Wie Bomben Ideale verändern

Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur Leben und Landschaften verwüstet, er hat auch die Wunschvorstellungen vieler Ukrainier*innen verändert. Was sind ihre neuen Prioritäten? Von Tania Piliavska (Text) und Tetyana Chernyavska (Fotos)

Zerbrochene Fensterscheiben und ein Graffito auf einer Häuserwand in Kiev im Mai 2023, fotografiert von Tetyana Chernyavska

Früher waren die Preise für Lebensmittel hoch, die Löhne niedrig und wir waren unzufrieden mit diesen Bedingungen. Aber nach dem 24. Februar 2022 sind all diese Dinge zur Nebensache geworden. Das Wichtigste ist seitdem, die Stimmen der Menschen zu hören, die einem am nächsten stehen, sei es auch nur über das Telefon. Niemand interessierte sich mehr für Streitereien. Viele Gründe, sich zu streiten, scheinen heute nichtig. Menschen vermeiden familiäre Konflikte, wenn sie wissen, dass sie morgen vielleicht ihre Verwandten verlieren.

Illia ist bei der Nationalen Polizei der Ukraine tätig. Vor dem Krieg war er in Melitopol stationiert, einer Stadt im Südosten der Urkaine, die jetzt von der russischen Armee besetzt ist. Einen Monat nach der Besetzung von Melitopol zog Illia in eine Stadt, die von der ukrainischen Regierung beherrscht wird. Während des Krieges war er zweimal an einem Brennpunkt in der Nähe der Stadt Orikhiv. Illia erzählt von seinem idealen Wochenende in einer friedlichen Zeit und an einem Brennpunkt: «Vor dem Krieg waren meine freien Tage Samstag und Sonntag. Ich bin aufgewacht und habe in den sozialen Medien nachgesehen, ob mir jemand geschrieben hat. Dann verbrachte ich Zeit mit meiner Familie, half meinen Eltern im Haushalt und machte am Nachmittag ein Nickerchen. Abends habe ich mich mit meinen Freunden getroffen, in einem Café zu Abend gegessen und einfach eine gute Zeit mit ihnen verbracht.»

Viele Gründe, sich zu streiten, scheinen heute nichtig.

Illia erinnert sich an einen seiner dienstfreien Tage in Orikhiv. Er und seine Kameraden wohnten im Keller der Polizeistation. Sie wachten gemeinsam um 7 Uhr morgens auf, bereiteten das Frühstück vor und gingen zu einer allgemeinen Versammlung. Dort informierte der Kommandeur sie über die aktuelle Lage und entließ diejenigen, die den Tag frei hatten. «Ich war einer dieser Glücklichen», sagt Illia. Sie zogen sich Zivilkleidung an, die bequemer war, und gingen auf den Markt, um Süßigkeiten zu kaufen. «Die fehlten uns und wir wollten unbedingt welche essen». Dann gingen sie zurück zur Polizeiwache, Illia sah sich Filme an, trank Tee und rauchte.

Park in Kiev, im Hintergrund Hochhäuser, im Vordergrund ein Spielplatz mit Familien und Kindern. Fotografiert von Tetiana Cherniavska im Mai 2023. Kiev im Mai 2023
Porträtfoto der ukrainischen Autorin Tania Piliavska, Foto: Momen Mostafa Autorin Tania Piliavska (Foto: Momen Mostafa)
Kiev im Mai 2023

Er hatte an diesem Tag großes Glück – er konnte seine Familie und enge Freunde erreichen. «Wir gingen zum Mittagessen in eine Schule in einer nahe gelegenen Straße. Diese Schule war geschlossen und Freiwillige kochten für uns in der Schulkantine», erzählt er. Um 20 Uhr trafen sich alle Kämpfer wieder zum Abendessen. Das Essen wurde ihnen vom Kommando zugeteilt. Sie aßen und unterhielten sich miteinander. Das war ein wichtiger Teil des Tages. Es war wichtig, sich gegenseitig zu unterstützen und sich um die psychische Gesundheit gegenseitig zu kümmern. Die Männer duschten vor dem Abendessen, wofür sie in ein Hotel gingen, das den Betrieb eingestellt hatte. Es lag 1,5 km von ihrer Polizeiwache entfernt.

Um 22 Uhr abends ging Illia noch einmal raus, um zu rauchen und Kaffee zu trinken. Dann hörte er drei bis vier Explosionen und wie die russische Artillerie feuerte.

Mit dem Beginn des Krieges haben wir gelernt, die Sachen, die wir immer für selbstverständlich gehalten haben, wieder zu schätzen.

Aus meiner und Illias Erfahrung kann ich sagen, dass sich die Ideale der Ukrainer*innen spürbar verändert haben. Wir haben Freunde verloren, einige unserer Familien wurden gewaltsam auseinandergerissen, russische Soldaten erschossen unsere Verwandten, unsere Häuser brannten oder wurden durch Bomben zerstört.

Mit dem Beginn des Krieges haben wir gelernt, die Sachen, die wir immer für selbstverständlich gehalten haben, wieder zu schätzen. Duschen, Internet, Mobilfunk, Medizin und einfache Produkte wie Brot, Gemüse und Süßigkeiten. In den ersten Monaten des Krieges hatten wir all das nicht. Jetzt wissen wir es umso mehr zu schätzen. Der Krieg zwingt dazu, dankbar für einfache Dinge zu sein, die eine moderne Gesellschaft gar nicht wahrnimmt. Jetzt bin ich dankbar, dass ich noch am Leben bin, dass ich weiter studieren und der Welt von den Gräueltaten berichten kann, die jeden Tag in der Ukraine geschehen.