Leben unter Kameras
Millionen schalten ein, wenn Fremde lieben, streiten, scheitern. Doch wie echt ist Reality-TV – und was macht es mit uns?
Von Isabel Reda (Fotos, Interviews) und Fabian Niebauer (Text)

Eine Gruppe junger Erwachsener in der WG-Küche. Es ist Donnerstagabend, draußen ein milder Frühsommertag. Drinnen werden Salzstangen in Gläsern drapiert, die kalten Flaschen aus dem Kühlschrank zusammen mit Eiswürfeln zu Getränken gemixt. Es knistert beim Einschenken. Reges Treiben zwischen Küche und Wohnzimmer. Der Fernseher läuft bereits, allerdings ohne Ton. Das Gesprächswirrwarr ist Kulisse genug. Die Werbung interessiert niemanden. Das eigentliche Spektakel beginnt erst in wenigen Minuten.
Bis dahin: Smalltalk. Neues aus dem Studium, Prüfungen, der neue Nebenjob, der jüngste Fauxpas des Professors. Die Werbung nimmt noch einmal Fahrt auf, die Größen der Konsumwelt wollen zeigen, für was sie ihr PR-Budget aufgewendet haben. Heidi Klum wirbt für die nächste Staffel Germany’s Next Topmodel und dann geht es endlich los.

Eine Gruppe von Freund*innen schaut das Finale der Dating-Show «Die Bachelorette». Für viele junge Menschen ist das gemeinsame Schauen von Reality-TV ein soziales Event.
Der Boom von Reality-TV
«Temptation Island», «Ex on the Beach», «Princess Charming», «Bauer sucht Frau», «Der Bachelor». Montags am Strand in der Karibik, donnerstags auf einem Bauernhof im Oberallgäu. So oder so ähnlich läuft es wohl in vielen Großstadt-WGs ab, wenn sich zum kollektiven Trash-TV-Abend getroffen wird. Die Formate reichen von den altbekannten Dating-, Casting- und Gameshows bis hin zu sozialen Experimenten, die öffentlich zur Schau gestellt werden. Sender werben mit Sprüchen wie «Die Heimat der besten Reality-Shows». Sie bieten zu den Sendungen Playlists, Podcasts und Magazine an. Ein ganzes Universum an Inhalten, in denen man sich «mit Hintergründen» und «Klatsch und Tratsch» versorgen kann. Ein unerschöpflicher Pool an Intrigen, Spielen und Dramen.
Lange galt Reality-TV als «Guilty Pleasure», etwas, das man zwar heimlich macht, aber nicht offen zugeben möchte. Doch mittlerweile hat sich der gemeinschaftliche «Trash-TV-Abend» bei jungen Menschen als ein geselliges Event etabliert. Man trifft sich zum kollektiven Glotzen und kann sich in Echtzeit über das Gesehene austauschen. Ein gemeinsames Erleben und eine willkommene Ablenkung von der eigenen Realität.
Gegenseitiger Halt durch Unterhaltung? Eine verständliche Reaktion im Hinblick auf die aktuelle Weltlage. Den Alltag entfliehen, den Drang nach leichter Unterhaltung befriedigen. Fürsprecher*innen sehen darin die Chance, das Gesehene mit dem eigenen Leben abzugleichen, die eigenen Werte zu erkennen und zu reflektieren. Gleichzeitig gibt es Kritik an den Formaten. Einige davon sind Grenzüberschreitungen, Knebelverträge, ungehemmter Alkoholkonsum, Demütigungen, toxisches Verhalten, Manipulation, ausbeuterische Verhältnisse durch mangelnde Bezahlung, wenig Schlaf und fehlende Privatsphäre.

Franzi schaut mittlerweile fast nur noch kommentierte Versionen. Dabei werden die originalen Shows von bekannten YouTuber*innen ausschnittweise gezeigt und dann kommentiert. Sie kann sich beim Schauen von Reality-TV gut entspannen. Gleichzeitig setzt sie sich kritisch mit den Inhalten auseinander.
Die Zuschauerin
Franzi hat interkulturelle Psychologie im Master studiert und schaut gerne Reality-TV. Während der Corona-Pandemie beginnt sie intensiv damit in einer WG mit sieben Menschen. Das gemeinsame Schauen ist damals ein soziales Event. Heute schaut Franzi meist alleine, oft nebenbei auf dem Handy. Mittlerweile bevorzugt sie die kommentierten Versionen, bei denen YouTuber*innen die interessantesten Szenen einordnen. «Das kann gefährlich sein, denn man sieht nur einen Bruchteil des Geschehens, um eine Person einschätzen zu können. Trotzdem bekommst du das Gefühl, dass du die Leute kennst.»
Franzi beobachtet, dass Redaktionen Kandidat*innen oft gewisse Rollen zuweisen und sie entsprechend schneiden. Manche sind toxisch, trotzdem werden diese Personen gerade deshalb immer wieder gebucht. Dass Personen aufgrund ihres Verhaltens von Sendern nicht mehr gebucht werden, passiert zu inkonsequent. «Die Sender reagieren nur bei starkem Druck von außen. Ansonsten setzen sie auf polarisierende Leute für mehr Klicks und Zuschauer*innen. Das schaukelt sich hoch, die Kandidat*innen merken: Ah das ist meine Rolle und deswegen werde ich gebucht.»
Die Leute haben so rumgeschrien, da hört für mich der Spaß auf.
Reality-TV sei beliebt, weil Menschen gerne über andere reden. Franzi erklärt, dass «Lästern einen sehr schlechten Ruf hat, aber ein natürlicher Drang ist. So schätzen wir ein, welche Mitglieder einer Gesellschaft gut und welche schlecht für uns sind.» Auch die Kandidat:innen wollen Aufmerksamkeit. Wichtig sei aber, wie über die Leute gesprochen werde: Bei Hass und Hetze zieht Franzi eine Grenze. Ein weiterer Grund für sie, warum Menschen gerne Reality-TV schauen, ist eine Art Sensationsgeilheit. Doch bei dem Format «Das Sommerhaus der Stars» überlegte Franzi abzuschalten. «Die Leute haben so rumgeschrien, da hört für mich der Spaß auf. Das ist für mich dann auch nicht mehr unterhaltsam.»
Franzi findet es kritisch, wenn beispielsweise in Podcasts psychologische Vermutungen über die Kandidat:innen angestellt werden. «Das sind reale Menschen. Wenn man ihnen Narzissmus oder eine Persönlichkeitsstörung zuschreibt, ist das übergriffig.»

Porträt von Luisa Hannke. Sie ist Journalistin und arbeitet bei RTL in der Podcastproduktion. 2019 war sie als Redakteurin am Set der Show «Love Island» dabei.
Die Macherin
Luisa Hannke ist Journalistin bei RTL. 2019 war sie als Redakteurin am Set der Show «Love Island» dabei. Sie liebt Reality-TV. Früher verschwieg sie das, heute spricht sie offen darüber. Ihr Lieblingsformat ist «Das Sommerhaus der Stars». Wenn es dort allerdings zu heiß her geht, schaltet sie ab: «Man bekommt das Gefühl, dass Sender Streit provozieren. Je doller, desto besser im Reality-TV.»
Je doller, desto besser im Reality-TV.
Luisa war am Set und bei den täglichen Redaktionssitzungen bei der Dating-Show Love Island dabei. Sie kann ganz klar sagen, dass nichts geskriptet ist. Die Redaktion sagt den Teilnehmenden auch nicht, welche Rolle sie zu spielen haben.
Dennoch griff die Redaktion ein. Bei «Love Island» gab es beispielsweise eine Person, die viel Sendezeit hatte. Ein Störfaktor, da dadurch keine anderen Storylines zustande kamen. Somit wurde sie auf ein Fake-Date geschickt. Es gibt allerdings auch Situationen, in denen es seitens der Produktion unverantwortlich wäre, nicht einzugreifen. So entwickelte sich bei «Love Island» ein männlicher Kandidat toxisch. Die Redaktion hat das Geschehen einige Tage beobachtet und dann entschieden, den Teilnehmer aus der Villa zu nehmen. Doch dem Publikum erklärte man das kaum, kritisiert Luisa.
Laut Luisa ist es real, wie sich Kandidat*innen verhalten und wie sie reagieren. Trotzdem gibt es Rahmenbedingungen, die einen Einfluss auf die Dynamiken in den Sendungen haben. Ein wichtiger Aspekt ist beispielsweise Alkohol. «Es gibt Formate mit begrenztem Alkohol, damit sich die Leute nicht abschießen können. Bei diesen kommen mehr Gespräche zustande und es ist irgendwie auch ernster. Bei Formaten, wo unbegrenzt Alkohol zur Verfügung steht, wird es dann entsprechend auch wilder und dramatischer.»
Der Schnitt kann provozieren und dramatisieren, aber er kann dir nicht Wörter in den Mund legen.
Der Schnitt hat auch einen großen Einfluss auf die Dynamik der Sendung. Er ist extrem mächtig: «Der Schnitt kann provozieren und dramatisieren, aber er kann dir nicht Wörter in den Mund legen.» Beispielsweise wird im Schnitt mitunter eine Reaktion gezeigt, die nicht die tatsächliche ursprüngliche war.
Luisa sieht kritisch, wenn Kandidat*innen zu sehen sind, die offensichtliche Probleme haben und nicht wissen, was sie tun. «Wenn Leute nicht gesund sind, haben sie im Reality-TV nichts zu suchen. Ich finde es wichtig, dass mehr auf die Gesundheit der Menschen geachtet wird, als auf die Quote.»
Vor Ort gibt es Psycholog*innen, die die Produktion beraten. Sie nehmen an den Redaktionssitzungen teil und haben die Aufgabe zu schauen, ob es den Kandidat*innen gut geht und die Sendung nicht «zu doll» wird. Jedoch räumt Luisa ein, dass Psycholog:innen aufgrund der Abhängigkeit von den Sendern wahrscheinlich nicht immer ganz objektiv sind. Luisa berichtet, dass es schon Fälle gab, in denen die Sender zu spät gehandelt haben und sich dies rufschädigend ausgewirkt hat.
Für Luisa ist ein Mehrwert von Reality-TV, dass es ein Spiegel der Gesellschaft sein kann. Sie findet, dass die Sendungen dazu führen, dass sich Menschen über bestimmte Verhaltensweisen von anderen austauschen und sie gegebenenfalls reflektieren. Außerdem findet sie positiv, dass queere Formate zu mehr Sichtbarkeit und Offenheit für nicht heteronormative Lebensentwürfe führen.

Hang hat 2024 an der lesbischen Datingshow «Princess Charming» teilgenommen. Ihre Motivation war es, ihre Geschichte zu erzählen und andere Menschen zu empowern.
Die Teilnehmerin
Hang nahm 2024 an der 4. Staffel der lesbischen Reality-Show «Princess Charming» teil. Sie wollte zeigen, dass man sich trotz christlicher Familie und Migrationshintergrund outen sollte. «Ich wollte Leuten Mut machen, sich nicht zu verstecken», sagt sie. Ihr Ziel: authentisch sein. Sie war überrascht, dass nichts geskriptet war. Gleichzeitig mussten manche Szenen jedoch mehrfach gedreht werden, was sich nicht echt anfühlte.
Ich habe drei Kilo abgenommen, weil das so ein psychischer Stress war.
Hang beschreibt ihre Erfahrung in der Princess-Charming Villa als eine interessante und aufregende Zeit. Niemand durfte die komplett mit Kameras ausgestattete Villa verlassen. «Es ist quasi wie im Gefängnis», sagt sie. Trotzdem hat sie sich die meiste Zeit sehr wohlgefühlt. Anfangs achtete Hang stark auf ihre Worte, doch nach wenigen Stunden vergaß sie die Kameras.
Für Hang und andere Teilnehmer*innen war es jedoch herausfordernd, dass es aufgrund der flächendeckenden Kameras keinen Rückzugsort gab. Auch das Mikrofon musste immer getragen werden – selbst auf der Toilette. Ohne Ablenkung von außen wirkte die Zeit extrem intensiv. «Ein Tag fühlt sich an wie eine Woche», erzählt sie. Zudem wissen die Teilnehmenden nicht, wie spät es ist. Häufig wurden sie nach wenigen Stunden Schlaf von der Produktion mit Musik geweckt.
Hang kritisiert, dass die Produktion vor Drehbeginn alle Teilnehmenden isolierte, allein im Hotel, ohne Handy oder Kontakt. «Ich glaube, es wird gemacht, um crazy zu werden.» Sie glaubt, dass viele Menschen die Teilnahme unterschätzen und nicht wissen, wie viel Arbeit dahinter steckt. Die psychische Belastung dürfe nicht verharmlost werden. «Ich habe drei Kilo abgenommen, weil das so ein psychischer Stress war.» Geduld und ein dickes Fell seien nötig – auch nach der Show, wenn Hate-Kommentare kommen. Hang selbst kam gut weg und ist froh, mitgemacht zu haben. Über Social Media unterstützt sie nun andere. Für die Zukunft wünscht sie sich mehr Formate, die Queerness zeigen.
Authentizität versus Inszenierung
Bei den meisten Reality-Formaten sind überall Kameras, teils auch in den Badezimmern. Täglich entstehen mehrere Terabyte an Daten. Warum nehmen Menschen an solchen Sendungen teil? Für viele ist es ein Sprungbrett für eine Influencer-Karriere oder um als sogenannte C-Promis bekannt zu werden. Anderen ist nicht klar, worauf sie sich einlassen. Oft werden die Auswirkungen auf das Privatleben und die psychischen Belastungen erst im Nachhinein erkannt.
Die Motivation für Sender von Reality-Formaten ist klar: Die Produktionskosten sind im Vergleich zu großen Film- und Serienproduktionen verschwindend gering. Die Einnahmen durch hohe Zuschauerzahlen sind enorm groß. Die Nachfrage steigt. Schätzungsweise 4,5 Millionen Menschen sahen die erste Staffel von «Too Hot To Handle Germany».
Für viele bedeutet Reality-TV, Authentizität zu erleben. Das, was sie zu sehen bekommen, soll das wahre Leben mit echten Menschen sein. Doch wieviel Authentizität ist möglich, wenn überall Kameras und Mikrofone versteckt sind? Der Hawthorne-Effekt beschreibt die Verhaltensänderung von Menschen, die wissen, dass sie beobachtet werden. Dies führt zu einer Verfälschung der Realität und dem Verlust von Authentizität.

Süßigkeiten-Uhr im Studio. In Reality-Shows haben die Kandidat*innen weder Handys noch Uhren. Ohne Orientierung an der Zeit verlieren viele das Zeitgefühl – und erleben die Wochen während der Dreharbeiten umso intensiver.

Die Teilnehmenden in Reality-Shows haben immer ein eigenes Mikrofon, das sie rund um die Uhr am Körper tragen müssen. Teilweise dürfen sie es noch nicht mal ablegen, wenn sie auf die Toilette gehen. Die Massen an zeitgleich gesprochenen Worten werden von einer KI ausgewertet.
Die Teilnehmenden in Reality-Shows müssen immer ein eigenes Mikrofon rund um die Uhr am Körper tragen. Teilweise dürfen sie es nicht ablegen, selbst nicht auf der Toilette. Eine KI wertet die Massen an zeitgleich gesprochenen Worten aus.
Konflikte in Reality-Shows führen bei den Zuschauenden zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Sie erleben, was ihr Star erlebt, fühlen sich ihm oder ihr ganz nah. In den sozialen Netzwerken wird in Echtzeit über das Geschehen ausgetauscht. Dem eigenen Favoriten wird gefolgt. Durch die nahbare Aufmachung beginnen Zuschauer:innen, sich mit den Kandidat*innen zu identifizieren. Nicht selten entstehen parasoziale Beziehungen zwischen ihnen und Teilnehmer*innen. Fans fühlen sich ihren Stars nah und glauben, sie gut zu kennen, weil sie an ihrem Alltag teilhaben.
Reality-TV und Realität
Der Begriff «Reality TV» ist mittlerweile ein Sammelbegriff für eine ganze Familie an Genres und Subgenres. Die Unterscheidung zwischen real und fiktional verschwimmt. Klare Trennungen sind nur schwer möglich. Die Sender spielen zum Teil damit, lassen offen, was Realität, was Fiktion ist. Es benötigt nicht einmal mehr ein Skript. Bei einigen Shows wird die gewünschte Dynamik schon während des Auswahlprozesses beeinflusst. So werden Charaktere eingeladen, deren Kombination später zu Konflikten in den Sendungen führen wird. Konflikte schaffen Drama, und Drama zieht schon seit der Antike das Publikum in seinen Bann. Diese einfache Rechnung gehen die Redaktionen ein.