Was Schubladen über uns verraten

Schubladen bewahren Persönliches und erzählen vom Leben ihrer Besitzer*innen. Grund genug, einmal genauer hinzuschauen. Eine charmant-unernste Analyse, inspiriert von Betty Einhaus (Fotos) & Finn Andorra (Text).

Schubladen fristen ein Schattendasein – im wahrsten Sinne des Wortes: Meist stecken sie in Tischen oder Schränken, darin herrscht Dunkelheit, ihren Inhalt bekommt die Außenwelt fast nie zu sehen. Schubladen sind praktische Alltagshelfer: Was nicht herumliegen soll, wird hineingeprummelt – Socken, Stifte, alte Fotos, Reißzwecken, Besteck, Maulschlüssel.  

Nur selten herrscht Struktur wie in einem Besteckkasten oder einem Werkzeugschrank mit seinen Schubfächern. Meist artet das Schubladenstillleben in mehr oder weniger systematisches Chaos aus: Schubladennutzer*innen wissen vielleicht noch, in welchem Fach das Nähgarn oder die Briefumschläge verschwunden sind – doch wo genau diese Gegenstände dann liegen, davon haben die wenigsten ein klares Bild. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Ergibt das organisierte Durcheinander vielleicht doch einen Sinn? Lässt sich eine Ästhetik im Alltag des Verwahrens erkennen? Dieser Frage geht Betty Einhaus mit ihrem Fotoprojekt nach.

Die Redaktion hat sich die Bilder vorgenommen und versucht zu interpretieren, wem die Schubladen gehören könnten.


Der einzelne Handgelenkschoner wirkt wie ein Alibi.

Michael Hinz

«Das erste, was mir direkt ins Auge fällt, sind die bunten Schnürsenkel und die offensichtlich benutzten Skateboard- Rollen. Die bunten Schnürsenkel deuten darauf hin, dass die Person Wert auf Individualität legt, was in großen Teilen der Skatekultur ein Thema ist. Der einzelne Handgelenkschoner wirkt jedoch wie ein Alibi, als würde die Person zwar Schutzausrüstung besitzen, diese jedoch nur gelegentlich benutzen. Die Person scheint ebenfalls in der Lage zu sein, sich selbst handwerklich um die Ausrüstung zu kümmern. Hinter dem Autoschlüssel vermute ich einen Opel, vielleicht das Corsa-Modell, mit dem die Person auch andere Skater abholt, um in andere Städte zum Skaten zu fahren.» Michael Hinz


Der Betrag war zu gering, um dafür extra zur Bank zu gehen.

Etienne Dötsch

«Diese Schublade gehört einer Person aus der oberen Mittelschicht. Die Geburtstagskarte mit den Glückwünschen wurde längst ungelesen weggeworfen, während die hundertdreißig Euro sorglos abgelegt wurden – der Betrag war zu gering, um dafür extra zur Bank zu gehen. Die Person hat eine große Leidenschaft für Fotografie, was sich im zahlreichen Kamerazubehör zeigt. Sie ist mittelmäßig organisiert: Die Dinge wurden abgelegt, aber noch in einem überschaubaren Rahmen. Die Schublade enthält viele Dinge, die nicht im täglichen Gebrauch sind, aber trotzdem wichtig bleiben. Sie ist eine Schublade, in der man sucht, wenn man unsicher ist, wo man anfangen soll. Eine ‹Wenn-dann-da›-Schublade.» Etienne Dötsch


Ich frage mich, ob sich diese Person für natürliche Heilkunde interessiert.

Paul Hartinger

«Das Erste, was ich spannend finde, ist der Weidenzweig. Ich frage mich, ob sich diese Person für natürliche Heilkunde interessiert. Weidenrinde enthält den Wirkstoff Salicin, der Kopfschmerzen lindern kann. Aus dieser Entdeckung wurde die Idee für das bekannte Medikament Aspirin geboren. Das Muschel-Emblem, das wahrscheinlich eine Jakobsmuschel zeigt, erinnert mich an die Jakobswege. Das sind Pilgerrouten, die durch Europa führen. Auch der Wanderschuh-Anhänger passt dazu. Vermutlich ist die Person diesen Weg gegangen und hat in Spanien oder Portugal ein paar Muscheln aufgesammelt.» Paul Hartinger


Ein Haargummi mit einigen seiner dunkeln Locken behält sie als Erinnerung an die schöne Zeit zusammen.

Deliah El-Chehade

«Das ist Lena, 32. Anfang des Jahres hat sie zum vierten Mal ihre große Liebe in Marokko besucht. Ein Haargummi mit einigen seiner dunkeln Locken behält sie als Erinnerung an die schöne Zeit zusammen. Hoffentlich kann Sofian sie diesen Sommer in Europa besuchen kommen. Die süßen Straßenkatzen in Marrakesh haben sie nicht kalt gelassen – sie nimmt eine mit nach Deutschland.» Deliah El-Chehade


Lieber Schubladenmensch, ich hoffe, du gibst Pasta, Chianti & Co bald eine zweite Chance!

Jannis Schubert Jannis Schubert
Blick in eine vollgepackte Schublade

«Es scheint, als hätte die Person vor langer Zeit zu einem italienischen Abendessen eingeladen, welches aus unerfindlichen Gründen nicht stattfand. Vielleicht ein Familien-Abendessen, auf das keiner Lust hatte oder ein geplatztes romantisches Überraschungsdinner? Jedenfalls wurden kurzerhand alle Zutaten in diese Schublade verbannt und vergessen. Seither erinnert das Öffnen dieser Schublade und der Anblick der verstaubten Relikte an diesen gescheiterten Abend. Lieber Schubladenmensch, ich hoffe, du gibst Pasta, Chianti & Co bald eine zweite Chance!» Jannis Schubert


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