Silent Treatment: Wenn Stille zur Qual wird

Verlassen, verletzt, verzweifelt. Kein Wort, keine Erklärung, kein Gespräch. Das Gefühl, Luft zu sein und ignoriert zu werden, ist schmerzhaft und begleitet viele Heranwachsende in ihrer Kindheit. Charlotte Wilke (Text und Fotos) beleuchtet die Folgen.

Ein kleines Mädchen sitzt mit dem Gesicht in den Händen auf ihrem Bett und zeigt deutliche Anzeichen von Kummer. Der Raum ist mit einer Wandmalerei von Enten und Fischen dekoriert. Die Szene illustriert das Konzept des toxischen Schweigens, bei dem emotionale Belastung durch das Ignorieren oder Ausschließen einer Person entsteht.

Unter «Silent Treatment» oder toxischem Schweigen versteht man eine negative Kommunikationsstrategie, bei der eine Person absichtlich aufhört, mit einer anderen Person zu sprechen, um Macht oder Kontrolle auszuüben. Die amerikanische Psychologin Harriet Braiker identifiziert «Silent Treatment» als eine Form der manipulativen Bestrafung. 

Aber wie wirkt sich toxisches Schweigen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus? «Ignoranz ist eine schreckliche Art und Weise, ein Kind zu bestrafen», so Kinder- und Jugendtherapeut Ulrich Müller, Leiter des Masterstudiengangs «Therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen» an der Hochschule Hannover. Es gebe jedoch viele Eltern, die diese Erziehungsstrategie anwenden und Konflikten absichtlich mit Schweigen entgegentreten.

Das bestätigt sich auf verschiedenen Portalen im Internet. Viele Betroffene teilen hier ihre Erfahrungen und tauschen sich aus. «Meine Mutter hat mich immer angeschwiegen. Oft wusste ich nicht einmal, warum», kommentiert Julie unter einem Beitrag auf der Internetseite TollaBea. Debora schildert ähnliche Erfahrungen: «Das war meist tagelang, manchmal sogar wochenlang. Die anderen Personen im Haus wurden normal behandelt, nur ich selbst war Luft.»

Ein Säugling versteht seine Eltern zwar inhaltlich nicht, aber er versteht die Zuwendung und Zuneigung, die durch die Sprache vermittelt werden.

Prof. Ulrich Müller
Porträt von Prof. Dr. Ulrich Müller, stehend in seinem Büro. In seiner Funktion als Leiter des Masterstudiengangs «Therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen» an der Hochschule Hannover beschäftigt er sich auch mit dem Phänomen «Silent Treatment» bzw. toxisches Schweigen. Prof. Dr. Ulrich Müller, Leiter des Masterstudiengangs «Therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen» an der Hochschule Hannover

Kommunikation spielt eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines Heranwachsenden. So ist es sogar im Säuglingsalter wichtig, mit seinem Kind zu sprechen. «Ein Säugling versteht seine Eltern zwar inhaltlich nicht, aber er versteht die Zuwendung und Zuneigung, die durch die Sprache vermittelt werden», erklärt Ulrich Müller. Zum einen sei es wichtig, dass ein Kind lernt, seine Gefühle und inneren Zustände in Sprache auszudrücken. Zum anderen sei es aber genau so wichtig, eine Antwort auf seine Empfindungen zu erhalten.

Ob ein Kind in einem Umfeld aufwächst, in dem Gefühle und Gedanken offen kommuniziert werden, kann man häufig an seinem Verhalten ablesen. «Viele Kinder handeln in Streitsituationen aggressiv, weil sie nicht ausdrücken können, was sie sauer macht», sagt Leah Senghas. Die 20-jährige Erzieherin beobachtet das Verhalten ihrer Kindergartenkinder genau. «Mit Kindern, die gelernt haben ihre Bedürfnisse auszudrücken, läuft die Konfliktlösung viel besser und einfacher als mit Kindern, bei denen das zu Hause ein Tabu-Thema ist», sagt sie. Neulich hat ein vier Jahre alter Junge gesagt, ein anderes Kind habe ihn geschubst, dass sei sehr frustrierend für ihn. «Es macht mich total stolz, wenn meine Kinder offen über ihre Gefühle sprechen und sich Hilfe holen, ich bestärke sie dann immer und sage, wie toll ich das finde», sagt die Erzieherin.


Meine Mutter hat mich immer angeschwiegen. Oft wusste ich nicht einmal, warum.

Auch zu Ulrich Müller kommen Kinder in die Praxis, bei denen zu Hause wenig über Gefühle gesprochen wird. «Man muss dabei immer auch die Geschichte der Eltern berücksichtigen», erklärt der Psychotherapeut. Vielen sei das selber nicht anders vorgelebt worden. Er hält «Silent Treatment» für keine sinnvolle Erziehungsstrategie und für ihn falle toxisches Schweigen unter den Begriff «Schwarze Pädagogik».

Soziologin Heike Wiemert bezeichnet die Schweigebehandlung in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger als «psychische Gewalt», die große Ängste in Kindern auslöse. Viele Betroffene stimmen ihr zu. «Man fühlt sich so, als ob die eigene Mutter einen nicht mehr liebt und man nichts Wert ist», schreibt eine Nutzerin auf der Website TollaBea. Ängste und Stress schildert auch diese Nutzerin: «Wenn ich nach Haus kam, schlich ich mich in mein Zimmer und habe auf jedes Geräusch geachtet. Purer Dauerstress.» Eine andere Betroffene beschreibt ihre Gefühle so: «Ich habe mich verunsichert und verlassen gefühlt. Allein.»

Ulrich Müller versteht die Betroffenen. Menschen die Sprache zu verweigern und sie zu isolieren, sei eine Form von Verachtung: «Das signalisiert: Du bist für mich ein Nichts.» Dementsprechend haben Betroffene oft ein geringes Selbstbewusstsein und kämpfen auch noch im Erwachsenenalter mit den Folgen. «Ich weine bis heute, wenn mich die Erinnerung überkommt», schreibt Debora. Eine weitere Nutzerin antwortet ihr und erzählt, dass ihr Mann in der Kindheit mit «Silent Treatment» aufgewachsen sei. «Er wendet das auch in unserer Beziehung an, es ist die einzige Art, die er kennt, um auf Ärger und Unzufriedenheit zu reagieren.»

Schwarze Pädagogik

Laut der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung steht «Schwarze Pädagogik» für Erziehungsmethoden, die mit Strafen, Kontrolle, Gewalt, Demütigungen oder Einschüchterungen verbunden sind – mit der Absicht, Kinder und Jugendliche völlig unterzuordnen. Damit eng verknüpft sind oftmals Machtmissbrauch oder die Absicht, sich gegenüber Kindern und Jugendlichen zu erhöhen.


So manches Mal hätte ich mir eher Schläge gewünscht, statt dem Gefühl ausgesetzt zu sein, Luft zu sein.

Psychologen um Selma Rudert von der Universität Basel und Kipling Williams von der Purdue University in Lafayette zeigen in einer Studie im Fachblatt Personality and Social Psychology Bulletin, dass Menschen dankbar auf jedes Wort reagieren. Laut den Autoren verspüren wir ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und danach, von anderen wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Das Fazit der Arbeit lautet: lieber negatives Feedback als gar keins. Die Studie bestätigt sich in den Erfahrungen der Betroffenen Kari. Sie schreibt «Denn so manches Mal hätte ich mir eher ein kurzes Gewitter und ja, sogar auch Schläge gewünscht, statt dem Gefühl ausgesetzt zu sein, Luft zu sein.» Ulrich Müller kann das nachvollziehen. Schläge seien aber in keinem Fall eine Lösung. Der Psychotherapeut erklärt das so: «Auch wenn es einen großen Streit gibt, in dem heftige Emotionen involviert sind, bleibt durch die Interaktion zumindest die Verbindung zwischen Eltern und Kind aufrechterhalten. Wenn gar nicht mehr gesprochen wird, ist das ein dramatischer Beziehungsabbruch.»

Konflikte zu ignorieren und auszuschweigen, scheint also keine Lösung zu sein. Wie macht man es denn richtig? «Manchmal ist es gut, einen Streit zu unterbrechen und eine Pause zu machen», sagt Ulrich Müller. Es sei jedoch ganz wichtig, die Aussicht auf ein klärendes Gespräch zu kommunizieren. Leah Senghas hat ebenfalls eine klare Antwort. Es sei wichtig zu vermitteln, dass Gefühle nicht verdrängt werden sollen. «Du bist wichtig, deine Bedürfnisse sind wichtig, du darfst deine Gefühle zeigen und wenn wir gemeinsam darüber sprechen, finden wir immer eine Lösung», sagt die Erzieherin. Ulrich Müller möchte den Patienten in seiner Praxis einen sicheren Raum geben, ihre Empfindungen auszudrücken, und zeigen, dass ihnen zugehört wird und sie dort eine Antwort erhalten.


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