«Einen Kaffee bitte, Hasi»

Im täglichen Leben gibt es viele Momente, in denen Zivilcourage gefragt ist. Warum schreiten wir nicht jedes Mal ein, wenn jemand in der U-Bahn belästigt wird oder in der Schule gemobbt? Von Wiebke Rose 

Symbolfoto: Bastian Betz, Armina Ahmadinia, Jannis Schubert und Cora Trinkaus

«Wie geht’s Dir denn heute, Schatzi?», «Ist denn alles gut bei Dir, Süße?» und «Einen Kaffee bitte, Hasi.» Sätze wie diese hört Mirja in ihrem Arbeitsalltag oft. Sie ist 20 Jahre alt und arbeitet in ihrer örtlichen Bäckerei. «Da gibt es einen älteren Stammkunden», erzählt sie, «der wirklich jeden Tag kommt. Manchmal mit seiner Frau und manchmal ohne.» Das ausschließlich weibliche Verkaufspersonal der Bäckerei nenne er alle konsequent nur beim Kosenamen. «Am Anfang fand ich das nur etwas komisch, mittlerweile ist es mir aber richtig unangenehm.»

Der langjährige Kunde starre ihren Kolleginnen und ihr auch in den Ausschnitt oder auf den Po, sobald sie sich bücken oder etwas auf dem Boden zusammenfegen. «Seine ganze Art, wie herablassend er uns behandelt. Für mich grenzt das schon irgendwie an sexuelle Belästigung», gesteht Mirja. Im Gespräch mit mir erzählt sie, dass sie sich wünsche, jemand würde mal etwas sagen. Sie verstehe jedoch auch, warum ihre Kolleginnen nicht einschritten. «Wir haben einfach Angst, dass wir dann Ärger mit unserem Chef bekommen, es ist ja sehr wichtig, dass wir höflich mit unseren Kunden umgehen.»


Je mehr Menschen Zeuge einer Notsituation werden, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift.

Das ist nur einer von wenigen Gründen, warum Menschen in vergleichbaren Situationen schweigen. Über die Vor- und Nachteile, die zivilcouragiertes Handeln mit sich bringen kann, schrieb der Politikwissenschaftler Gerd Meyer bereits 2011 in dem Magazin proJugend. Meyer ordnet Zivilcourage dabei als eine bestimmte Art des sozial verantwortlichen Handels ein, nicht etwa als eine menschliche Eigenschaft. Handelt man aus sozialem Mut heraus, lässt sich das allerdings nicht mit dem herkömmlichen Helfen oder Solidarisieren gleichsetzen.

Einen entscheidenden Unterschied markiert der Ort des Geschehens, wo also die Notsituation stattfindet und so mindestens eine weitere Person dazu veranlasst einzugreifen. Dieser muss sich in der Öffentlichkeit befinden, um von Zivilcourage sprechen zu können. Zudem gehen in den meisten Fällen teils unvorhersehbare Konsequenzen mit dem Handeln einher. Bewirke ich durch mein Einschreiten überhaupt etwas? Begebe ich mich gerade in Gefahr? Muss ich mit negativen Folgen für mich selbst rechnen – wie Mirja, die ihre Geschäftsführung nicht verärgern will?

Ein weiteres Merkmal ist der Appell an unseren eigenen Moralkompass. Verletzt eine bestimmte Situation unsere Wertevorstellungen, sind wir schneller dazu geneigt, einzuschreiten und gegebenenfalls dem Opfer zu helfen. Gerd Meyer spricht hier von Zivilcourage als einem «wertegebundenen Konzept», welches sich stets gegen Gewalt und politisch extreme Ziele richte. Deshalb sei Zivilcourage zudem «eine wichtige, ebenso anspruchsvolle wie unbequeme Tugend in einer Demokratie.» Aber wovon hängt es nun genau ab, ob wir in eine Situation eingreifen und couragiert handeln? Eine Frage, auf die es mehr als eine Antwort gibt. Zum einen gilt es immer, die Situation vorher einzuschätzen. Oft greifen wir erst ein, wenn es eindeutig ist, dass unser Handeln erforderlich ist.

Als zweiten wichtigen Faktor hat die Wissenschaft das Verhalten der anderen anwesenden Menschen erkannt. Ob sich andere passiv verhalten oder direkt aktiv einschreiten, wirkt sich stark auf unseren eigenen Einsatz aus. Eine These wird in Studien immer wieder bestätigt: Je mehr Menschen Zeuge einer Notsituation werden, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift. Dieses Phänomen bezeichnen wir auch als Zuschauereffekt. Dabei geht der einzelne zum Beispiel davon aus, dass jemand anderes kompetenter ist und deshalb schon einschreiten werde. So verteilt sich die Verantwortung auf immer mehr Personen, sodass sich alle tatsächlich weniger verantwortlich und gefordert fühlen. Für den «Bystander- Effekt» gibt es ebenfalls genug alltägliche Beispiele. 


Etwa 15 Minuten lang hilft ihr keiner der umstehenden Passanten, obwohl der Mann wiederholt versucht, nach ihrer Hand zu greifen.

Eine weitere junge Frau erzählt mir von ihrer Erfahrung. Sie sitzt in ihrer Heimatstadt am Bahnhof und wartet auf ihren Bus, als ein Mann sie anspricht. «Der ist dort schon recht bekannt, hat wohl ein Alkoholproblem und spricht öfter mal aufdringlich Leute an», erzählt sie. Erst macht er ihr Komplimente zu ihren Haaren, was für sie noch in Ordnung gewesen sei. Dann fängt er an, mit ihr zu flirten, lädt die junge Frau zu sich nach Hause ein und greift sogar nach ihrer Hand. «Das war mir natürlich unangenehm, was ich ihm auch deutlich gesagt habe.» Um sie herum stehen mehrere Menschen, von denen einige genau mitbekommen, wie unangenehm ihr die Situation ist. Etwa 15 Minuten lang hilft ihr keiner der umstehenden Passanten, obwohl der Mann wiederholt versucht, nach ihrer Hand zu greifen. «Bis dann zwei Mädchen gekommen sind – zwei von vielleicht zehn Leuten, die in unmittelbarer Nähe standen», erinnert sie sich. Ziemlich allein gelassen und hilflos habe sie sich gefühlt, auch wenn ihr letztlich geholfen wurde.

Um künftig dafür zu sorgen, dass mehr Menschen bereit sind, couragiert zu handeln, müsse man schon im Bereich der Erziehung innerhalb der Familie und der schulischen Bildung für das Thema sensibilisieren, schreibt Gerd Meyer. So könne man dafür sorgen, dass in Zukunft die Bereitschaft für zivilcouragiertes Handeln steige. Solange jedoch Machtmissbrauch weiterhin ein Problem innerhalb der Gesellschaft darstellt, wird wohl auch Zivilcourage ein Thema bleiben. In Mirjas Fall wurde der ältere Kunde bisher nicht auf seine Anzüglichkeiten hingewiesen. Sie selbst hat ihren Job beim Bäcker wegen ihres Studiums gekündigt, aber Stammkunden bleiben eben Stammkunden.


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