So funktionieren 360-Grad-Videos im Journalismus.

360-Grad-Videos stellen das Publikum mitten ins Geschehen: Statt zuzuschauen, erlebt es die Story aus allen Blickwinkeln. Der Beitrag zeigt, wie 360-Grad-Videoproduktion funktioniert und welche Chancen sie für den Journalismus bietet.

In unseren Arbeitsräumen im Keller des Design Centers haben Studierende die Möglichkeit, 360°-Filme zu produzieren. Foto: Rafael Heygster

Virtual Reality eröffnet neue Wege des visuellen Erzählens. Statt zuzusehen, taucht das Publikum in eine eigene Welt ein. Besonders die 360-Grad-Videoproduktion eröffnet dem Journalismus neue Chancen. Worauf VR-Experte Felix Gaedtke dabei achtet, zeigt dieser Beitrag.

Was ist ein 360-Grad-Video?

Virtual Reality (VR) ersetzt den realen Raum durch computergenerierte Umgebungen oder 360-Grad-Videos. Eine omnidirektionale Kamera nimmt dabei ein sphärisches Panorama auf, das horizontale und vertikale Perspektiven umfasst. Zuschauer*innen haben dabei «3 degrees of freedom» (3DoF): Sie können sich in alle Richtungen umsehen. In volumetrischen Produktionen stehen ihnen sogar «6 degrees of freedom» (6DoF) zur Verfügung – sie bewegen sich frei in der virtuellen Umgebung.

Immersives Storytelling als Berufung

Portrait von Felix Gaedtke, Gründer von NowHere Media

Felix Gaedtke ist Emmy®-nominierter und mit dem Peabody Award ausgezeichneter Regisseur und Produzent. Bekannt für seine Arbeiten im immersiven Storytelling gilt er als Pionier der 360°-Videoproduktion.

Er ist Mitbegründer des Studios NowHere Media, das unterrepräsentierten Stimmen im Mainstream-Diskurs Gehör verschafft. Das Team entwickelt immersive Erfahrungen, vor allem im Non-Fiction-Bereich – darunter Virtual und Augmented Reality, 360°-Filme, Audio-Workshops und installative Arbeiten.

Seit dem Wintersemester 24/25 ist Felix Gaedtke als Lehrbeauftragter für das Seminar «Immersive Journalism» an der Hochschule Hannover tätig.

Leihen statt kaufen: Omnidirektionale Kameras und Spatial Audio

Für die Aufnahme von 360-Grad-Videos kommen meist omnidirektionale Kameras zum Einsatz. Sie besitzen mehrere Linsen und erfassen gleichzeitig verschiedene Blickwinkel, die beim «Stitching» zu einem vollständigen Panorama zusammengesetzt werden. Felix Gaedtke empfiehlt, die Technik zu leihen statt zu kaufen – sie veraltet schnell. Auch der Ton sollte in 360 Grad aufgezeichnet werden, damit das Erlebnis immersiv wirkt. Dieser räumliche Klang heißt Spatial Audio. Zwei gängige Formate sind Ambisonics, das Schall aus allen Richtungen aufnimmt und dynamisch auf Kopfbewegungen reagiert, und Binaural Audio, das mit zwei Mikrofonen ein realistisches Raumgefühl über Kopfhörer erzeugt.

Stärken und Schwächen von VR

Felix Gaedtke betont, dass VR ein eigenständiges Format ist und sich grundlegend vom klassischen Film unterscheidet. Es schafft eine vollständig immersive Erfahrung, die die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen ohne Ablenkung bindet. Produzent*innen können das Publikum gezielt in Situationen oder an Orte versetzen.

Gleichzeitig bringt VR Herausforderungen mit sich. Oft erleben Menschen es isoliert, da sie Inhalte allein konsumieren. Unbequeme Brillen und unausgereifte Technik erschweren den Zugang zusätzlich. Auch bleibt VR für viele unzugänglich, weil 360-Grad-Filme fast nur mit VR-Headsets funktionieren.

Mit der 360-Grad-Kamera auf dem Containerschiff

Portrait von Niklas Grüter

Niklas Grüter ist 28 Jahre alt und hat 2022 an der Hochschule Hannover seinen Bachelor in Visual Journalism and Documentary Photography mit der Multimedia Arbeit «Growling Sea» abgeschlossen. Nach seinem Abschluss arbeitet er bei 2470.media in Berlin und ist heute als Video-Producer in der Bundesgeschäftstelle des Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) tätig.

In seiner Bachelorarbeit «Growling Sea» beleuchtet Niklas Grüter die Arbeitsbedingungen von Seeleuten. Rund 90 Prozent der weltweiten Waren werden per Schiff transportiert – viele Besatzungsmitglieder leiden unter Depressionen, Isolation und langer Trennung von ihren Familien. Mit Virtual Reality lassen sich die Dimensionen eines Containerschiffs und die Perspektive der Crew eindrucksvoll erleben. Das Publikum rückt den Lebens- und Arbeitsumständen unmittelbar nahe.

Niklas Grüter sieht darin einen zentralen Vorteil der 360°-Videoproduktion: «In einer schnelllebigen Welt kannst du dich ganz auf eine Sache konzentrieren.» So taucht das Publikum emotional ein und gewinnt einen direkten Bezug zum Arbeitsumfeld. Obwohl VR während seines Studiums noch Neuland war, bot ihm der Studiengang in Hannover mit Storytelling-Schwerpunkt und Technik-Ausleihe eine solide Basis.

Die Handhabung der Kamera «Insta360 Pro 2» mit 5.1-Mikrofonsystem erwies sich jedoch als schwierig. Enge Räume und herumschwingende Seile stellten unerwartete Probleme dar. Trotzdem gelang Niklas ein immersives Video, das durch eingesprochene Briefe echter Seeleute zusätzliche emotionale Tiefe gewann.

Mit «Growling Sea» gewann er den ersten Preis beim Sehsüchte-Festival in Babelsberg (Kategorie VR) und präsentierte das Projekt in Bremen, Berlin und beim Human Rights Film Festival. Heute nutzt die Reederei das 360°-Video, um junge Menschen für die Arbeit auf See zu begeistern.

Filmplakat von Growling Sea

Von virtuellen Rundgängen bis zur Kriegsdokumentation: 360°-Videos im Einsatz

360-Grad-Videos finden Einsatz in vielen Bereichen: im Tourismus bei virtuellen Rundgängen, bei Veranstaltungen wie Konzerten und Messen, in der Bildung mit interaktiven Lernumgebungen oder im Marketing mit Produktpräsentationen und immersiven Kampagnen.

Im Journalismus macht die 360-Grad-Videoproduktion das Publikum zum aktiven Teil des Geschehens. Sie verstärkt das Gefühl, «vor Ort» zu sein, und schafft eine tiefere emotionale Bindung. Wer interagiert, bleibt länger aufmerksam und setzt sich intensiver mit dem Inhalt auseinander. Felix Gaedtke betont, dass VR so persönliche Zugänge zu Orten und Menschen ermöglicht. Auch abstrakte oder komplexe Themen – vom Universum bis zu Körperprozessen – lassen sich anschaulich darstellen.

Die New York Times gehörte zu den ersten, die 360°-Videos regelmäßig einsetzten. Seit 2016 zeigte das Format «The Daily 360» täglich historische Ereignisse, kulturelle Highlights und aktuelle Nachrichten. NowHere Media von Felix Gaedtke veröffentlichte 2023 die Dokumentation «YOU DESTROY. WE CREATE. The war on Ukraine´s culture». Der 25-minütige Film führt in die zerstörte Ukraine, «wo Künstler und Kulturschaffende mit dem Schutz, dem Wiederaufbau und der Schaffung von Kunst beschäftigt sind». Gaedtke und sein Team kombinierten 360-Grad-Aufnahmen mit 180-Grad-3D-Material und nehmen das Publikum so auf eine immersive Reise mit.

Zuschauer*innen werden zum aktiven Teil der Geschichte

Das Storytelling von 360°-Videos unterscheidet sich deutlich von klassischen, linearen Erzählweisen herkömmlicher Produktionen. Das Publikum bestimmt aktiv seine Perspektive und damit Teile der Geschichte. Es sieht die Story nicht nur – es erlebt sie.

Eine Möglichkeit der 360 Grad Videoproduktion ist, das Publikum als Teammitglied in die Handlung einzubinden. So fühlt es sich unmittelbar vor Ort, erkundet Details selbst und bildet sich ein eigenes Bild. Das Produktionsteam kann direkt zum Publikum sprechen, Dinge zeigen und es auf die Reise mitnehmen. Die BBC setzte diese Technik in «Damming the Nil»ein: Ihr «Behind the Scenes»-Team wurde Teil der Handlung – und damit auch die Zuschauer*innen. Um sich besser vorzustellen, wo das Publikum später stehen könnte, gaben die Filmemacher der Kamera sogar einen Namen. Diese Verankerung verstärkt die Immersion.

Nicht immer braucht es jedoch eine erzählende Figur. Felix Gaedtke betont, dass dem Publikum trotzdem klar sein muss, warum es an einem Ort ist und welche Perspektive es einnimmt. Oft reicht die Platzierung der Kamera, um diese Fragen subtil zu beantworten. «Wenn ich mit einer Kamera U-Bahn fahre, dann bin ich Gast der U-Bahn. Stelle ich die Kamera aber auf die Gleise und lasse die Bahn darüberfahren, entsteht sofort eine dramatische Situation.» Die Position der Kamera entscheidet somit wesentlich über die Wirkung.


Virtual Reality versetzt das Publikum wirlich in einen neuen Ort und Situation.

Felix Gaedtke

Zwiebelprinzip: Szenenaufbau in 360°-Filmen

Die Postproduktion einer 360 Grad Videoproduktion beginnt mit dem Stitching: Die einzelnen Kameraaufnahmen werden zu einem sphärischen Bild zusammengesetzt. Dieses Material lässt sich wie herkömmliches Video schneiden – allerdings erfordert es besondere Sorgfalt.

Schnitte sollten langsam gesetzt werden, damit das Publikum Zeit hat, eine Szene zu erkunden. Felix Gaedtke vergleicht seine Methode mit einer «Zwiebel»: Jede Szene legt sich wie eine Schicht über die andere. Entscheidend ist, dass der Fokus einer Szene fließend in die nächste übergeht. Auch Zuschauer*innen, die anfangs nicht zum Fokuspunkt blicken, müssen durch gezielte Bewegungen im Bild wieder dorthin gelenkt werden. Nur so entsteht ein stimmiges, immersives Erlebnis.

Die Stimmen von Musliminnen im 360-Grad-Format

Portait von Momen Mostafa

Momen Mostafa wurde 1998 in Giza geboren und ist Dokumentarfotograf in Berlin. In seinen Arbeiten befasst er sich mit Herausforderungen, die Menschen, die auf verschiedenen Kontinenten leben, ausgesetzt sind. Sein Werdegang begann in Kairo und führte über Khartoum, Istanbul und Ankara nach Hannover und Dhaka.

In seiner Bachelorarbeit im Studiengang Visual Journalism and Documentary Photography an der Hochschule Hannover setzte sich Momen Mostafa mit den Stimmen muslimischer Frauen auseinander. Dafür entschied er sich bewusst für die 360°-Videoproduktion, um seinen eigenen Einfluss auf die Darstellung zu minimieren. Zuschauer*innen sollten die Protagonistinnen direkt erleben – so, wie sie über ihre Geschichte, ihre Herausforderungen, den Islam und Feminismus sprechen. Das Format ermöglicht es dem Publikum, sich ein eigenes Bild zu machen und die Erzählungen aus unmittelbarer Nähe zu erfahren.

Die Arbeit war zugleich bereichernd und fordernd. Momen freute sich, ein neues Format auszuprobieren und seine Ansätze in der Praxis bestätigt zu sehen. Gleichzeitig musste er vieles allein bewältigen und hatte nur wenig Zeit für technische Vorbereitung – ein Risiko, das in neuen Formaten immer mitschwingt.

Fazit

Die 360-Grad-Videoproduktion ist mehr als ein technischer Effekt – sie ist ein eigenes Erzählformat. Sie funktioniert, wenn Kameraposition und Ton Orientierung geben, der Schnitt Zeit lässt und die Story den Aufenthalt im Raum rechtfertigt. Beispiele von der New York Times bis NowHere Media, von der BBC bis zu Studierenden der Hochschule Hannover zeigen: VR kann Nähe schaffen, komplexe Themen greifbar machen und journalistische Recherchen intensivieren.

Noch bremsen Kosten und Technik die Verbreitung. Doch wer sich darauf einlässt, entdeckt ein Medium, das Zuschauer*innen mitten ins Geschehen stellt. 360°-Videos eröffnen Räume, die klassische Bilder nicht erreichen – und genau darin liegt ihre Faszination.