Ab in die Büsche

Von Stadtparks und Friedhofstoiletten: Wie öffentliche Plätze für schwule Männer zu Zufluchtsorten wurden – und warum Cruising bis heute existiert. Von Markus Heft (Bild) und Tim Kirchhof (Text)

Auf dem Bild sind links und rechts angeschnitten zwei graue Parkbänke aus Metall zu sehen. Der Boden ist mit Gras bewachsen und es liegen Blätter darauf. Im Hintergrund sind unscharf Bäume erkennbar.

«Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt.» Mit diesem provokanten Satz markierte Filmemacher Rosa von Praunheim in den 1970er Jahren einen Wendepunkt in der Schwulen- und Lesbenbewegung in Deutschland. Sein Aufruf «Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!» forderte die Gemeinschaft auf, sich gegen gesellschaftliche Zwänge aufzulehnen.

Mats, 62 Jahre alt aus Frankfurt, erinnert sich an seine ersten Schritte in dieser verborgenen Welt. Als Jugendlicher ermutigte ihn seine Schwester, eine «Klappe» zu besuchen – eine öffentliche Toilette als Treffpunkt fürs Cruising. «Für mich öffnete sich das Paradies: Viele Männer, die Bock auf Sex mit Männern hatten», erzählt er. Diese Entdeckung führte ihn tiefer in die Cruising-Szene von Frankfurt.

Cruising, die Suche nach anonymen sexuellen Begegnungen an öffentlichen Orten, war für viele schwule Männer eine Reaktion auf gesellschaftliche und rechtliche Repressionen. Bis in die 1960er Jahre waren sexuelle Handlungen zwischen Männern in der BRD und der DDR strafbar. Öffentliche Orte wie Parks oder Toiletten wurden zu Zufluchtsorten, an denen Männer ihre Sehnsüchte ausleben konnten.


Du läufst halt durch die Natur und siehst die Leute. Wenn du jemanden attraktiv findest, versuchst du es mit Augenkontakt und wenn das passt, geht’s in die Büsche.

«Damals galt noch §175 Strafgesetzbuch (StGB), der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte», erinnert sich Mats. «Ich hatte Glück, bin aber auch immer vorsichtig gewesen. Dieses Verbot habe ich aber immer gespürt.» Die ständige Gefahr der Verfolgung war allgegenwärtig, doch die Sehnsucht nach Nähe überwog.

Die staatliche Überwachung wurde deutlich, als Aktivisten 1980 in Hamburg die Spiegel öffentlicher Toiletten zerschlugen und dahinter versteckte Polizeikabinen entdeckten. Diese Enthüllung machte die systematische Bespitzelung von Homosexuellen öffentlich und löste Proteste aus.

Das Foto zeigt den Blick durch ein Glory Hole auf einer öffentlichen Toilette. Im Vordergrund ist unscharf das Loch zu erkennen, dass mit Panzertape verkleidet wurde. Im Hinetrgrund, der scharf gestellt ist, ist eine Klokabine und das Klo erkennbar.

Blick durch ein «Gloryhole» auf eine Toilettenschüssel in einer «Klappe» in Hannover. Das Loch ist mit Panzertape ausgekleidet, zum Schutz vor scharfen Kanten.

Auf dem Bild ist eine Wand, die im oberen Bereich heller und im unteren Bereich dunkler grau angemalt ist. In der Wand sind mehrere kleine und ein größeres Loch, das als Guckloch genutzt wird. Um die Löcher herum ist eine pornografische Zeichnung in blau erkennbar, die einen vorgebeugten Mann zeigt.

Ein Guckloch zum Beobachten von anderen Cruisern.

Das Bild zeigt eine öffentliche Toilette an einer Straße in der Dämmerung, umgeben von Bäumen und Straßenlaternen. Diese Umgebung ist typisch für Cruising-Treffpunkte.

Eine öffentliche Toilette  in Hannover, die als «Klappe» bekannt ist.

Das Foto zeigt eine Engelsstatue auf einem Sockel vor einer Wand. Die Statue ist mit Moos bedeckt und der Sockel und die die Statue haben Risse und Absplitterungen, die auf ein hohes Alter verweisen.

Engelsstatue auf einem Friedhof in Hannover.

Das Foto zeigt einen Parkplatz, der mit verschiedenen Autos gefüllt ist. Die Perspektive zeigt, dass der Fotograf im Wald stand, da im Vordergrund unscharf Büsche und Bäume erkennbar sind. Der Bildausschnitt vermittelt das Gefühl, dass der Betrachter heimlich auf den Parkplatz schaut.

Ein bekannter Cruising-Parkplatz in Hannover mit angrenzendem Gebüsch. Sex findet entweder im Auto oder im Wald statt.

Das Foto zeigt den Eingang zu einer Herrentoilette, aufgenommen von innen. Die Glastür trägt die Aufschrift "Herren". Solche Orte werden häufig für Cruising-Aktivitäten genutzt.

Auch ein Cruising-Ort: Herrentoilette auf einem Friedhof in Hannover

Diskrete Signale spielten eine zentrale Rolle im Cruising. «Du läufst halt durch die Natur und siehst die Leute», beschreibt Mats. «Wenn du jemanden attraktiv findest, versuchst du es mit Augenkontakt und wenn das passt, geht’s in die Büsche.» In «Klappen» war die Atmosphäre direkter. «Da standen Männer und haben sich einen runtergeholt, um so ihre Werbung zu betreiben.»

Die Treffpunkte waren oft nur Insidern bekannt. Magazine wie Spartacus boten Listen von Cruising-Orten weltweit. Heute übernehmen das Internet und Apps diese Rolle, doch es gibt immer noch geheime Plätze innerhalb der Community.

Die 1970er und 1980er Jahre brachten Veränderungen und neue Herausforderungen. Während die Schwulen- und Lesbenbewegung für mehr Sichtbarkeit kämpfte, führte die Aids-Pandemie zu neuer Stigmatisierung. Sichere Räume wurden wieder wichtiger, und Cruising-Orte dienten als Orte der Gemeinschaft und Unterstützung.


Heute ist Cruising immer noch ein Thema für mich, allerdings ein viel kleineres.

Heutzutage hat sich vieles geändert. Rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz haben zugenommen. Technologie und Dating-Apps haben die Art der Begegnungen verändert. Dennoch bleibt das Cruising für einige ein wichtiger Teil ihrer Identität. «Heute ist Cruising immer noch ein Thema für mich, allerdings ein viel kleineres», sagt Mats. «Mit dem Alter habe ich nicht mehr so viel Lust.»

Die Geschichte des Cruisings zeigt, wie sich gesellschaftliche Normen und individuelle Freiheiten über die Jahrzehnte verändert haben. Von Zeiten der rechtlichen Verfolgung und gesellschaftlichen Tabuisierung bis hin zur zunehmenden Akzeptanz und rechtlichen Gleichstellung spiegeln diese Orte und Begegnungen den Wandel wider. Gleichzeitig bleibt Cruising für einige Menschen ein bewusst gelebter Teil ihrer Kultur – sei es aus Tradition, aus persönlichen Vorlieben oder als Alternative zu digitalen Formen des Kontakts.

Über die Bilder in diesem Beitrag

Die Fotostrecke von Markus Heft zeigt aktuelle Cruising-Orte in Hannover und Umgebung.

Auf dem Foto sieht man Treppenstufen und die Füße einer Statue. Alles sieht grau bis silber aus. Die Statue trägt ein Gewand oder Kleid und Sandalen, die darunter herausgucken.

Füße und Gewand einer Engelsstatue in der Nähe der Friedhofstoilette.

Das Foto zeigt eine öffentliche Toilette in einem Kaffe, die im Stil der 80er Jahre gehalten ist. An der Wand sind dunkelgrüne Fliesen und es gibt rotbraune Türrahmen und Verzierungen. Die Perspektive des Fotos geht durch eine offene Tür auf zwei Pissoirs an der Wand.

Blick auf zwei Pissoirs in einem ehemals queeren Café in Hannover, bekannt für seine Geschichte als Cruising-Ort.

Das Foto zeigt im Vordergrund die Oberfläche eines Sees. Die andere Seite des Sees ist mit Bäumen bewachsen. Der Himmel über dem See ist bewölkt.

Ein See an einem Cruising-Ort in der Nähe von Hannover.

Das Foto ist in einem Waldstück aufgenommen worden. Der Boden ist mit Laub bedeckt und es sind Büsche und kleinere Bäume im Hintergrund erkennbar. Im Zentrum steht ein grauer Stuhl und ein Mülleimer.

Ein grauer Stuhl neben einem Müllsack im Wald. Dieser Cruising-Ort wird von seinen Benutzer*innen sauber gehalten und die gesamte Fläche regelmäßig von Müll befreit. Der Stuhl dient als Treffpunkt und Hilsmittel beim Sex.

Zusammengeklappter Plastikstuhl an einem Baum in Hannover. Cruising bleibt für einige Schwule ein wichtiger Teil ihrer Identität.


Empfehlungen aus dem Magazin: