Organspende –
Die Unsichtbaren auf der Warteliste
Deutschland ist Europas Schlusslicht bei Organspenden – Menschen sterben jeden Tag, während Politik und Gesellschaft zögern. Anton Vester zeigt in seiner Fotostrecke, wer keine Zeit mehr hat. Text: Finn Winkler

Deutschland steckt mitten in einer Krise der Organspende: Im Jahr 2023 kamen hierzulande auf eine Million Einwohner lediglich elf postmortale Organspender – Menschen, bei denen nach Hirn- oder Herztod Organe entnommen wurden. Damit liegt Deutschland europaweit auf einem der letzten Plätze. Zum Vergleich: Spitzenreiter Spanien erreichte im gleichen Zeitraum mit über 46 Organspendern pro einer Million Einwohner mehr als das Vierfache.
Die Deutsche Transplantationsgesellschaft verweist auf den deutlichen Unterschied zwischen beiden Ländern: Während Patient*innen in Spanien häufig nur wenige Tage auf lebensrettende Organe warten müssten, ist die Situation in Deutschland weitaus dramatischer. Hier stehen aktuell rund 8.500 Menschen auf Wartelisten für eine Organspende. Wie der Deutschlandfunk berichtet, sterben täglich zwei bis drei Menschen, weil nicht genügend Spenderorgane vorhanden sind.
Genau diesem Warten hat sich der Fotograf Anton Vester in seinem preisgekrönten Projekt «Ohnmächtige Stille» gewidmet. Anstatt spektakuläre Operationen oder einzelne Schicksale zu dokumentieren, rückt er bewusst das beklemmende Gefühl des Wartens ins Zentrum seiner Arbeit. «Die Menschen auf der Warteliste fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen», fasst Vester seine Gespräche mit Betroffenen zusammen. Hinzu kommen katastrophale Zustände in deutschen Krankenhäusern, die unter chronischer Unterbesetzung leiden. «Außerdem bleibt die Organspende in Deutschland ein Tabuthema», ergänzt der Fotograf.

Fünf Stunden Dialyse, dreimal pro Woche: Die 27-jährige Yvonne Zacher kämpft mit einer unklaren Kollagenose, einer Autoimmunerkrankung, die ihre Nieren angreift.

Jacob (8) leidet an pulmonaler arterieller Hypertonie und steht kurz davor, auf die Warteliste für eine Lungentransplantation zu kommen. Einmal jährlich fährt seine Familie in ein Kinderhospiz, um Kraft für die schwierige Zeit zu sammeln.

Jacobs Kette erzählt seine Lebensgeschichte: Jede Perle steht für einen Tag, den er seit seiner Geburt im Krankenhaus verbringen musste.

Gemeinsam auf Entdeckungstour: Jacob (8) führt seinen kleinen Bruder spielerisch durch den Park – die beiden bilden ein unzertrennliches Team.
Die dramatische Lage ist keineswegs neu. Bereits im Januar 2020 stellte der Wissenschaftsjournalist Dr. Jakob Simmank auf Zeit Online die entscheidende Frage: «Wenn jedes Jahr 900 Menschen sterben, weil sie kein Spenderorgan bekommen – ist das nicht ein zu hoher Preis für das Recht, sich nicht entscheiden zu müssen?» Zu diesem Zeitpunkt war gerade ein Gesetz zur Einführung der Widerspruchslösung gescheitert. Diese Regelung hätte bedeutet, dass jede Person nach ihrem Tod grundsätzlich als Organspenderin gilt – es sei denn, sie widerspricht ausdrücklich per Organspende-Ausweis oder anderweitiger Erklärung. Befürworterinnen hatten gehofft, auf diese Weise endlich die Nachfrage nach Organen decken zu können. Kritiker*innen sahen darin hingegen einen Eingriff in die Selbstbestimmung der Menschen.
Wenige Wochen später brach weltweit die Covid-19-Pandemie aus. «Während der Pandemie geriet das Thema Organspende ins Hintertreffen», berichtet Anton Vester. Intensivstationen waren überlastet, und Mitarbeiter*innen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) durften wegen der strengen Hygienemaßnahmen oft nicht in die Kliniken. Die Folgen waren gravierend: Im ersten Quartal 2022 gingen die Organspenden in Deutschland um rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück.
Inzwischen haben sich die Zahlen zwar wieder stabilisiert, allerdings ist von einer signifikanten Verbesserung keine Rede. Daher wurde im Sommer 2024 erneut ein Vorstoß zur Einführung der Widerspruchslösung im Bundestag gestartet. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) erklärte dazu, die bisherigen Maßnahmen seien nicht ausreichend gewesen, um die Organspendezahlen nachhaltig zu erhöhen.
Ob die Widerspruchslösung allein genügt, um die Situation entscheidend zu verbessern, bleibt jedoch offen. Vermutlich bedarf es eines ganzen Bündels an Maßnahmen. Doch vielleicht kann gerade eine breite Diskussion über diese Regelung helfen, die Organspende stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Anton Vester zieht am Ende seines Projektes ein klares Fazit: «Jeder sollte sich fragen, wie er zur Organspende steht. Zweifel und Unsicherheiten sind völlig nachvollziehbar, aber eine persönliche Auseinadersetzung mit diesem Thema ist unverzichtbar.»

Alexander Brucker telefoniert per Videoanruf von seiner Couch aus mit seinen beiden Töchtern. Ein neues Tattoo auf seinem linken Arm zeigt, dass er Organspender ist.

Der Weg in seine Wohnung im dritten Stock bringt Alexander Brucker regelmäßig an seine körperlichen Grenzen, mehrfach kollabierte er bereits im Treppenhaus. Die obere Narbe erinnert an eine Defibrillator-OP, die untere an eine Sonden-Operation.

Jeden Abend notiert Silvia Acar ihre Medikamenteneinnahme akribisch. Die chronische Müdigkeit macht ihr schwer zu schaffen, und wegen ihrer geschädigten Nieren steht sie kurz vor der Listung zur Transplantation.

Seit Geburt begleitet Jennifer Krienke ein schwerer Herzfehler. «Ich habe bewusst die Grenzen überschritten, die mir Ärzte setzten, und war deutlich aktiver.» Ihre Prognose, so sagt sie, habe sie längst überlebt.

Schon mehr als ein Jahr lang blickt Alisa Gilmutdinova jeden Abend auf dieselbe Wand ihres Krankenzimmers. Sie wartet geduldig auf zwei Organe, die ihr Leben retten könnten – länger als jeder andere auf Station 2. Der Teddy ist ein Geschenk einer ehemaligen Zimmernachbarin.

Die Wartezeit von Alisa Gilmutdinova ist besonders lang, weil sie gleichzeitig ein neues Herz und eine neue Lunge benötigt. Zwei passende Spenderorgane gleichzeitig zu finden, ist medizinisch extrem anspruchsvoll.

An ihren Fingernägeln zeigen sich bereits Trommelschlägelfinger – ein deutliches Anzeichen dafür, dass Alisa Gilmutdinovas Lungen- und Herzfunktion stark eingeschränkt sind.

Seit drei Monaten im Krankenhaus: Innenarchitektin Astrid Gruschke hängt dauerhaft am Sauerstoffgerät. Ihr Zustand verschlechtert sich kontinuierlich, ihre geschwächte Lunge kann sie nicht mehr ausreichend versorgen.

Svenja Wilms lebt auf Abruf: Ihr Koffer steht bereit, jederzeit könnte das Telefon klingeln und die Nachricht von einer verfügbaren Spenderleber eintreffen.

Gemeinsam leben Svenja Wilms und ihre Halbschwester Araya mit dem Wissen um die Endlichkeit. Svenja benötigt dringend eine neue Leber – diese Realität verleiht ihrer Beziehung eine ganz besondere Intensität.

Abendritual: Levi (8) sitzt beim Fernsehen auf dem Schoß seines Vaters. Zusammen mit seinem kleinen Bruder schaut er den «Sandmann». Den blauen Fleck am Auge zog er sich beim Spielen zu – solche Verletzungen entstehen bei Levi wegen seiner blutverdünnenden Medikamente besonders schnell. Seit seiner Geburt lebt er mit einem Herzfehler.

Während einer kurzen Pause im einstündigen Rücken-Intervalltraining nutzt Norbert Hühner zusätzlichen Sauerstoff. Aufgrund seiner langjährigen Lungenfibrose benötigt er das Hilfsmittel bei körperlicher Belastung.