Großformatfotografie: Wer tut sich das noch an?
Warum ich freiwillig eine Kamera durch die Weltgeschichte schleppe, die so schwer ist, wie ein Sack Zement, verrate ich dir in diesem Ratgeber!
Foto: Ludwig Nikulski, Tankstelle bei Abendlicht
Minutenlang beuge ich mich über das spiegelverkehrte Bild meiner Kamera, bis mich der Schwindel packt und ich beginne, all meine heutigen Entscheidungen infragezustellen. Ich messe das Licht, kalkuliere ein mittleres Grau, und achte dabei auf jede verdammte Linie – nur um dann festzustellen, dass ich versehentlich gegen die Kamera gestoßen bin und damit der Ausschnitt nicht mehr stimmt. Auf ein Neues also.
Warum tue ich mir das an, in einer Zeit der schier unbegrenzten technischen Möglichkeiten? In diesem unvollständigen Bericht über die Höhenflüge und Tiefpunkte der Großformatfotografie erfährst du weshalb!
Foto: Ludwig Nikulski
Um dich zu überzeugen, könnte ich jetzt mit all den technischen Vorzügen der Großformatfotografie beginnen. Zum Beispiel, dass ein 4 × 5″-Negativ etwa fünfzehn Mal größer ist als ein 35-mm-Negativ. Wenn also das Mittelformat das gute Porzellan unter den Negativformaten wäre, dann ist das Großformat wie eine Tischplatte aus Marmor, auf der das Mittelformat angerichtet wird. So groß ist es.
Für den Anfang reicht es zu wissen, dass das Großformat also viel größer ist, als ein Standard-Fotodruck von Rossmann. So groß sogar, dass du dir an heißen Sommertagen damit etwas kühlende Luft und einen Hauch chemischer Partikel ins Gesicht wedeln könntest.
Foto: Ludwig Nikulski
Den simplen Aufbau der Linhof Technika V kann man sich so vorstellen: Zugegebenermaßen habe ich von den meisten Bestandteilen jedoch nie wirklich verstanden, wozu man sie braucht. Aber erstmal weiter im Text.
So riesig das Großformat ist, so langsam ist es auch. Sogar so langsam, dass du Menschen auf der Straße also tatsächlich fragen müsstest, ob du sie fotografieren darfst. Schnell ein Foto machen und weglaufen mit der zentnerschweren Kamera, das könnte schwierig werden.
Wenn sie einverstanden sind und du loslegen kannst, solltest du deine Aufmerksamkeit ganz auf das richten, was du da tust. So ganz im Moment sein, meine ich. Einen Schnappschuss, den kannst du mit dem Großformat vergessen. Du musst hinsehen, ich meine wirklich hinsehen! Dich konzentrieren und du solltest wissen, was du da tust. Denn deine Möglichkeiten sind begrenzt, es sei denn, du verfügst über einen ungeahnten Geldsegen – das Ganze ist nämlich ein recht teures Vergnügen.
Was kostet ein Farbfoto?
1. Eine Packung Kodak Portra 400 mit 10 Blatt kostet momentan 127,00€ bei Calumet.
2. Ein Negativ kostet also 12,70€.
3. Wenn du nicht nur ein latentes, also unsichtbares Bild auf dem Negativ haben möchtest, musst du dieses auch entwickeln lassen. Die Entwicklung kostet beispielsweise bei Pixelgrain 7,14€ pro Negativ.
4. Sind wir bei 19,84€ pro Foto. Wir belassen es mal dabei und gehen davon aus, dass du einen eigenen Scanner hast, um aus dem Negativ ein (digitales) Positiv zu erstellen.
Ganz so schlimm ist das nun auch wieder nicht.
1. Vielleicht spielt Geld für dich eben einfach keine Rolle.
2. Du könntest auch günstigere Angebote finden, recherchier doch mal!
3. Oder du fotografierst in Schwarz Weiß, das ist nämlich auch ganz toll.
Foto: Ludwig Nikulski, Autowaschanlage, Hannover, 2022.
Foto: Ludwig Nikulski
Was bringt das ganze nun?
Im unendlichen Strudel digitaler Möglichkeiten ist heute fast alles machbar. Fehler sind fast ausgeschlossen. Vieles gelingt automatisch. Wirklich anstrengen musst du dich dabei nicht. Bequem irgendwie. Wer auf Nummer sicher gehen will, bleibt einfach genau da. Kapitalistisch betrachtet ergibt das Sinn.
Die Großformatfotografie hingegen ist alles andere als gemütlich und auf gar keinen Fall sicher. War vielleicht der Schuber nicht richtig verschlossen? Ist da ein Loch im Balgen? Der Film falsch belichtet? Hast du vergessen, die Kassette zu reinigen, sodass jetzt jede Menge Staub auf deinem Negativ sitzt? Das sind nur einige der vielen zerstörerischen Möglichkeiten, die dein nächstes Großformatprojekt in eine Achterbahnfahrt verwandeln können.
Aber genau das kann von Vorteil sein! Denn Herausforderungen aktivieren das Gehirn. Hindernisse, mit denen wir uns konfrontiert sehen, können als Katalysator für kreative Prozesse wirken und uns dazu zwingen, bisher ungenutzte Denkweisen zu aktivieren. Wenn du also zehn oder bloß zwei Blatt zur Verfügung hast, dann willst du dein Bild im besten Falle gelinde gesagt nicht verkacken.
Dadurch beginnst du, anders zu denken: Was genau willst du eigentlich fotografieren? Welches Motiv suchst du überhaupt? Wie fällt das Licht? Welchen Ausschnitt wählst du? Welche Haltung soll eine Person bekommen und wo befindet sie sich im Raum? Du fängst an, dir Fragen zu stellen, bevor du abdrückst – und das verändert alles!
Manchmal will ich mir das Echte, also das Chaos dieser Welt und die Unvorhersehbarkeit, durch die Großformatfotografie bewahren.
Ludwig Nikulski
Foto: Ludwig Nikulski, Mathilda und Theo auf dem Moped. Greifswald, Dezember 2022.
Du musst erstmal gar nichts.
Das klang jetzt vielleicht so, als müsstest du von allem schon einen richtigen Plan haben. Eigentlich musst du aber gar nicht genau wissen, was du fotografierst. Du darfst auch einfach herumprobieren und Spaß haben an dieser wunderbar alten und genialen Technik. Und so ein C-Print, also ein echter Handabzug? Der sieht einfach unfassbar toll aus.
Denn irgendwo auf dieser Welt ist Licht durch eine Linse geflogen, hat dein Negativ belichtet und später dann noch einmal auf denselben Bildausschnitt, diesmal aber durch den Vergrößerer, direkt auf dein Fotopapier. Keine Sensoren, keine Software. Und ganz plötzlich hast du ein Abbild dieser Welt, nur durch Physik und Chemie, ohne digitale Zwischenschritte. Das hat schon etwas Meditatives an sich.
Foto: Ludwig Nikulski, Weidendamm. Hannover, 2021.
Foto: Ludwig Nikulski
Die Großformatfotografie verändert so einiges. Vor allem, wie du arbeitest – aber auch, wie du wahrgenommen wirst. Denn Menschen schauen dich plötzlich an. Vielleicht kommen sie sogar auf dich zu, um zu fragen, ob du rasende Autos blitzt oder ein Porträt von ihnen machen kannst. Sie denken, dass du coole Vintage-Fotos machst. Das, was sie da Vintage nennen, ist aber eigentlich nur richtig gute Qualität. Kein Retro-Filter und auch kein Zylinder mit Hosenträgern im übertragenen Sinne. Einfach: detailreich, tief und scharf.
Man könnte sogar sagen: Großformat ist zeitgemäß. Es ist eine Technik, mit der du dich bewusst gegen die Flut der Bilder abgrenzt, gegen das Immer-mehr und Immer-schneller. Statt Quantität zählt hier Qualität. Und mit ein bisschen Übung wird man das auch deinen Bildern ansehen. Denn richtig eingesetzt ist die Bildwirkung einfach der Wahnsinn!
Es ist auch eine Technik, die der Konzentration statt der Ablenkung dient: kein Display, kein Autofokus. Großformat erinnert daran, dass Sehen, Denken und Entscheiden zum Fotografieren dazugehören. Vieles ist heute smart und automatisch, und das ist gut so, weil es vielen Menschen hilft. Trotzdem wächst eine Sehnsucht zurück zum Handwerk, zur Ruhe und Konzentration, zu Dingen, die man anfassen und riechen kann. Die man erleben kann.
Foto: Ludwig Nikulski
Doch bloß Schwärmerei und Nostalgie?
Vielleicht ein bisschen von beidem. Aber hinter all dem steckt auch etwas sehr Reales. Ein analoges Bild entsteht physikalisch: aus unzähligen winzigen Lichtpunkten, die zufällig und ungeordnet aufs Negativ treffen und so ein nicht zufälliges Bild formen. Auf einem digitalen Sensor läuft das ganz anders. Da sitzt ein Raster aus Fotodioden, streng geordnet, pixelgenau. Das Bild wird sauber berechnet. Und genau deshalb wirkt ein digitales Foto manchmal so glatt gestriegelt.
Also, vielleicht fängst du einfach mal an, probierst ein bisschen aus, machst Fehler oder auch nicht, und nimmst an einem Workshop teil, wenn du magst. Am Ende entscheidest du, ob das was für dich ist. Ich jedenfalls fühle mich dadurch lebendig.
Foto: Ludwig Nikulski, Liliana am Kloster in den Karpaten. Botos, Rumänien, Februar 2024
Wer fotografiert denn noch so auf Großformat?
Ute und Werner Mahler, Elliot Verdier, Vanessa Winship, Heiner Beisert, Julius Schien, uvm.