Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Stadt aus Stahl. Der Student Lasse Branding reist regelmäßig nach Bosnien, ins Land seiner Vorfahren. Im zentral gelegenen Zenica dokumentiert er die Auswirkungen des örtlichen Stahlwerks auf die Menschen der Stadt.

Aufgrund der Industrie und seiner vielen Hochhäuser hat Zenica den Ruf einer grauen Arbeiterstadt. 1882 wurde unter der Herrschaft von Österreich und Ungarn die Schmalspurbahn fertiggestellt und verband das bis dahin isolierte Zenica mit dem Rest der Welt. Mit der Bahn konnten die Bewohner*innen der Stadt nun auch in die 70km entfernte Hauptstadt Sarajevo reisen. Umgeben von Hügeln und Obstbäumen stand in der zentral Bosnischen Provinz Anfang des 19. Jahhunderts nicht mehr als ein Dorf, bis 1892 das Stahlwerk «Željezara» in Zenica erbaut wurde. Unter dem von Josip Broz Titos in 1947 verkündeten Fünfjahresplan entwickelte sich Zenica als Stahl- und Kohle-Zentrum im ehemaligen Jugoslawien rasant zu einem der wichtigsten Exporteure des Landes. Das Werk wurde enorm erweitert und zu einem der größten in Europa umgebaut. Menschen aus ganz Jugoslawien kamen nach Zenica, um in der Fabrik zu arbeiten.

Nach dem Zerfall Jugoslawiens kaufte 2004 Lakshmi Mittal, einer der reichsten Männer der Welt, mit seinem Unternehmen Arcelor Mittal den größten Teil der bosnischen Stahlindustrie auf. Der Deal wurde in Zenica allgemein begrüßt – in einer von Krieg und Not verwüsteten Stadt sahen viele darin eine Chance auf Arbeit und eine Rückkehr zur Normalität. Arcelor Mittal hielt das Stahlwerk zwar in Betrieb, jedoch sorgten mangelnde Investitionen in neue Arbeitsplätze und keine Umweltschutzerneuerungen für steigenden Unmut in der Bevölkerung. Die Ambivalenz von Fluch und Segen macht das Verhältnis zwischen Fabrik und Stadt deutlich.

Einerseits hat erst die Fabrik die Stadt zu dem gemacht, was sie einst war, andererseits brachte die Fabrik auch viel Leid für die Bewohner*innen Zenicas mit sich. Heute bedeutet der Niedergang der Fabrik auch den Niedergang der Stadt.

Lasse Brandings Arbeit beschreibt den Zustand einer post-industriellen Arbeiterstadt des ehemaligen Jugoslawiens und beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Stadt, die auf der Basis von Produktionswachstum erbaut wurde, aussieht, wenn das Wachstum schrumpft. Das sozialistische System der Arbeiterschaft sorgte für eine hohe Identifikation der Arbeiter*innen mit der Fabrik, die sie einst als «Wiege des Proletariats» beschrieben. Heute identifizieren sich nur noch wenige Einwohner*innen mit der ehemals größten Eisenhütte Europas. Und doch bleibt die untrennbare Geschichte zwischen Stadt und Fabrik, auf die wehmütig zurückgeblickt wird.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

1892 entstand in dem kleinen Dorf Zenica in Bosnien und Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft eines der größten Stahlwerke Europas, »Zeljezara«.

Heute ist das Stahlwerk vor allem wegen der enormen Luftverschmutzung und seiner Symbolik für den industriellen Niedergangs Jugoslawiens bekannt.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Serif Sisic lebt in Tetovo, einem Vorort von Zenica, der direkt an das Stahlwerk grenzt. Sisic arbeitete 31 Jahre als Manövrierer; erst beim staatlichen Unternehmen »Zeljezara« in Jugoslawien und später, nach der Privatisierung des Stahlwerkes, bei Arcelor Mittal. Wie viele seiner Nachbar*innen und ehemaligen Fabrikmitarbeiter*innen erkrankte auch Sisic an Kehlkopfkrebs und musste seine Arbeit daher gesundheitsbedingt verlassen. Er erzählt, dass sich im Winter durch die Abgase der Fabrik der Schnee verfärbe und im Sommer das Obst verstaube.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Ein Eisenbahnmitarbeiter kontrolliert einfahrende Wagons. Diese transportieren Koks aus anderen Teilen Bosniens zum Befeuern der Hochöfen.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Im Theater wird das Stück »Moja Fabrika«, zu Deutsch »meine Fabrik«, aufgeführt. Das Stück handelt von der Entstehung Zenicas, als kleines Dorf, über die glorreichen Zeiten in Jugoslawien, hin zum Zerfall der Fabrik und Stadt. Das Stück wurde vom Autor Selvedin Avdic` aus Zenica verfasst und wird unter anderem mit ehemaligen Arbeiter*innen vom Stahlwerk »Zeljezara« aufgeführt.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Im Walzwerk der Fabrik werden die Stahlträger pro Heizperiode gezählt. 1987, dem produktivsten Jahr, hatte das Stahlwerk ein Produktionsvolumen von 1,87 Millionen Tonnen Stahl im Jahr und beschäftigte über 24.000 Mitarbeiter*innen. Heute wird das Werk vom globalen Stahlriesen Arcelor Mittal auf einem Produktionsminimum gehalten und es arbeiten nur noch knapp über 2000 Arbeiter*innen im Werk. Viele Teile des ehemals größten Stahlwerks Europas werden dem Zerfall überlassen.

Unter der Stadt liegt eins der größten Kohlevorkommen des Landes. Mittlerweile wird über eine Schließung der Mine diskutiert, da das Stahlwerk, der größte Abnehmer, auf Koks umgestiegen ist und zum Beheizen der Hochöfen dieses aus anderen Teilen des Landes importiert.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Samir Lemes überprüft auf einer Abfalldeponie den Bauschuttabfall der Fabrik auf Kontaminationen und Verschmutzungen. Oberhalb des Ortes Tetovo türmen sich meterhohe Hügel mit industriellem Abfall. Samir Lemes trat 2009 der Umweltgruppe »Eko Forum Zenica« bei und ist heute der Präsident der lokalen Umweltorganisation. Im Jahr vor Lemes Eintritt war sein Vater gestorben und er war besorgt über die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf seine beiden Kinder. »Jeden Winter husten wir, erkranken an der Grippe und ähnlichen Gesundheitsproblemen, für die ich die Umweltverschmutzung verantwortlich mache.”

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Um das Gelände des Stahlwerkes haben sich Mülldeponien und Schrottplätze angesiedelt, die Abfallmaterial aus der Fabrik recyceln.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Ein muslimischer Friedhof vor dem Stahlwerk im Winter.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Balletttänzerinnen des »ARS Centar Zenica« bei einer Probe ihres neuen Stückes „War Memorial“, das die Erinnerung und Traumata des Bosnienkrieges von 1992-1995 thematisiert.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Bosnien und Herzegowina hat weltweit die fünfthöchste Inzidenz an Todesfällen durch Luftverschmutzung. Die Raten von Lungenerkrankungen gehören zu den höchsten der Welt. Viele Menschen in Zenica leiden daher an Atemproblemen und Krebserkrankungen. Mittlerweile haben sich die Bewohner*innen der Stadt gegen die rudimentären Instandhaltungen der Fabrik formatiert und fordern eine Verbesserung des Umweltschutzes.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Die Ultras des örtlichen Fußballvereines »Cèlik Zenica« nennen sich »Robijaši«, auf Deutsch »Sträflinge«, und wurden nach der größten Strafvollzugsanstalt Bosniens benannt, die sich ebenfalls in Zenica befindet. Im ehemaligen Jugoslawien wurde der Begriff auch mit „die Strengsten“ übersetzt.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Zwei Anhänger des örtlichen Fußballvereins »Cèlik Zenica« (»Stahl Zenica«). In Jugoslawien gehörte der Verein zu den erfolgreichsten des Landes. Heute spielt der Verein, nach Zwangsabstieg in die Amateurliga, wieder zweitklassig und hofft auf den Aufstieg.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Ein zugehängter Marktstand in der Innenstadt von Zenica.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Ausblick von der Dachterrasse des «Hotel International».

Das Hotel wurde 1978 eröffnet, um hochrangige Staats- und Wirtschaftsdelegationen zu beherbergen. Diese kamen nach Jugoslawien, um Abkommen mit der Eisenhütte abzuschließen. Als es eröffnet wurde war es luxuriös ausgestattet und voll klimatisiert, hatte eine Sauna, mehrere Restaurants und zahlreiche Kunstwerke an den Wänden. Heute ist das Hotel insolvent und hofft auf neue Investor*innen.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Verdad Càtovic arbeitete 25 Jahre lang an der Rezeption des »Hotel International«, das vom Stahlwerk »Zeljezara« geführt wurde.
Càtovic hat sich einen eigenen kleinen Raum mit Fernseher und Heizung in der Lobby eingerichtet, in dem er gelegentlich übernachtet. Er hofft, dass das Hotel neue Investor*innen findet und zahlreiche Gäste das in die Jahre gekommene Gebäude wieder beleben. Bis dahin bewacht Càtovic das Hotel in Eigenverantwortung und beschützt es vor dem Zerfall.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

In der Stadt wurden vom Stahlwerk viele Grünflächen mit Freizeitmöglichkeiten für die Fabrikarbeiter*innen errichtet.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Samir, Nadja und Ilhana genießen ihre Freizeit in den umliegenden Hügeln der Stadt.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Bewohner*innen der Stadt versammeln sich am Wochenende am jugoslawischen Partisanendenkmal auf dem Berg »Smetovi«, um der stickigen Luft im Tal zu entkommen.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Während einer Segnung versammeln sich Bewohner*innen in der orthodoxen Kirche »Crkva Rodenja Presvete Bogorodice«. In Zenica lebten vor dem Krieg schätzungsweise 22.552 bosnische Serben. Heute leben nur noch rund 5000 in der Stadt.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Ein Bewohner Zenicas geht mit seinen belgischen Schäferhunden an den Bahngleisen der Stadt spazieren. Einmal im Jahr fährt er in die Niederlande und verkauft dort die dressierten Hunde auf Auktionen.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Harum studiert in Zenica Bauingenieurwesen. In den Sommermonaten arbeitet er – wie viele seiner Kommilitonen*innen auch – in Deutschland bei der Post und liefert Pakete aus. Die deutsche Post hat eine Kooperation mit bosnischen Universitäten, um über die Sommermonate Aushilfskräfte zu erhalten. Harums Vater arbeitete ebenfalls in der Stahlfabrik, bis er zu krank wurde und in Frühpensionierung gehen musste. Nach dem Studium möchte Harum einen Job in Zenica finden und heiraten.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

Während des Fastenmonats »Ramadan« wandern zahlreiche Bewohner*innen der Stadt gemeinsam durch die umliegenden Berge, bis sie anschließend nach Sonnenuntergang das Fasten brechen. Der Initiator der Wanderungen Afan Abazovic nennt die Aktion »Iftar Hiking«.
In Zenica leben schätzungsweise 90% der Bevölkerung muslimisch.

Zenica, Bosnien und Herzegowina, 2021 – 2022

In der Dämmerung wird die Luftverschmutzung in Zenica besonders deutlich.


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