Varena, Litauen am 21. Februar 2016: Teresa tanzt in ihrer Küche. 19 Jahre zuvor hat sich ihr Mann das Leben genommen.

Vom Versuch, den Wind zu fotografieren. Litauen hat die höchste Suizidrate in Europa.   Hannes Jung untersucht in seiner Arbeit «How is Life?» die Hintergründe.

In seiner Fotografie interessiert sich Hannes Jung schon länger dafür, wie Menschen mit Krisen im Leben umgehen. Als er für eine Recherche in Südkorea über eine Brücke geht, sieht er ein Schild, das dazu aufruft, sich nicht in den Tod zu stürzen. Wieder zu Hause ist, beginnt er zu dem Thema Suizid zu recherchieren.

Nach Litauen reist er mit einem Recherchestipendium der Bosch-Stiftung. Zusammen mit einem befreundeten Journalisten will er herausfinden, warum in dem baltischen Staat die Selbstmordrate seit Jahren mehr als doppelt so hoch ist als im EU-Durchschnitt. Nicht nur die Suche nach Protagonistinnen, auch der Umgang mit ihnen birgt Schwierigkeiten.

Hannes weiß, dass er die Leute auf keinen Fall durch seine Arbeit retraumatisieren möchte. «Wir mussten auf jeden Menschen individuell eingehen», erinnert er sich. Viele der Betroffenen sagen ihm, dass es trotz allem guttut, über ihre Erfahrungen sprechen zu können. Einige der Protagonistinnen freuen sich darüber, dass Hannes für die Reportage extra aus Deutschland angereist ist.

Der Tod ist ein abstraktes Thema. Ihn darzustellen, ist schwierig. Aber Hannes kommt zu dem Schluss: «Vielleicht kann der Wind nicht fotografiert werden. Aber Du kannst versuchen, seine Wirkung einzufangen, wie er das Meer und die Bäume bewegt und verändert.»

Die enstandene Arbeit «How is Life» wird unter anderem in Kopenhagen, Brüssel oder Perpignan ausgestellt. Mit dem Projekt geht er auch zu verschiedenen Bildredaktionen: Das ZEIT-Magazin schickt ihn daraufhin durch Deutschland, um Jazz-Musikerinnen in derselben besonderen Ästhetik zu fotografieren. Hannes Jung gewinnt mit dem Projekt den «n-ost Reportage-Preis» und den «Prix Mark Grosset», außerdem wird er beim «College Photographer of the Year» ausgezeichnet.

Katiliškiai, Litauen am 20. Mai 2016: D.s Ehemann versuchte, sich, in einem Brunnen umzubringen.

«Als ich meinen Ehemann sah, wie er in den Brunnen stieg, bekam ich große Angst. Aber ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Ich bat ihn, herauszusteigen. Er antwortete mir, das könne er nicht mehr. Mithilfe meiner Mutter und meiner Tochter zogen wir ihn hinaus.»

– D.

Vilnius, Litauen am 10. Februar 2016 Freiwillige des Notfalltelefons «Youth line» arbeiten in Vilnius.

«Seit ich für «Youth Line» arbeite, denke ich über das Konzept des freien Willen des Menschen nach. Zu welchem Ausmaß ist Suizid eine impulsive, mechanische Reaktion auf Leiden? Zu welchem Maß ist es eine persönliche Entscheidung, aufzugeben? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte immer mehr die eigene Entscheidung eines Menschen respektieren – was auch immer das sein mag. Gemeinsam mit der Person zusammenzustehen und sie zu respektieren.»

– Antanas, ein Freiwilliger von «Youth line»

Kaunas, Litauen am 21. Mai 2016: Edita sitzt mit ihrem Mann Darius in ihrem Wohnzimmer.

«Ich sitze an genau derselben Stelle, an der ich auch saß, als ich erfuhr, dass du dir das Leben genommen hast. Hier saß ich, zitternd und betete, dass es nicht wahr sei. Es tut mir leid, dass ich nicht die beste Tochter war. ICH WILL, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich vermisse dich so sehr. Manchmal rufe ich an Sonntagen noch immer deine Nummer an. Oder ich warte auf deine Anrufe. Manchmal rolle ich mich auf meinem Bett zu einer Kugel zusammen und weine. So sehr vermisse ich dich. Warum hast du mir gesagt, dass du immer mit mir zusammen halten wirst? Wenn du weg bist, zu wem soll ich noch gehen? Ich erinnere mich noch an dich, als du mir das Fahrradfahren beibrachtest – du gabst mir die Freiheit, es zu fahren. DANKE DIR =) Ich bin so glücklich, aber ich vermisse dich so sehr. Ich habe keinen Vater mehr und ich bin wütend auf dich. Du hast mich verlassen. Ich liebe dich und träume häufig von dir. Du bist mein Papa. Lebe wohl, ich liebe dich.»

– Edita

Panevėžys, Litauen, am 10. Mai 2016: Bremsspuren auf einer Straße.

Litauen hat die höchste Suizidrate Europas, eine der höchsten der Welt. Betroffen sind vor allem Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit – und natürlich viele Fälle, auf die davon wenig zutrifft. Jeder Suizid ist individuell. Kein Ausdruck von persönlicher Freiheit, sondern oft durch Hoffnungslosigkeit und Krankheit motiviert und durch äußere, soziale, umweltbedingte Faktoren beeinflusst.

Vielleicht kann der Wind nicht fotografiert werden. Aber du kannst versuchen, seine Wirkung einzufangen, wie er das Meer und die Bäume bewegt und verändert.

Hannes Jung
Panevėžys, Litauen, am 1. März 2018: In Eugenias Wohnzimmerschrank steht das Bild ihres toten Sohnes Petras.

«Sei nicht alleine, wir sind alle von der einen und gleichen Welt. Möge niemand sich freiwillig selbst das Leben nehmen, denn es ist ein Geschenk.»

– Eugenia

Zarasai, Litauen am 6. März 2018: Asta posiert in ihrem Wohn-/Schlafzimmer für ein Porträt. Sie wuchs unter schwierigen Umständen auf

«Einmal sagte ich meinem Sohn, dass ich gerne sterben möchte, damit alle Sorgen verschwunden wären. Aber mein Sohn brach in Tränen aus und fragte mich: ‹Mama, wer würde mich dann lieb haben, wer würde mich brauchen?› Es war herzzerreißend.»

– Asta

Varena, Litauen am 26. Februar 2016: Der Wald in der Nähe von Varena.

In Varena ist die Selbstmordrate die höchste in ganz Litauen.

Salamiestis, Litauen am 29. Januar 2016: Ein Hund bellt in Janinas Garden.

Janinas Familie kämpft mit sozialen Problemen.

Kupiskis, Litauen am 30. Januar 2016: Porträt von Donata mit ihrem Hund Mikutis im Bett.

Donata erkrankte vor 18 Jahren an Depressionen – während und nach der Scheidung von ihrem damaligen Ehepartner. Ihr Hund half ihr, jeden morgen das Bett zu verlassen, um mit ihm Spazieren zu gehen.

Varena, Litauen am 20. Februar 2016: Eine selbstgebaute Rennstrecke nahe Varena.

«Meine Lieblingsfarben sind Schwarz und Weiß, damit ich kopfüber in alle Aktivitäten des Lebens leidenschaftlich eintauchen kann. Ich versuche, die Kinder unter meine Fittiche zu nehmen, damit sie lernen, die Verkehrszeichen des Lebens erkennen und sich von ihnen führen lassen.» – Gintautas, Gründer eines Jugendtreffs in Varena, der Region, mit der höchsten Suizidrate in Litauen.

Radeikiai, Litauen am 29. Januar 2016: Eine Landschaftstapete hängt im Wohnzimmer einer Landwirtsfamilie.

In Litauen begehen hauptsächlich Menschen aus ländlichen Regionen Selbstmord.

Kupiskis, Litauen am 9. Mai 2016: Moskitos fliegen über einem See in der Nähe von Vilmas Zuhause. Fünf Jahre zuvor hat sich ihr Partner das Leben genommen.

«Nach fünf Jahren Trauer habe ich endlich wieder Interesse am Leben. Ich habe ein neues Gefühl in mir entdeckt – ich interessiere mich. Ich interessiere mich wieder für Gänge ins Theater oder in die Oper, für Kanufahrten oder die Aktivitäten des Rotary Club und sogar den Sonnenuntergang anzuschauen.»

– Vilma

Pagėgiai, Litauen, am 11. Mai 2016.

Ein Landwirt pflügt ein Feld, um Kartoffeln zu pflanzen.

Marijampolė, 20. Mai 2016: Vaidas posiert in seiner Werkstatt für ein Porträt.

«Mein Name ist Vaidas und mir wurde eine Depression diagnostiziert. Ich habe Schwierigkeiten, damit umzugehen, weil ich schwere Kopfschmerzen und Beschwerden am ganzen Körper habe. Das liegt daran, dass sich mein Körper seit einer Verletzung im Schockzustand befindet. Je länger ich damit lebe, desto unsicherer bin ich, wie ich damit weiterleben möchte.

– Vaidas

Šiauliai, Litauen am 23. Februar 2018

Ein Hügel aus Kreuzen ist eine Pilgerstätte.

Varena, Litauen am 25. Februar 2016: Ein Regal mit alkoholhaltigen Getränken steht in einem kleinen Laden in Varena.

Der WHO zufolge hat Litauen eine der höchsten Alkoholkonsum-Raten weltweit.

Joniskis, Litaen, am 28. Februar 2018: Vitalja und ihre zwei Töchter

«Ich versuchte, meinen Ehemann zu erschrecken, indem ich versuchte, mich umzubringen. Es hätte ihn nicht weniger interessieren können. Ich habe nur meine Kinder erschreckt. Ich glaube, du kannst durch Suizid nichts verändern. Du wirst nur die Leute verletzen und zerstören, die dich lieben. Die, die dir am nächsten sind.»

– Vitalja

Kupiskis, Litauen am 27. Feburar 2018.

Wind und Schnee auf dem Weg nach Kupiskis.

Hilfe bei Suizidgedanken

Wenn deine Gedanken darum kreisen, dir das Leben zu nehmen, bieten verschiedenen Organisationen Hilfe und Auswege an:

Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Dort sind Mitarbeiter*innen rund um die Uhr erreichbar, mit ihnen können Sorgen und Ängste geteilt werden. Die Telefonseelsorge bietet auch einen Chat an.

Für Kinder und Jugendliche gibt es außerdem die „Nummer gegen Kummer“ – erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800/111 0 333. Eine Mailberatung für junge Menschen gibt es auch über die Website U25 Deutschland und über Jugendnotmail.

Hilfe – auch in türkischer Sprache – bietet das muslimische Seelsorge-Telefon „MuTeS“ unter 030/44 35 09 821. Die Mitarbeiter*innen dort sind 24 Stunden am Tag erreichbar.

Eine Übersicht weiterer Angebote hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention aufgelistet:


Empfehlungen aus dem Magazin: