Einkaufen mit Autismus: Zu hell, zu laut, zu viel
Für Marlene Fliege ist der Gang zum Supermarkt die Hölle. Lampen, Werbung und Geräusche überfordern die junge Autistin. Was es für sie bedeutet, wenn ihre Lieblingsschokolade ausverkauft ist, und wie sie mit der Belastung umgeht.
Mit einem klaren Ziel vor Augen mache ich mich auf, in die Welt von Gemüsekonserven und Werbebannern – die Supermarkt-Hölle. Das dort angebotene Spektrum fast so vielfältig, wie das meiner Krankheit: Autismus. Irgendwo zwischen der Hafermilch und der Tiefkühlabteilung lauert bereits der nächste Nervenzusammenbruch. Ich schließe die Augen, atme ein paar Mal tief ein und aus und visualisiere die Dinge, die ich brauche. «Scheiße!», entfährt es mir: Meine Lieblingsschokolade ist heute ausverkauft!
An gewohnter Stelle türmt sich eine Bandbreite anderer Tafeln vor mir auf – so angsteinflößend und schier endlos wie der Weg nach Mordor. Jede einzelne muss ich nun genau unter die Lupe nehmen, Vor- und Nachteile wäge ich sorgfältig ab, bis ich überhaupt nur daran denken kann, eine von ihnen in den Einkaufskorb zu packen. Während meiner unabdingbaren Analyse bahnen sich stechende Kopfschmerzen an. Die Supermarktlichter wirken auf mich wie auf einer Techno-Party. Zeternde Mitmenschen und schreiende Kinder kann ich sogar durch meine geräuschabweisenden Kopfhörer nicht ausblenden. Frustriert gebe ich meine Inspektion auf und entscheide, einfach so lange andere Supermärkte abzuklappern, bis ich meine Lieblingstafel bekomme.
Auch wenn sich mir bei dieser Aussicht der Magen umdreht, ist das doch besser, als noch eine Sekunde länger an Ort und Stelle zu bleiben. Also rein in den nächsten Markt, Ziel anvisieren, einpacken, bezahlen und so schnell, wie mich meine Beine tragen können, wieder aus dem Laden hinausstürmen. Erschöpft sinke ich in den Autositz und mache ein paar Atemübungen. Die Hitze nagt an mir, plötzlich habe ich das Gefühl, dass jede Empfindung zu viel ist. Ich spüre den Stoff meiner Klamotten wie Schleifpapier auf meiner Haut, meinen eigenen Atem wie Säure in meiner Lunge und zu allem Überfluss bin ich mir der Existenz meiner Zehen gerade viel zu bewusst.
Das kurze Abenteuer hat mich so außer Gefecht gesetzt, dass ich für den Rest des Tages, nur noch zum Pipimachen mein Bett verlassen kann. Das Rollo ist runtergezogen, alle Türen sind zu und die wohlige Stille beruhigt meinen Geist. Gott sei Dank habe ich liebevolle Menschen um mich herum, die mich auffangen können, wenn mein Körper und Verstand aufgrund von sensorischer Überbelastung mal wieder streiken.
Doch nicht jeder Mensch aus dem Autismus-Spektrum hat dieses Privileg. Wenn euch die Menschen um euch herum wieder einmal komisch erscheinen oder gar unwirsch und unhöflich, bitte bedenkt: Vielleicht seid ihr nur mal wieder einer neurodivergenten Person begegnet, auf ihrer verzweifelten Suche nach Stille.
Was ist Autismus?
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen Informationen wahrnehmen, soziale Interaktionen erleben und kommunizieren. Es existiert ein breites Spektrum von Verhaltensweisen und Merkmalen, die alle autistisch genannt werden, weshalb man oft von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) spricht.
Wie macht sich Autismus bemerkbar?
Die Art und Weise, wie sich Autismus äußert, variiert von Person zu Person. Einige gemeinsame Merkmale sind Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, eingeschränkte Kommunikation, repetitive Verhaltensweisen und Interessen sowie sensorische Empfindlichkeiten. Manche Menschen mit Autismus haben besondere Fähigkeiten oder Interessen in bestimmten Bereichen.
Was ist das Asperger-Syndrom?
Das Asperger-Syndrom ist eine Form des Autismus-Spektrums, die sich durch normale bis überdurchschnittliche Intelligenz, besondere Interessen, Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und eingeschränkte Kommunikation auszeichnet. Im Vergleich zu anderen Autismus-Formen haben Menschen mit Asperger-Syndrom oft keine Beeinträchtigung in der Sprachentwicklung, was ihnen ermöglicht, spezielle Talente zu entwickeln.
Der Begriff „Asperger-Syndrom“ wurde im durch den allgemeineren Begriff „Autismus-Spektrum-Störungen“ ersetzt, um die Vielfalt des Autismus-Spektrums zu betonen.
Anmerkungen der Autorin
Wenn ihr euch weiter über das Gesamtbild Asperger/Autismus/Neurodivergenz informieren wollt, kann ich
dies nur empfehlen. Gerade die Unterschiede zwischen cis-männlichen Personen und allen anderen Geschlechtsorientierungen sind enorm, da die medizinischen Erkenntnisse sich hauptsächlich auf den Stereotyp „Mann“ beziehen. Eine spannende Lektüre ist zum Beispiel „Aspergirls“ von Rudy Simone. Empfehlenswert ist auch das Video auf dem Youtube-Channel „auf Klo“ mit dem Titel „Autismus: ich habe das Asperger-Syndrom“, um ein paar Klischees aus dem Weg zu räumen. Eine vorurteilsfreie Art an Betroffene heranzugehen, ist immer die Beste – fernab von medialen Darstellungen und öffentlichen oder auch eigenen Stigmata.