Sammeln statt Jagen: Eine neue Geschichte der Menschheit

Was, wenn der Ursprung der Menschheit nicht der Speer, sondern der Beutel war? Ursula K. Le Guin stellt die Geschichte auf den Kopf und macht aus dem Beutel ein Symbol für Menschlichkeit.
Von Antonia Bretschkow (Text) und Simon Deppe (Bild)

Was wäre, wenn die Geschichte der Menschheit die eines Beutels wäre? Wenn wir sie nicht entlang von Dolchen, Messern und Schwertern erzählen würden, vielleicht wäre sie dann nicht die des heldenhaften Jägers, sondern die der Sammlerin. Vielleicht ginge es dann um Rundungen statt um Spitzen – um Behältnisse mit der Funktion, zu bewahren statt zu zerstören.

Am Anfang war der Beutel

Das zumindest vermutet die Autorin Ursula K. Le Guin in ihrem Essay «Die Tragetaschentheorie des Erzählens». Damit bezieht sie sich auf die feministische Autorin Elizabeth Fisher, die in ihrem Buch «Woman’s Creation. Sexual Evolution and the Shaping of Society» von 1975 davon ausgeht, dass eines der ersten menschlichen Werkzeuge das Behältnis war. Am Anfang war der Beutel. Menschen schufen künstliche Räume, die sich befüllen ließen: Körbe, Netze, Tragetücher. Diese sollten helfen, mehr zu tragen als das, was in zwei Hände passt. Nämlich alles, wovon sich Menschen in paläolithischer, neolithischer und vorgeschichtlicher Zeit ernährten: Samen, Wurzeln, Sprossen, Triebe, Blätter, Nüsse. Warum aber ist unsere Geschichtserzählung dann so spitz und brutal? Warum ist sie nicht rund?


Warum aber ist unsere Geschichtserzählung dann so spitz und brutal? Warum ist sie nicht rund?

Schon in der Schule büffeln wir Zahlen und Fakten über Krieg und Gewalt. Absolutismus, Französische Revolution, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Mauerbau, Kalter Krieg, Vietnamkrieg, 9/11. Nicht, dass das nicht wichtig wäre und sicherlich täte es uns gut, auch vor der Kolonialzeit nicht länger die Augen zu verschließen. Doch ist das wirklich alles? Meine Geschichtslehrerin hätte ruhig mal was über die Erziehungsmethoden im Mittelalter erzählen können, über den Musikgeschmack der Leute, über ihre Ängste und Sorgen, darüber, was sie aßen. Dann hätte ich im Unterricht bestimmt auch besser aufgepasst.

Ein stark angeblitzter Zweig einer Weide hängt von oben mittig in das hinein. Der Hintergrund ist sehr dunkel und zeigt einen See, die Schatten von ein paar Bäumen und einen abendlichen Himmel mit rötlichen Wolken. Sammeln statt jagen.

Das erste menschliche Werkzeug war nicht das Messer sondern das Behältnis.

Eine stark angeblitzte Pflanze ragt von unten mittig in das Bild hinein. Der Hintergrund ist sehr dunkel und zeigt einen See, die Schatten von ein paar Bäumen und einen abendlichen Himmel mit rötlichen Wolken. Sammeln statt jagen.

In Körben, Netzen und Tragetüchern sammelten Menschen Pflanzen, um sich zu ernähren.

Über die Fotografien in diesem Beitrag

Seine Arbeit an dem Projekt «Carrier Bag», mit dem er sich auf den Essay «Die Tragetaschentheorie des Erzählens» von Ursula K. Le Guin bezieht, beschreibt Simon Deppe wie folgt: «Als Fotograf kann ich mich entscheiden, welcher Praxis ich folgen möchte: jagen oder sammeln. Mit dieser Idee im Gepäck schlage ich mich nächtelang durch das Unterholz der hannoverschen Wälder. Ich bringe Licht an Orte, an denen normalerweise kein Licht ist. Das Licht ist das Werkzeug: die Tragetasche, die Bedeutungsträger sammelt. Ich mache eine fotografische und gleichzeitig grundlegend menschliche Erfahrung: sammeln, aneignen und erzählen.

Innerhalb von drei Wochen komme ich dem Konzept der Tragetasche näher. Die immer neue Suche nach dem nächsten Objekt hat etwas Befriedigendes. Ich begegne der Praktik, die erzählt, wo wir herkommen. Und ich erfahre etwas von dem Bedürfnis, zu sammeln und zu sortieren. Nacht für Nacht füllt sich meine Tragetasche wie von selbst. Irgendwann breite ich alle Fotos vor mir aus, sortiere sie, lasse sie miteinander sprechen und frage mich: ist diese Serie mehr als eine Sammlung überbelichteter Pflanzen?»

Von Säbelzahntiger, Mammut und Haferkorn

Von Angriff und Verteidigung erzählen mir auch gern meine Ärzte, wenn sie mir mal wieder raten, meinen Stress zu reduzieren. Dann kommen sie mir gern mit wilden Tieren und spitzen Zähnen: wer im Alltag nicht zur Ruhe kommt, versetze seinen Körper in einen dauerhaften Alarmzustand. Dieser hätte dem Menschen früher geholfen, wenn er vor einem Säbelzahntiger fliehen musste – ständig im Fluchtmodus zu sein, ist aber leider nicht gesund. Das mag ja sein. Aber ernsthaft, der Säbelzahntiger? Glaubt man Ursula K. Le Guin trafen sich Mensch und Säbelzahntiger gar nicht mal so oft. Denn das Hauptnahrungsmittel des Menschen waren Pflanzen. Auf die Jagd ging er selten und wenn, dann mehr aus Abenteuerlust.

Vielleicht haben wir alle zu viel Ice Age geguckt, oder warum, erzählen wir trotzdem von Säbelzahntiger und Mammut? Ursula K. Le Guin schreibt dazu: «Es ist schwer, eine wirklich packende Geschichte davon zu erzählen, wie ich erst einer wilden Haferspelze ein Haferkorn abgerungen habe und dann noch einer und dann noch einer und dann noch einer und dann noch einer, und dann habe ich mich an meinen Mückenstichen gekratzt, und Ool hat einen Witz gemacht, und dann sind wir zum Fluss gegangen und haben Wasser getrunken und eine Weile den Molchen zugeschaut, und dann habe ich eine neue Haferstelle entdeckt…». Gääähn.


Es ist schwer, eine wirklich packende Geschichte davon zu erzählen, wie ich erst einer wilden Haferspelze ein Haferkorn abgerungen habe und dann noch einer und dann noch einer

Ursula K. Le Guin

Klar, ist es packender, wenn Ool von seinem waghalsigen Kampf mit dem Mammut erzählt, davon, wie er seinen «Speer tief in die riesenhafte Flanke gestoßen», fast von einem Stoßzahn durchbohrt worden wäre und sich im Blut des Tieres wälzte, um es schließlich zu besiegen. «Der alte Mann und das Meer», ein Klassiker der Literatur, funktioniert als Geschichte schließlich auch nur, weil Hemingway seinen Helden in den Kampf mit einem riesigen Fisch schickt. Wer würde sich schon über einhundert Seiten Tagesablauf eines durchschnittlichen Fischers geben?

Oben mittig ragt eine stark angeblitzte Hand in das Bild: ein Zeigefinger deutet nach unten. Von dem Zeigefinger fallen vom Blitz erleuchtete Wassertropfen. Der Hintergrund ist schwarz bis auf den unteren Bildrand, der eine Wasseroberfläche und darunter liegendes Laub zeigt. Sammeln statt jagen.

Es ist einfacher, vom Jagen statt vom Sammeln zu erzählen.

Eine stark angeblitze Hand, die am oberen Bildrand zu sehen ist, hält einen stark angeblitzten runden Gegenstand, der aussieht, wie ein Aluminiumteller. Von dem Teller fallen leuchtende Wassertropfen auf eine Wasseroberfläche. Der Hintergrund ist dunkel, man erkennt ein paar Gräser und weiter entfernt dunkle Schatten von Bäumen, sowie die Wasseroberfläche am unteren Bildrand. Sammeln statt jagen.

Doch wie würde eine menschliche Geschichtserzählung aussehen, die rund wäre und nicht spitz?

Die Tragetaschentheorie des Erzählens

Trotzdem war Ursula K. Le Guin, die 2018 verstarb, eine Anhängerin der «Tragetaschentheorie des Erzählens», einem zyklischen, runden Narrativ, das nicht den Konflikt zentriert. In ihrem Werk, das vor allem Science-Fiction-Literatur umfasst, versuchte sie sich bewusst von der männlichen Heldenreise als Erzähltechnik zu emanzipieren – und entdeckte erst dadurch ihre eigene Menschlichkeit.

«Wenn eine dadurch zum Menschen wird, dass sie eine Waffe baut, um damit zu töten, dann war ich entweder ein nachweislich völlig mangelhaftes Menschenwesen oder aber überhaupt kein Mensch», schreibt sie in ihrem Essay. Also begab sie sich auf die Suche nach Beweisen für ihre Menschlichkeit und entdeckte die Rundung: «Wenn es eine typisch menschliche Verhaltensweise ist, etwas […] in eine Tasche oder einen Korb oder ein Stück gebogene Borke […] zu geben, […] – wenn es das ist, was uns menschlich macht, dann bin ich wohl doch ein Mensch».


Also begab sie sich auf die Suche nach Beweisen für ihre Menschlichkeit und entdeckte die Rundung.

Wenn es das Sammeln ist, was Frauen – und letztlich alle Geschlechter – zu Menschen macht, warum sollte man dann nicht davon erzählen? Der Beutel ist ein Hinweis auf ein alternatives Leben, das nicht der Reise des heldenhaften Jägers gleichen muss, sondern dem zyklischen Prozess einer Sammlerin ähneln darf: sie liest auf, sie transportiert und sie bewahrt.

«Die Tragetaschentheorie des Erzählens» ist mehr als der Entwurf eines neuen Literatur-Genres. Ursula K. Le Guins Essay ist ein Plädoyer für ein Schreiben, Denken und Handeln jenseits von Wachstums- und Fortschrittsutopien. Es ist die Skizze eines schöpferischen Lebens, ohne den Drang, etwas oder jemanden zu beherrschen.

Das Bild zeigt einen durch einen Blitz vollkommen überbelichteten Menschen, bzw. seine Silhouette, der zwischen ebenfalls überblitzten Gräsern steht. Im Vordergrund ist ein Grashalm zu sehen, der sich von der linken unteren Ecke nach oben rechts über den Menschen biegt. Über dem Menschen fliegen weiße, ebenfalls angeblitzte Kugeln, wahrscheinlich Beeren, die nach oben geworfen wurden. Der Hintergrund am oberen Bildrand ist schwarz. Sammeln statt jagen.

«Die Tragetaschentheorie des Erzählens» von Ursula K. Le Guin ist der feministische Entwurf eines schöpferischen Lebens ohne Herrschaft.


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