Kirchenaustritt: Nichts mehr zu glauben

Einst bestimmte die Kirche alles in ihrem Leben. Vor zwei Jahren ist Noemi Ehrat (Text und Fotos) ausgetreten. Heute sieht sie die alten Machtstrukturen in einem neuen Licht.

Einen großen Teil meines Lebens habe ich in Kirchen verbracht. An Sonntagen (und anderen Tagen) saß ich stundenlang auf Holzbänken und Plastikstühlen in Freikirchen, Landeskirchen, Dorfkirchen. In einer evangelisch-reformierten Familie aufwachsend, gehörte der Gottesdienst zum Alltag wie das Zähneputzen. Oft hatten diese Kirchen nicht viel gemeinsam, vertraten unterschiedliche Theologien. 

Und doch teilten sie dasselbe Fundament: den Glauben an einen Gott und seinen Sohn und daran, dass Frauen «andere Aufgaben» hätten als Männer. Dass außerehelicher Sex eine Sünde sei – ebenso wie Masturbation und Pornografie (obwohl das Frauen angeblich nicht betraf) und Homosexualität sowieso, die müsse therapiert werden. Dass man die andere Wange hinhalten und den Eltern gehorchen soll. Und «sündhaft» bedeutete nicht etwa «nicht so cool», sondern dass man sich damit zur Anwärter*in auf die Hölle und das ewige Fegefeuer machte. Auch verlangten die Kirchen alle entweder den Zehnten, also die Abgabe von zehn Prozent des eigenen Lohns, oder sonstige Spenden.

Für mich war das normal. Ich kannte als Kind und Jugendliche nichts anderes. Erst viel später, auch kürzlich im Gespräch mit meinem Bruder, vielen mir weitere Gemeinsamkeiten dieser Gotteshäuser auf: das Nicht-Atmen-Können, sich eingeengt fühlen, die Panikattacken, die unterdrückte Wut, die Scham, die Schuldgefühle, der modrige Geruch, das Unbehagen. Und das damit einhergehende Sich-infrage-Stellen, denn wenn diese Lehre und Lebensweise so richtig ist, wie kann man sich darin so schlecht fühlen? Diesem beklemmenden Gefühl bin ich lange ausgewichen, doch wenn ich heute ein Kirchgebäude betrete, oder per Zufall einer Person aus einer dieser Gemeinden begegne, ist es wieder da.


Lange hörte ich heimlich – und mit schlechtem Gewissen – Bands wie Linkin Park oder las Bücher wie ‹Dracula›, weil diese für viele als ‹teuflisch› galten.

Kirche St. Jakob, Zürich
Bethlehemkirche, Hannover


Bethlehemkirche, Hannover
St. Benno, Hannover
St. Jakob, Zürich
Fraumünster, Zürich

Dann erinnere ich mich daran, wie mir gesagt wurde, ich sei «zu kritisch». «Vielleicht ist hier nicht der richtige Ort für dich», hieß es. Meine Kritik, die ich äußerte, rüttelte dabei kaum am vorherrschenden System. Und doch schien es zu viel zu sein. Beispielsweise wurde in einem Camp für Jugendliche der Gemeinde nach der Predigt dazu aufgerufen, spezifisch für die Männer zu beten. Frauen hätten andere, sprich, weniger verantwortungsvolle, Aufgaben. «Das heißt natürlich nicht, dass diese weniger wichtig sind». Zu dem Zeitpunkt war ich bereits mit feministischer Literatur in Kontakt gekommen, wodurch diese Aussage meinem aufkeimenden Verständnis von Gleichberechtigung widersprach. Niemand anders schien sich daran zu stören und meine Reaktion wurde auf meine damals angespannte Beziehung zu meinem Vater zurückgeführt. 

Mir wurde also immer das Gefühl gegeben, «falsch» zu leben und zu denken. Lange hörte ich heimlich – und mit schlechtem Gewissen – Bands wie Linkin Park oder las Bücher wie «Dracula», weil diese für viele als «teuflisch» galten. Verbote verstärken bekanntlich oft den Reiz einer Sache und ich bin heute froh, dass ich damals in meinem Jugendzimmer diesen «irdischen», sprich, verwerflichen, Impulsen nachgegeben hatte. Paradoxerweise sah ich mich damals noch als Teil der Gemeinde, wollte dazugehören und vertrat den Glauben mit Überzeugung. Dass mir meine Zugehörigkeit abgesprochen wurde, erwies sich rückblickend als Segen: Dass ich anscheinend für einige nicht als Teil der christlichen Gemeinschaft angesehen wurde, half mir, mich irgendwann auch als eigenständige Persönlichkeit, die getrennt von der Glaubensgemeinschaft existiert, wahrzunehmen. 

Die christliche Symbolik mit ihren Äpfeln und Schlangen und Kreuzen verfolgte mich bis ins Literaturstudium: zwar sind biblische Symbole wie die Erzengel Gabriel und Michael, die in James Joyces «The Dead» metaphorisch respektive wortwörtlich tot sind, eben nur das: Symbole. Doch in dem Glauben, mit dem ich aufwuchs, legte man sein Leben wortwörtlich nach solchen Metaphern aus – der Teufel und seine Dämonen waren für mich real und es wurde zwischen «uns» und «der Welt» unterschieden. Das christliche Denken scheint mir trotz steter Beteuerung der Nächstenliebe mehr schwarz-weiß als differenziert schattiert zu sein. So absurd dies heute klingen mag, hat mich die ständige Interpretation alles Symbolischen auch dafür sensibilisiert, wie intrinsisch die christliche Symbolik mit der westlichen Gesellschaft und Kultur verbunden ist. 


Die christliche Symbolik mit ihren Äpfeln und Schlangen und Kreuzen verfolgte mich bis ins Literaturstudium.

Bethlehemkirche, Hannover
Kirche St. Anton, Zürich
Bethlehemkirche, Hannover
Kirche St. Peter und Paul, Zürich

Natürlich wäre nun die Versuchung groß, meine Erfahrungen als extremen Einzelfall abzutun, was sie vielleicht auch sind. Und doch veranschaulichen sie, wie die Kirche bis heute immer noch die Leben vieler Menschen bestimmt und kontrolliert. So lässt sich in der Bibel lesen, die Frau sei dem Mann untertan, Frauen hätten in der Gemeinde zu schweigen, die Hurerei und die Unzucht solle man meiden. Dies macht es überhaupt erst möglich, dass junge Menschen heute aufwachsen, als ob die sexuelle Revolution der 60er- und 70er-Jahre nie stattgefunden hätte und die mit einer Weltanschauung vertraut sind, die viel mehr den Rollenbildern der 50er-Jahre gleicht.

Dazu kommt die zumindest so wahrgenommene Allmacht der Kirche, die über das Gebäude hinausgeht. Die genaue Vorstellung von Gut und Böse, die zulässt, dass man sich selbst in erster Linie als fehlerhaft und Sündner*in wahrnimmt. Dass alles Gute von Gott kommt und alles Schlechte vom Menschen. Dass man in ständiger Furcht lebt von Fehlentscheidungen und Verführungen und den entsprechenden Konsequenzen auf Erden wie auch eines Tages vor dem letzten Gericht.


Dass mir meine Zugehörigkeit abgesprochen wurde, erwies sich rückblickend als Segen.

St. Benno, Hannover
St. Josef, Zürich
St. Benno, Hannover
St. Jakob, Zürich

Und selbst nichtreligiöse Menschen können sich der Kirche nicht komplett entziehen: Abgesehen von den christlichen Feiertagen und der christlichen Jahreszählung ist immer noch mancherorts der Kirchturm der höchste Punkt. Betritt man eine Kirche – egal, wo und welcher Konfession zugehörig – werden da gewisse Strukturen und Symbole der Macht vorhanden sein. Sei es der Taufstein, die Kirchenbank, die Kanzel, oder nur ein Mikrofon für die Pfarrer*in.

Dies verdeutlicht, dass die Kirche immer noch staatlich anerkannt und gesellschaftlich akzeptiert ist. Noch immer gehören in der Schweiz 36 Prozent der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an und 24 Prozent der evangelisch-reformierten, in Deutschland sind es sogar 44,6 respektive 34,7 Prozent. Das heißt nicht, dass all diese Menschen an Sodom und Gomorrha glauben oder homophob sind. Doch legitimieren sie durch ihre Mitgliedschaft die fortbestehenden Strukturen, die sich nach wie vor auf ein Buch berufen, das vor hunderten von Jahren entstand.

In einem gewissen Sinne ist die Kirche eben immer noch allgegenwärtig, wenn auch vielleicht nicht mehr allmächtig. Immerhin kann man aus ihr austreten. Das kostet dann aber bitte 30 Euro.


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