Nach dem Beben
die Stille

Beim schweren Erdbeben in der Türkei vom 6. Februar 2023 kollabierte das Iskenderuner Krankenhaus. Alican Kenar verlor dabei seine Großmutter. Nun versucht er, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Von Elena Prudlik (Text) und Felix Posner (Fotos)

Man sagt, Gebäude beginnen zu tanzen, kurz bevor sie in die Knie gehen und es Schutt und Geröll regnet. Alican Kenar schreckt hoch, von den tobenden Türen, die klappernd und ratternd an seinen Schrank schlagen, während das Wasser auf seinem Nachtschrank in Wellen aus dem Glas schwappt. Die leer gefegten Straßen Iskenderuns zittern so heftig, dass hohe Gebäude schwingen wie Pendel. Das Haus der Familie Kenar, an der Küste der Stadt, hält dem Beben stand, während andere in wütendem Getöse zu Boden gehen, ihre Bewohner verschütten und die Region in Staub und Nebel versinken lassen. Nur die Straßenhunde sollen wohl einige Augenblicke zuvor schon zu jaulen begonnen haben. 

Gegen 4 Uhr morgens entlädt sich die aufgestaute tektonische Spannung explosionsartig und fegt über den Südosten der Türkei und Syrien. Der Erdbebenherd lag in vergleichsweise geringer Tiefe, die davon ausgehenden seismischen Wellen verloren auf ihrem Wege an die Oberfläche nur wenig Energie – und entwickleten so eine solch zerstörerische Kraft, dass sie ganze Stadtteile ausradierten. Viele der Gebäude, vor allem Neubauten, die einmal in die Höhen gezogen worden waren, zerfielen wie Kartenhäuser im Wind. Wie Syrien liegt auch die Türkei in einer der erdbebenreichsten Regionen der Welt, hier treffen gleich mehrere tektonische Platten aufeinander. Auf ihren Wegen verhaken sie sich mitunter ineinander, drücken gegeneinander und bauen Spannungen auf, die sich durch abbrechende Gesteinskanten von einem auf den anderen Augenblick entladen können wie ein Feuerwerk. So waren am 6. Februar 2023 die Anatolische und die Arabische Platte für das Erdbeben verantwortlich, bei dem so viele Menschen ihr Leben, ihre Existenzen verloren. 

Iskenderun/Türkei, 23.05.23

Das Erdbeben [02.23] ereignete sich um 4 Uhr morgens. Seitdem leidet Alican Kenar unter Schlafstörungen. So arbeitet er meistens nachts als Übersetzer auf der Terasse des Hauses seiner Eltern, wo er sich sicherer fühlt als in seinem Schlaf- und Arbeitszimmer im obersten Stockwerk.

Iskenderun/Türkei, 25.05.23

Aysels Haus widerstand dem Beben, nur ein schmaler Riss zieht sich durch eine der Wände.

[Iskenderun/Türkei, 25.05.23]

Die Stadt Iskenderun ist auf sumpfigem Boden gebaut. Der weiche Untergrund ist gerade für hohe Gebäude, die ein festes Fundament benötigen, nicht geeignet. Nahe der Küste finden sich noch immer unbebaute Wiesen, die gerade in heißen Nächten für Mückenplagen sorgen.

Nachdem bereits im Jahre 1999 bei einem katastrophalen Erdbeben in der Region um Izmit schon hauptsächlich Neubauten zusammengestürzt waren, verabschiedete die türkische Regierung ein Gesetz mit Vorschriften für moderne und erdbebensichere Gebäudestandards. Auch das staatliche Krankenhaus der Küstenstadt Iskenderuns wurde im Jahre 2012 auf seine Standfestigkeit und Sicherheit geprüft – und fiel durch. Im Februar 2023 verlieren Alican und seine Cousine Meysa allmählich jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Seit Tagen, vielleicht auch schon seit einer ganzen Woche, harren sie aus – vor Trümmern, die einmal Türen, Wände und Säulen des staatlichen Krankenhauses waren. Sie sitzen auf Bänken und wackligen Plastikstühlen um ein Feuer herum und warten. Warten darauf, dass wieder jemand aus dem Geröll gezogen wird. Am Abend vor dem Beben hatte sich Alican’s Großmutter Aysel Kaya einweisen lassen, um ihren Rücken durchchecken zu lassen. Der Flügel A des Krankenhauses, in dem Aysel die Nacht verbrachte, ist nun nicht mehr als ein gigantischer Berg an Schutt und Staub. Die Decken und Böden zusammengepresst wie Pappe.

Suchtrupps und Hilfsorganisationen gelangen nur langsam in die Region Hatay, in der Iskenderun liegt. Der regionale Flughafen ist lahmgelegt, der Asphalt der Landebahn gerissen, Krater ziehen sich wie Maulwurfshügel über die Piste. So bleibt den Betroffenen nichts, als mit bloßen Händen im Schutt nach Schreienden und Klopfenden zu buddeln und zu graben. In den bitterkalten Nächten ist ein langes Überleben in den Steingefängnissen nahezu unmöglich. Wie auch andere Wartende bekommen Alican und Meysa in diesen Tagen kaum ein Auge zu. Sie harren aus, hilflos, bis auch ihre Großmutter schließlich leblos aus den Trümmern geborgen wird.

«Der Bericht über die Erdbeben-Beständigkeitsprüfung war negativ» ist in fetter roter Schrift mit Unterstrich auf der Webseite des Iskenderuner Krankenhauses zu lesen. Der Erdbebentest 2012 bestätigte, dass Block A des Krankenhauses längst baufällig war und neu errichtet hätte werden müssen. Das Ergebnis wurde zur Kenntnis genommen, es wurden Unterschriften unter den Bericht gesetzt, Hände geschüttelt und so lief der Krankenhausbetrieb Jahr für Jahr weiter wie ein Uhrwerk. Nachdem elf Jahre später Schutt und Trümmer der ehemaligen Korridore und Patientenzimmer abgetragen sind, bleibt nichts als eine Auffahrtrampe und Stangen aus dem Stahlbeton übrig, die wie Gestrüpp kreuz und quer in alle Richtungen ragen. Solche Stahlstangen werden benötigt, damit der Beton während eines Erdbebens nicht reißt. Es sollten sogenannte Armierungseisen sein – dicke und geriffelte Stahlstangen, an denen der Beton haftet. In Iskenderun ist dieser Stahl dünn und glatt.

Iskenderun/Türkei, 22.05.23

Nachdem Überlebende und Tote auf dem Gelände des Staatlichen Krankenhauses Iskenderun’s geborgen wurden, wurden die Gebäude vollständig abgetragen. Nur die unzureichenden Stahlstreben und eine Auffahrtrampe sind noch geblieben.

Arsuz/Türkei, 24.05.23

Seit dem Erdbeben klebt gerade an zerstörten Häusern Wahlwerbung aller Parteien. Im stark betroffenen Hattay ist die Stichwahl zukunftsweisend.

Iskenderun/Türkei, 25.05.23

Bülent Akbay, Anwalt und Vositzender des „Vereins für soziale Rechte“ (Sosyal Haklar Derneği), in seinem provisorischen Büro an der Küstenpromenade von Iskenderun.

Ein Duft von frisch gemahlenem Kaffee und süßlichem Shishaqualm hängt in der Luft, wenn Bülent Akbay seine Klienten empfängt. Der Sosyal Haklar Derneği, der „Verein für soziale Rechte“, durfte sich in der ersten Etage eines Cafés an der Promenade Iskenderuns mit seinem provisorischen Büro einrichten. Die ursprünglichen Räumlichkeiten des Vereins, für den Akbay ehrenamtlich als Anwalt tätig ist, wurden bei dem Beben dem Erdboden gleichgemacht. Es war Alicans Onkel, der ihn auf einen Aufruf zu einer Sammelklage aufmerksam machte. Außer der Familie Kenar klagen nun vier weitere Parteien, die ihre Angehörigen im maroden Krankenhausflügel verloren haben und der Frage nachgehen, ob diese Tragödie nicht hätte verhindert werden können. Akbay, der den Angehörigen kostenlosen Rechtsbeistand leistet, geht davon aus, dass die fünf Unterzeichner des Gutachtens aus dem Jahre 2012 ihre Augen vorsätzlich verschlossen, also nicht aus Fahrlässigkeit untätig blieben.

Die fünf Beklagten hatten das Krankenhaus als Bauunternehmer errichtet oder bekleiden leitende Posten in der Verwaltung. Es wäre ihre Pflicht gewesen, das Gebäude abreißen zu lassen. Den Verantwortlichen drohen bis zu 25 Jahre Haft, schätzt Anwalt Bülent Ackbay – so er den Rechtsstreit denn gewinnt. Er und seine Klienten plädieren auf Mord. In der Vergangenheit fiel das Strafmaß in vergleichbaren Fällen eher gering aus – oder es wurden gleich Dritte verantwortlich gemacht. Der Fall wurde inzwischen der Staatsanwaltschaft übergeben.

Wenn Alican nun seine Großmutter Aysel besuchen möchte, fährt er zum Iskenderuner Friedhof mit den weißen Gräbern, die ordentlich aufgereiht zwischen Bäumen und Sträuchern liegen. Mit Blick auf Hügel und Berge, die sich am Horizont entlang schlängeln. Das Datum des 6. Februars 2023 ist auf dieser Seite auf jedem Grabstein zu lesen. Eine kleine türkische Flagge auf Aysel’s Nachbargrab flattert gelegentlich in einer Windböe. Die Fahne ist in dem Kopfschmuck befestigt, den die Verstorbene einmal getragen hatte. Eine türkische Flagge auf einem Grab zeigt an, dass die Person im Dienste der Türkei starb, beispielsweise also im Einsatz bei der Polizei, der Feuerwehr oder, wie in diesem Fall, als Krankenpflegerin – jene, die Aysel im Krankenhaus betreut hatte. 

Iskenderun/Türkei, 25.05.23

Seit der Nacht des Erdbebens leidet Alican unter massiven Schlafstörungen.

Iskenderun/Türkei, 25.05.23

Der Zitronenbaum der Familie Kenar, den Alican mit seiner Großmutter Aysel gepflanzt hat.

Iskenderun/Türkei, 23.05.23

Fotografie von Alican’s Großeltern, Aysel und Zidan Kaya, im Wohnzimmer der Familie Kenar.

Eine drückende Stille liegt über der Erdbebenregion wie eine tiefhängende Wolke. In der Dämmerung, wenn die Nacht sich langsam anpirscht und die Kälte in Ecken und Ritzen kriecht, bleibt es dunkel in den Fenstern der noch stehenden Häuser. Durch die dünnen Wände der Zelte flackert Licht von Feuern und Kerzen, der aufsteigende Dampf des heißen Tees verdrängt für wenige Augenblick die klamme Luft. Menschen teilen sich den beengten Platz und ihre Privatsphäre mit Familien, die sie vorher nicht einmal vom Sehen kannten, eingepfercht von Zäunen und Drähten, unter dem wachsamen Auge des Sicherheitspersonals. Die Zeltreihen drängen sich auf Plätze und füllen die großen Freiflächen der Stadt. Dazwischen tauchen auch zunehmend Wohncontainer auf, sie lassen sich mit Klimaanlagen beheizen und stehen mal längs, mal quer in den Siedlungen. Von den Wahlplakaten an den Ruinen blickt das Gesicht von Recep Tayyip Erdoğan auf diejenigen, die Baumwurzeln ausgraben, um etwas Feuerholz zu haben. 

Im Sommer 2023 kehrt Alican der Erdbebenregion den Rücken. Er lebt seitdem im paradiesischen Kaş an der Mittelmeerküste der Türkei. Dort hat er ein Häuschen angemietet, in dem er seinen seit der Erdbebennacht verlorenen Schlaf wiedergefunden hat. Alican glaubt nicht an einen baldigen Wiederaufbau der Stadt und des Fotostudios der Familie. Das Verfahren um das zusammengestürzte Krankenhaus hat nach einem Jahr noch immer nichts ergeben. 

Iskenderun/Türkei, 21.05.23

Seebrücke an der Hafenpromenade von Iskenderun. Infolge des Erdbebens sank das Niveau der Promenade ab, wodurch bei Stürmen das Wasser immer weiter landeinwärts gedrückt wird.