf der Straße vorbei, von der ich gekommen bin. Mich überrascht die Weitläufigkeit der Szenerie, selten bietet die Stadt eine Chance, so weit in Richtung Horizont zu blicken. Doch auch in der Ferne regt sich nichts – alles steht auf Pause.
Nun steuere ich auf einen dieser Erkundungspunkte zu: Ein Waldparkplatz im Westen der Stadt, nahe dem Badebornteich. Es ist 8:30 Uhr. Ausgerüstet mit einer Flasche Wasser und meinem Smartphone verlasse ich Hannover, ohne Hannover wirklich zu verlassen. Der Parkplatz liegt abgelegen. Kein parkendes Auto, kein Mensch. Alles hier wirkt einsam, leer, irgendwie unvollkommen. Ich kenne dieses Gefühl: Es sieht so aus, als müsste gleich etwas passieren, als wenn Teile des Bildes noch hinzugefügt werden müssten – so kann es doch nicht bleiben. Doch es geschieht nichts.
Kurze Zeit später wird aus dem Feldweg ein Waldweg, die Stille verabschiedet sich und überlässt Blätterrascheln im Wind die akustische Bühne. Die Klangkulisse versetzt mich zurück in mein Heimatstädtchen: Waldspaziergänge, Entschleunigung, Kindheit. Die Umgebung löst Emotionen aus, die ich in der Stadt lang nicht mehr gespürt habe. Der Waldweg wechselt noch einmal sein Gewand, ich laufe wieder an Feldern entlang. Zu meiner rechten erstrecken diese sich nun nicht mehr bis zum Horizont, stattdessen erblicke ich eine Straße und einige Lagerhallen – ein Getränkehandel und ein Baumarkt.
Die Straße kreuzt den Feldweg, ich laufe nun auf dem Bordstein. Zu meiner rechten ein Industriegebiet, einige Bürogebäude hinter hohen Zäunen, zu meiner linken Reihenhäuser, kurze Zeit später eine Kleingartenkolonie. Mir begegnen die ersten Menschen seit Beginn meiner Tour, zwei junge Frauen fahren auf dem Fahrrad vorbei, ein älterer Herr öffnet das Tor zu seinem Kleingarten. Beinahe hatte ich vergessen, dass ich nicht allein bin – wieder eine Erinnerung an meine Heimatstadt, in der ich zu bestimmten Tageszeiten problemlos zwei Stunden ohne menschlichen Kontakt umherlaufen kann. In Hannovers Innenstadt undenkbar, selbst mitten in der Nacht fühlen sich die Straßen dort lebendiger an als in diesem Vorort.
An einer Kreuzung biege ich ab, folge einer breiteren Straße. Ich erblicke einen heruntergekommenen Autohof und ein Sonderpostengeschäft, im Angebot sind überdimensionierte Frostschutzkanister, Grablichter und Shampoo-Flaschen ohne deutschsprachiges Etikett. Vor der Tür werden werktags Grillhähnchen verkauft, der Mülleimer vor dem querstehenden Anhänger zeugt von einer scheinbar erfolgreichen Woche. Auf beiden Straßenseiten bewegen sich nun weitaus mehr Menschen. Die Wohnhäuser wachsen langsam in die Höhe, nach und nach steigt die Anzahl der Klingelschilder pro Eingangstür. Auch die Klangkulisse passt sich an: Autos und Straßenbahnen erinnern mich daran, dass mein Weg mich langsam raus aus der Peripherie, zurück in Richtung Enge, Lärm und Menschenkontakt führt. Ich bin bald wieder in der Stadt angekommen – vor mir der schwindelerregende Zeitraffer dicht besiedelter Betonbauten, in meinem Rücken die träge Zeitlupe des einsamen Randgebiets.
Gespräch mit Moritz Schorpp über seine Fotostrecke «Outskirts of a City»
Welche Idee steckt hinter deinem Projekt?
Ich bin drei Wochen lang die Stadtgrenze von Hannover entlanggefahren und habe diese fotografiert. Mein Plan war es eigentlich, keinen Plan zu haben. Stattdessen wollte ich das Projekt mit einer gewissen «Unbeschwertheit des Fotografierens» angehen. Deshalb habe ich nur Motive fotografiert, die etwas in mir auslösten.
Denkst du dabei an ein bestimmtes Foto?
Ich finde das Bild vom Imbiss, vor dem die weißen Plastikstühle stehen, besonders eindrucksvoll. Das war so eine traurige Szene – auch durch die Speisekarte, die dort mit Tesafilm festgeklebt war. Alles daran wirkte so trist, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wer sich da zum Essen hinsetzt. Ich denke, dass das Foto diese Stimmung gut repräsentiert.
Wie sind die Bilder auf technischer Ebene entstanden?
Ich habe analog fotografiert. Da analoges Filmmaterial aber sehr teuer geworden ist, hatte ich mir zum Ziel gesetzt, lediglich fünf Mittelformatfilme zu kaufen. Insgesamt hatte ich also nur 50 Fotos zur Verfügung. Das habe ich absichtlich so gemacht, um ganz bewusst zu fotografieren und meine Motive auszuwählen. Ich wollte die ganze Arbeit am Projekt damit persönlicher gestalten.
Wie lange dauert so etwas?
Insgesamt habe ich drei Wochen gebraucht. Die Idee für die Arbeit ist unter anderem entstanden, weil ich mittlerweile eineinhalb Jahre in Hannover lebe, die Stadt aber kaum kenne. Innerhalb eines Tages habe ich dann also beschlossen, meine Umgebung zu erkunden und das fotografisch festzuhalten. Die darauffolgenden Wochen habe ich aktiv am Projekt gearbeitet.
Interview: Amir Khalifa