Hannovers Nachtengel
Martina hilft obdachlosen Menschen in Hannover – jede Nacht, bei jedem Wetter. Mit Suppe, Tee und offenen Ohren bringt sie Wärme auf die Straße. Für viele Obdachlose ist sie die letzte Hoffnung in der Nacht.
Von Henrike Meyer (Text) und Janek Stempel (Fotos)

Es ist 19 Uhr und die kleine Dachgeschosswohnung ist von dem Duft nach Tomatensuppe und frisch gebrühtem Tee erfüllt. Martina steht an ihrem Zweiplattenherd und würzt die beiden großen Töpfe Suppe mit Schwarzkümmel. «Schwarzkümmel wirkt entzündungslindernd.», erklärt sie. «Deswegen ist er für meine Obdachlosen wichtig, denn sie haben fast alle irgendwelche Entzündungen.» Der Tee steht schon in Thermoskannen bereit. Immer zwei Drittel Minztee und ein Drittel Schwarztee.
Gegen 19.30 Uhr macht Martina sich bereit für die Nacht: Die Suppe kommt in einen riesigen Wärmetopf und der erst einmal aus dem Weg und vor die Wohnungstür. Genauso die Teekannen, Einweggeschirr und -besteck, eine große Tasche mit warmer, gespendeter Kleidung und eine mit Gebäck. Außerdem werden ein Erste-Hilfe-Kasten, Einweg-Handschuhe, Mundschutz, kleine Wasserflaschen und Leckerlies für die vielen Hunde ihrer Obdachlosen eingepackt. Den schweren Suppentopf und all die anderen Dinge trägt Martina nun nach und nach allein aus dem Dachgeschoss nach unten. Hilfe bekommt sie dabei in den meisten Fällen nicht. Auch nicht dann, wenn ihre Nachbar*innen sie bemerken.
Unten angekommen beginnt das Tetrisspielen. Alles, was sie für die Nacht braucht, muss in zwei Handwagen und einen Rucksack passen. Doch für Martina ist das kein Problem. Sie hat Routine und alles seinen festen Platz.
Um 20 Uhr zieht sie dann voll bepackt zu Fuß los. Ihr Weg führt sie von der Lister Meile, vorbei am Weißekreuzplatz und am Pavillon. Ihr Ziel: der Hauptbahnhof. Dort hat sie am meisten zu tun und wird wie jede Nacht bereits erwartet.
Doch was sind ihre Beweggründe? Wie schafft sie es, ihr ganzes Leben der Obdachlosenhilfe zu widmen? Und woher nimmt sie die Kraft, ausnahmslos jede Nacht loszuziehen und so viel Leid zu erleben?

Mittlerweile ist meine Arbeit als Nachtengel zu meinem Vollzeitjob geworden, aber ich gehe trotzdem nachts raus. Nachts ist die Not am größten.

Wie und wann hast du als Nachtengel angefangen?
Das ist schon ziemlich lange her, länger als zwölf Jahre. In der Stadt habe ich eine Gruppe Obdachlose gesehen und eine Frau ist mir besonders aufgefallen, weil es ihr sehr schlecht ging. Mir tat das so leid und ich dachte, du musst jetzt etwas holen. Ich habe ihr kein Geld gegeben, weil ich dachte, dass andere ihr das klauen würden, aber eine Banane, einen Tee oder ein Wasser kann niemand wegnehmen. Ja, das war der Anfang. Mir sind auf einmal immer mehr Obdachlose aufgefallen. Das war wie so ein Schalter im Kopf, der umgelegt wurde. Man sieht einmal hin und dann kann man seine Augen nicht mehr davor verschließen. Immer wenn ich in der Stadt war, hatte ich einen Rucksack mit ganz vielen kleinen Wasserflaschen dabei und hab diese verteilt. Irgendwann haben sie mich gefragt, ob ich auch mal etwas Warmes mitbringen könnte, Suppe zum Beispiel. Ja, und so kam es dazu, dass ich jede Nacht mit frisch gekochter Suppe losgezogen bin…
Obwohl du einen Vollzeitjob hattest?
Ja. Ich habe von 9 Uhr bis 18 Uhr gearbeitet, bin dann schnell zum Supermarkt gerannt, habe eingekauft und zu Hause gekocht. Dann gings raus in die Innenstadt.
Deswegen also nachts…
Mittlerweile ist meine Arbeit als Nachtengel zu meinem Vollzeitjob geworden, aber ich gehe trotzdem nachts raus. Nachts ist die Not am größten. Tagsüber gibt es andere Angebote, wie zum Beispiel das Mecki oder das Stellwerk. Aber nachts? Da möchte doch niemand dort arbeiten.
Und wie finanzierst du das alles? Du musst ja jeden Tag einkaufen gehen.
Anfangs von meinem Gehalt. Ich hatte auch noch einen Minijob. Einige Freunde haben mich auch mit Sachspenden, wie zum Beispiel Bechern für Tee, unterstützt. Außerdem hatte und habe ich auch immer noch eine Tüte dabei, in die jeder Pfandflaschen packen kann. Für viele Menschen auf der Straße ist eine Tasche mit Pfandflaschen ihr Portemonnaie und sie sind stolz, wenn sie mich damit unterstützen können. Mittlerweile bekomme ich zum Glück finanzielle Spenden und Hilfe vom Kinderhilfswerk ICH e.V. Dort gibt es die beiden Sonderbeauftragten Rolf Eisenmenger und Mirela Stanoiu, die das Projekt «Nachtengel» sehr unterstützen.




Wir alle sollten Mitleid haben und dankbar dafür sein, was wir haben.


Nimmt es dich auch manchmal mit, jede Nacht so viel Leid zu erleben?
Natürlich nimmt mich das mit. Aber mehr würde es mich mitnehmen, wenn ich nichts machen würde. Meine Obdachlosen haben mir gesagt, ich bin ihr Dealer. Ihr Harmony-Dealer. Ich kann leider nicht alle retten, aber ich kann ihnen jede Nacht eine Freude machen. Ich versorge auch Wunden oder helfe bei wichtigen Unterlagen und dafür kommt mir auch sehr viel Dankbarkeit entgegen, denn das machen nicht viele. Obdachlose sind nicht niedlich, so wie Kinder oder Tiere. Denen wird nicht viel geholfen. Die meisten Menschen denken, Obdachlose seien selbst Schuld an ihrer Situation. Aber mir ist das egal. Ich sehe, wo Hilfe benötigt wird, und biete sie an. Wir sind doch alle Menschen und haben ein bisschen Fürsorge verdient.
Wie könnte deiner Meinung nach die Situation der Obdachlosen verbessert werden?
Oh, da habe ich viele Ideen. Zum Beispiel wünsche ich mir, dass sie kostenlos mit den Stadtbahnen und Bussen fahren dürfen. Die meisten können sich natürlich kein Ticket kaufen, trotzdem sollen sie aber zum Übernachten in die Unterkunft am Alten Flughafen. Und wie sollen sie da hinkommen, ohne schwarz zu fahren? Oder was ich mir noch gut vorstellen könnte, wäre, dass jedes Hotel beispielsweise fünf Zimmer für Obdachlose freihält. Leider stehen für solche Dinge nicht genug finanzielle Mittel von der Stadt zur Verfügung. Stattdessen wird am Hauptbahnhof ein Fahrradparkhaus für mehrere Millionen Euro gebaut. Fahrräder können allerdings nicht erfrieren…
Wie gehst du damit um, wenn jemand, den du kennst, auf der Straße stirbt?
Das ist wirklich schwer. Ich schreibe dann mit Kreide den Namen auf die Straße und versuche, die Angehörigen zu finden. Viele Obdachlose hier kommen zum Beispiel aus Polen, weil sie hier arbeiten wollten, um Geld nach Hause zu schicken. Leider ist das nicht so leicht, wie viele es denken, und dann landen sie oft auf der Straße und es wird sich nicht um sie gekümmert. Vor zwei Jahren ist etwas für mich sehr Schlimmes passiert. Vor zwei Jahren ist Igor gestorben. Igor hatte eine Lungenentzündung und es ging ihm so schlecht, dass ich den Rettungsdienst gerufen habe. Aber der wollte ihn nicht mitnehmen, weil es angeblich keinen Platz im Krankenhaus gab. Sie sagten, ich solle ihm Hustenbonbons kaufen. Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit gegangen bin, haben mir zwei andere gesagt, dass jemand gestorben ist. Es war Igor. Bis heute mache ich mir Vorwürfe deswegen. Ich hätte schreien sollen wie eine Irre, damit sie ihn in ein Krankenhaus bringen.
Was wünschst du dir von der einzelnen Person? Was können wir machen?
Wir alle können bei uns zu Hause anfangen. Helft euren Eltern oder wenn ihr wisst, dass im Haus eine alleinstehende Dame oder ein einsamer Opa wohnt, fragt diese, ob sie Hilfe brauchen. Haltet anderen die Tür auf und schaut genau hin, ob jemand Hilfe benötigt. Mit solchen Kleinigkeiten kann man die Welt immer ein kleines bisschen besser machen. Und habt Mitleid. Viele sagen, das sei ein schlechtes Wort, aber das finde ich nicht. Wir alle sollten Mitleid haben und dankbar dafür sein, was wir haben. Denn für das, was wir haben, selbst wenn es nur ein kleines Zimmer oder ein Bett ist, beten andere jeden Tag.


Wie kannst du Obdachlosen helfen?
Tipps für den Umgang mit Obdachlosen
1. Hinsehen und helfen, wenn jemand in Not ist
2. Direkt ansprechen und zuhören, dabei immer höflich und respektvoll bleiben
3. Fragen, was gebraucht wird, anstatt einfach etwas zu kaufen
4. Obdachlosenhilfe finanziell unterstützen
5. Nicht über Drogen- oder Alkoholkonsum urteilen und von Belehrungen absehen
Spendekonto Projekt Nachtengel
IBAN: DE70 2555 1480 0313 2797 39
Stichwort: Nachtengel
Für eine Spendenquittung bitte die Anschrift in den Verwendungszweck schreiben. Spenden kommen vollständig Martinas Arbeit als Nachtengel und damit den Obdachlosen in Hannover zugute.